Samstag, 28. März: Quasi von heute auf morgen arbeitet Rainer Schüll in einem ganz neuen Berufsfeld. Statt wie bisher als Fotograf sein eigenes Geschäft in Waldkirchen zu betreiben, ist er ab sofort im Lager eines großen Unternehmens tätig, das Lebensmittelverpackungen herstellt. Er ist nicht der Einzige, der von jetzt auf gleich umsattelt: Freyungs Bürgermeister Olaf Heinrich vermittelt in der Coronakrise Arbeitskräfte an heimische Unternehmen, die insbesondere durch den Wegfall tschechischer Pendler händeringend auf der Suche nach Mitarbeiterin sind. Er habe bereits dutzende Bewerbungen erhalten, wie er dem Hog’n gegenüber verrät.
Bei Rainer Schüll ging alles rasend schnell. Bereits wenige Tage nachdem er sein eigenes Geschäft schließen musste, konnte er in seinem neuen Job tätig werden. Am Dienstag habe er erfahren, dass eine Firma in der Nachbargemeinde, die Lebensmittelverpackungen herstellt, dringend auf der Suche nach Arbeitskräften ist.
„Auf der Couch rumsitzen – das bin ich nicht“
Auch hier fehlen seit Donnerstag etliche Kollegen aus Tschechien, die aufgrund der seitens der Regierung verordneten Notstandsmaßnahmen in ihrem Heimatland geblieben sind. „Ich hab mich sofort dort beworben“, erzählt der Waldkirchener Fotograf. „Ich bin topfit und hatte nichts zu tun.“ Allein finanzielle Gründe, sich eine neue Arbeit zu suchen, seien jedoch nicht der Grund für seine Bewerbung gewesen, versichert Schüll. „Ich hätte schon noch Reserven gehabt. Aber auf der Couch rumsitzen – das bin ich nicht.“
Nur einen Tag später hatte er die Zusage – und am Tag darauf seine erste Schicht im Lager, von 14 bis 22 Uhr. Er arbeitet dort gemeinsam mit erfahrenen Kollegen, denen er immer wieder Fragen stellen könne, wenn etwas unklar sei. „Nach zwei Stunden hab ich einigermaßen verstanden, was zu tun ist“, berichtet Schüll. Der erste Arbeitstag sei durchaus anstrengend verlaufen: „Ich habe mindestens zehn oder fünfzehn Kilometer zu Fuß zurückgelegt“, so der 45-Jährige. „Ich habe dabei ein paar neue Muskeln kennengelernt“, sagt er und lacht. Am Sonntag steht seine erste Nachtschicht an. Auch das ist eine enorme Umstellung für ihn. Wie lange er seinen neuen Job im Lager machen wird, weiß er noch nicht.
Olaf Heinrich wird zum Arbeitsvermittler
Freyungs Bürgermeister Olaf Heinrich hört sicher gerne, wie schnell und reibungslos bei Rainer Schüll alles in die Wege geleitet werden konnte. Der Rathaus-Chef hatte am vergangenen Dienstag auf Facebook einen Aufruf gestartet: Alle, die Arbeit suchen, könnten sich bei ihm melden. Zudem sollten ihm all diejenigen Betriebe Bescheid geben, die derzeit dringend auf der Suche nach Arbeitskräften sind. Heinrich, der Arbeitsvermittler.
Sein Aufruf sei sogleich auf große Resonanz gestoßen, wie er auf Hog’n-Nachfrage mitteilt: „Es melden sich täglich mehrere Firmen mit der Bitte um Unterstützung. Beispielhaft nenne ich hier Aptar, CLEVER Etiketten, B & S Grafenau, verschiedene Handwerksbetriebe. Zum Teil fehlen bis zu 40 Mitarbeiter.“ Der Personalbedarf ist Heinrich zufolge unmittelbar auf die Schließung der Grenze zurückzuführen: „Nur ein kleiner Teil der Arbeitnehmer aus CZ war bereit in der BRD zu bleiben.“ Die Neu-Regelung Tschechiens besagt, dass sich Berufspendler seit dem 26. März mindestens die nächsten drei Wochen eine vorübergehende Unterkunft im Arbeitsland suchen müssen, anstatt täglich zu pendeln – oder sie eben zuhause bleiben.
Nach zwei Tagen seien bereits über 60 Bewerbungen bei Arbeitsvermittler Heinrich eingegangen. „Die Ausbildungen sind sehr vielfältig: vom Lkw-Fahrer bis zum Studenten, vom Werbedesigner bis zum ungelernten Migranten mit Aufenthaltstitel“, berichtet Freyungs Bürgermeister.
Schluss mit den gegenseitigen Vorwürfen!
Beachtlich, dass derzeit so vieles relativ unkompliziert auf die Beine gestellt werden kann. Bei Facebook tauchen aber auch Sprüche wie dieser auf: „An alle Grünen und Greta-Jünger! Ab aufs Feld zum Spargelstechen! Da könnt ihr eure Naturverbundenheit zeigen!!!“ Der vorwurfsvolle, fordernde und überaus aggressiv anmutende Ton dahinter ist völlig unangebracht – und in diesen Zeiten alles andere als förderlich. Jetzt gilt, dass jeder das tut, was für ihn möglich und machbar ist. Dass wir zusammenhalten. Dass Gräben in der Gesellschaft geschlossen werden, statt neue zu graben. Anderen Vorwürfe zu machen, bringt niemanden weiter.
Sabine Simon
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Im Rahmen des Hog’n-Corona-Tagebuches beschreiben die Hog’n-Redakteure Sabine Simon, Helmut Weigerstorfer und Stephan Hörhammer abwechselnd die Auswirkungen der sog. Corona-Krise auf ihr Privatleben, auf ihr Umfeld und die generelle Situation im Bayerischen Wald.
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