Samstag, 28. März. Ich blicke aus dem Fenster und sehe, wie sich zwei Menschen unterhalten. Der Nachbar von Gegenüber und, wie’s scheint, sein Bekannter, der mit dem Fahrrad gekommen ist. Die Lippen bewegen sich eifrig, es wird sich zugenickt, es wird gestikuliert und mit den Schultern gezuckt. Ein ganz normaler Ratsch eben, der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um das derzeit alles bestimmende Thema dreht: Corona. Ganz unweigerlich taucht bei mir eine Frage auf: Ist das eigentlich schon illegal, was die beiden da machen?
Seit gestern gibt es den offiziellen Bußgeldkatalog für Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkungen während der Corona-Pandemie. Darin ist unter anderem geregelt, dass bei Nichteinhalten des vorgeschriebenen Mindestabstands zwischen zwei Personen (1,50 Meter) ein Bußgeld in Höhe von 150 Euro fällig wird. Hm. Ich werfe erneut einen prüfenden Blick aus dem Fenster – zwischen den beiden Gesprächspartnern liegen geschätzt zwei, wenn nicht sogar drei Meter. Alles im grünen Bereich.
Wird der Willkür nun Tür und Tor geöffnet?
Des Weiteren ist dem neuen Corona-Regelwerk, eine gemeinsame Bekanntmachung des bayerischen Innen- und Gesundheitsministeriums, zu entnehmen, dass das „Verlassen der eigenen Wohnung ohne Vorliegen triftiger Gründe“ künftig ebenfalls mit 150 Euro Bußgeld geahndet wird. Hm. Hat der Bekannte mit dem Fahrrad einen „triftigen Grund“ sich mit meinem Nachbarn zu unterhalten? Nach einem Arztbesuch schaut das Ganze jedenfalls nicht aus. Ich wüsste nicht, dass der nette Herr von Gegenüber eine Praxis als Allgemeinmediziner führt. Ein Arbeitsgespräch ist es wohl ebenso wenig. Und seinen Einkauf erledigt der Fahrradfahrer ganz gewiss auch nicht bei ihm. Der Nachbar verkauft weder Hühnereier noch Klopapier. Zumindest nicht, dass ich wüsste…
In meinem Inneren macht sich ein unangenehmes Gefühl breit. Werden wir jetzt alle zu Beobachtern? Schauen wir künftig nun alle ganz genau hin, was unsere Nachbarn den lieben langen Corona-Alltag so machen? Was passiert da jetzt genau mit uns selbst, mit dieser Gesellschaft? Werden wir aufgrund von Ängsten, das Coronavirus könnte sich weiter ausbreiten, nun alle zu Spitzeln, zu Denunzianten – wie damals in „Dunkel-Deutschland“, zu Zeiten der Nazi-Herrschaft, als die Regime-Treuen all diejenigen in Verruf brachten, die sich nicht dem allgemeinen Tenor unterwarfen? Greifen wir gar bald reflexartig zum Hörer, um Auffälligkeiten zu melden? Befinden wir uns auf dem Weg in einen Überwachungsstaat, in dem jeder jeden, in dem die Polizei die Bürger auf Schritt und Tritt kontrolliert? Wird der Willkür nun Tür und Tor geöffnet?
Fragen über Fragen. Was der neue Corona-Bußgeldkatalog offenbar zur Folge hat: Er kann Misstrauen schüren. Misstrauen auf der Basis von Ängsten. Und dieses Gemisch wiederum kann zu Lähmungserscheinungen einer ansonsten mehrheitlich offenen Gesellschaft führen. Einer Gesellschaft, deren Mitglieder man seitens der Regierung in diesen Tagen augenscheinlich nicht mehr zutraut, dass sie sich auch ohne Bußgelder von bis zu 5.000 Euro den Umständen entsprechend verhalten – freiwillig.
Hoffentlich mit dem nötigen Fingerspitzengefühl
„Verstoß gegen die Ausgangsbeschränkung“. Oder: „Verstöße gegen die Allgemeinverfügung“. Immer häufiger gibt es in den vergangenen Tagen des allgemeinen Ausnahmezustands in den Polizeiberichten der regionalen Inspektionen Meldungen wie diese zu lesen. Was nun zu hoffen bleibt, ist, dass die Polizisten, die Vertreter der exekutiven Staatsgewalt, mit dem nötigen Fingerspitzengefühl vorgehen. Dass sie nicht zur „Corona-Polizei“ mutiert, die mit harter Hand gegen alles und jeden vorgeht, der sich nicht an die Regeln hält. Denn dann haben wir – notwendige Eindämmung des Virus hin oder her – wiederum diejenigen Verhältnisse, die wir nach all den Jahrzehnten nicht mehr für möglich gehalten hätten.
Das Gespräch zwischen meinem Nachbarn und dessen Bekannten ist nach fünf Minuten wieder beendet. Beide verabschieden sich. Der eine geht zurück in sein Haus, schließt die Türe hinter sich. Der andere schwingt sich elegant auf sein Fahrrad und fährt davon. Ich schau ihm nach und denke mir: Hoffentlich hält Dich keiner auf…
Stephan Hörhammer
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Im Rahmen des Hog’n-Corona-Tagebuches beschreiben die Hog’n-Redakteure Sabine Simon, Helmut Weigerstorfer und Stephan Hörhammer abwechselnd die Auswirkungen der sog. Corona-Krise auf ihr Privatleben, auf ihr Umfeld und die generelle Situation im Bayerischen Wald.
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