Philippsreut. Die Bewohner von Marchhäuser, einem Ortsteil von Philippsreut, hören und sehen den Puls der Zeit nicht nur. Sie spüren ihn regelrecht. Sie waren Zeitzeugen, als die Wehrmacht in Tschechien einmarschierte. Und sie haben von ihrer Anhöhe aus beobachten können, als nach dem Zweiten Weltkrieges die Sudetendeutschen aus dem östlichen Nachbarland vertrieben worden sind. Marchhäuser galt jahrzehntelang als das „Ende der Welt“, lag doch der Eiserne Vorhang nur wenige hundert Meter entfernt. Die Bewohner des Weilers waren live dabei, als die Grenzen – begleitet von großer Euphorie – zu Beginn der 90er Jahre wieder geöffnet wurden. Und sie haben es gesehen, als während der Corona-Pandemie kurzzeitig stationäre Kontrollen ihr Comeback erlebten.
Und auch das wohl brennendste Thema der heutigen Zeit kennen die Bewohner nicht nur aus dem Fernseher: In den vergangenen Wochen und Monaten haben auf der nur wenige Meter entfernten B12 unzählige Schleuser ihre menschlichen „Lieferungen“ nach Deutschland gebracht. Ab und an endete deren schändliche Arbeit sogar in Marchhäuser – und Flüchtlinge wurden mitten im Ort abgesetzt, ehe sie von der Polizei aufgegriffen worden sind. „Midg’mochd hama scha einiges. Ja, des stimmt“, erzählt eine Bewohnerin, die auf die 90 zugeht, im Gespräch mit dem Onlinemagazin da Hog’n. Sie sagt dies ohne größere Emotionen, was deutlich macht, wie viel „einiges“ in ihrem Leben tatsächlich ausmachte…
Die Berührungsängste vor den Fremden sind groß
In der Stube der alten Frau, drei weitere Marchhäuserer sitzen am Tisch versammelt, entbrandet von jetzt auf gleich eine lebhafte Diskussion über den vielzitierten Migrationsdruck. Und das, obwohl das Quartett eigentlich nicht zu überbordenden Gefühlsausbrüchen neigt. Das wird einem sofort deutlich. Angst ist die Triebfeder für ihre Gemütsbewegungen. „Mia fiachd ma uns“, gesteht eine Frau mittleren Alters und meint damit die Situationen, wenn Schleuser in unmittelbarer Nähe ihrer kriminellen Tätigkeit nachgehen. Aber auch, wenn Flüchtlinge direkt vor ihren Haustüren abgesetzt werden. Die Berührungsängste vor den Fremden sind groß – auch und vor allem wegen einschlägiger Erfahrungen in der Vergangenheit.
„Schon lauter als sonst“
Die drei weiblichen Gesprächspartner und der Mann wollen ihre Namen nicht nennen, „weil man sofort als rechts gilt, wenn man etwas gegen Flüchtlinge sagt“. Eine Frau betont für sich und ihre Nachbarn, dass sie jedoch alles andere als ausländerfeindlich seien. „Aber was zu viel ist, ist zu viel. Wir können einfach nicht alle aufnehmen.“ Deshalb begrüßt es die vierköpfige Runde, dass in Sichtweite an der Grenze wieder verstärkt Betrieb herrscht – und Kontrollen stattfinden.
„Es ist schon lauter als sonst. Und auch die Schweinwerfer sehen wir deutlich“, berichtet die fast 90-Jährige. Genauso werden negative Erinnerungen von damals wieder akut, wenn sie die Staatsgewalt am Grenzübergang wahrnimmt. Das alles nimmt sie aber gerne in Kauf. Denn: „Wir fühlen uns jetzt sicherer als vorher.“
Unzählige Presseanfragen: Die Sensationsgier ist enorm
Seit Montag, 16. Oktober, finden an der Grenze zu Tschechien – und somit auch in Philippsreut – wieder stationäre Kontrollen (offiziell: „Grenzkontrollen“) statt. Eine erste Antwort von Bundesinnenministerin Nancy Faeser auf den zunehmenden Migrationsdruck. „Wir sind damit einverstanden“, sind sich Jürgen Bockstedt und Daniel Gibis einig. Beide Beamte sind Sprecher der Bundespolizeiinpektion Passau, die für den Schutz deutscher Außengrenzen von Bayerisch Eisenstein bis Simbach zuständig ist. Wie schon während der großen Flüchtlingswelle 2015/16 sind die Augen auch in der momentanen Phase auf die Region Bayerischer Wald gerichtet. Bockstedt und Gibis spüren dies unter anderem in Form schier unzähliger Presseanfragen. Ganz Deutschland will über „uns“ berichten. Die Sensationsgier sei enorm.
„Nicht vollendet eingereist“
Die beiden Pressesprecher der Bundespolizei (oft: „BuPo“, eigentlich: „BPol“) können dies angesichts von bis zu 700 Migranten, die derzeit wöchentlich von der Passauer Inspektion aufgegriffen werden, durchaus nachvollziehen. Gleichzeitig sind sie darauf bedacht, die aktuellen Zahlen – allen voran im Vergleich zu 2015/16, als an Spitzentagen bis zu 10.000 Asylbewerber gemeldet wurden – richtig einzuordnen. Genauso wie die Grenzkontrollen. „Hierbei handelt es sich nur um temporäre und flexible Kontrollen“, macht Bockstedt deutlich. „Heißt: Es wird nicht immer kontrolliert und nicht jeder.“
Auch wenn diese Form der Polizeiarbeit nur ein kleiner Teil der Lösung sei, ist der BPol-Sprecher von deren Richtigkeit überzeugt. „Dadurch sind Neuankömmlinge beispielsweise noch nicht vollendet eingereist. Somit dürfen Flüchtlinge direkt an der Grenze zurückgewiesen und an die tschechischen Kollegen übergeben werden.“
Bundespolizei „hat ordentlich Arbeit, ist aber nicht überfordert“
Weiterhin werde aber auch im „Hinterland“ kontrolliert – mit erhöhter Polizeipräsenz. „Die Bürger sind froh drum“, weiß Daniel Gibis zu berichten. „Selten wurden Polizeibeamte so gerne gesehen wie in diesen Tagen.“ Der Migrationsbrennpunkt im Bayerischen Wald trifft die Behörden nicht unvorbereitet. „Man hat aus 2015/16 gelernt“, verdeutlicht Bockstedt. So sei eine Art Notfallplan in der Schublade gelegen. Das führt dazu, „dass die Kollegen zwar ordentlich Arbeit haben, aber nicht überfordert sind“. Und auch der Kontrollpunkt an der Grenze bei Philippsreut konnte zeitnah in Betrieb genommen werden. Wobei das ehemalige, inzwischen verkaufte Grenzgebäude nicht mehr genutzt werden kann. Für die diensthabenden Polizisten wurden ein Contrainer sowie mehrere Schweinwerfer aufgestellt.
Dienstag, 24. Oktober, kurz vor 10 Uhr: Mario Kraus und zwei Kollegen haben gerade Dienst. Einer hält die vorbeifahrenden Fahrzeuge durch das Winken der Kelle an, einer begutachtet den Inhalt, der andere behält die gesamte Situation im Auge. Gut einsehbare Pkw werden im Vorbeifahren gesichtet, größere Fahrzeuge angehalten und genauer unter die Lupe genommen. Stau bildet sich deshalb nur minimal. „Darauf sind wir natürlich bedacht“, erklärt Mario Kraus. „Und genau deshalb führen die Kontrollen auch zu keinem Unverständnis. Ganz im Gegenteil: Die meisten sehen sie sogar als notwendig an.“
„Normalzustand schon lange nicht mehr“
Der 49-jährige Polizeioberkommissar aus Lindberg ist bereits 2015/16 an der Grenze mit dabei gewesen. Er hat also schon so einiges erlebt, was Schleusungen und Migration im Allgemeinen betrifft. Kraus weiß, was er macht – und wie er es macht. Das wird bei den Kontrollen in Philippsreut schnell deutlich. Gewisse tschechische Wörter hat er sich über die Jahre hinweg angeeignet. Der Rest der Kommunikation geschieht mit „Händen und Füßen“. Der Vorgang dauert nur wenige Augenblicke. Auffälligkeiten nehmen die geübten Beamten sofort wahr.
Und das, obwohl die „Zeit aktuell sehr fordernd ist. Das liegt vor allem daran, dass es den Normalzustand schon lange nicht mehr gibt“. Die Bundespolizei sei derzeit an mehreren Brennpunkten gefordert – u.a. bei diversen Palästina-Demos in den ostbayerischen Großstädten. Dort werden Bereitschaftskräfte eingesetzt, die auch an den Grenzen gebraucht würden.
„Ohne Rücksicht auf Verluste“
Auch Mario Kraus und seine Kollegen müssen weiter. Die Grenzkontrolle findet vorerst nicht mehr statt. Im Grafenauer Land wurde von Bürgerseite die Sichtung von Flüchtlingen gemeldet. Der Oberkommissar muss sich federführend darum kümmern. Durch die verstärkte Polizeipräsenz nehmen die belastenden Fälle, in denen die Beamten die Flüchtlinge eingepfercht in Fahrzeugen aller Art entdecken, weitestgehend ab. Gott sei Dank. Denn solche Bilder lassen auch den „alten Hasen“ Kraus noch immer nicht kalt.
Meist werden inzwischen bereits abgesetzte Migranten von Bürgern gemeldet. Im Gegensatz dazu nimmt die Aggressivität von Schleusern zu – vor allem gegenüber ihrer „Fracht“. „Die agieren ohne Rücksicht auf Verluste. Zudem ist der Fluchtreflex enorm“, berichtet Kraus, ehe er ins Polizeiauto steigt und mit Blaulicht davonrast.
Ein Knacks für das deutsch-tschechische Miteinander?
In Absprache mit dem Zoll wird jeden Tag ein Plan aufgestellt, wann die Grenze in Philippsreut besetzt ist – oder nicht. In Bayerisch Eisenstein hilft Söders Grenzpolizei. Gibt es jedoch einen Notfall – wie im Falle von Mario Kraus – müssen die Beamten natürlich ihren Dienstposten im Container verlassen. Dann fließt der Verkehr von Strazny in Richtung Freyung ohne Hindernisse. „Dass wir nun wieder offensichtlicher Grenzort sind, davon habe ich – ehrlich gesagt – noch gar nichts mitbekommen“, sagt Philippsreuts Bürgermeister Helmut Knaus. „Das Gegenteil ist eher der Fall. Viele sind zufrieden, dass wieder kontrolliert wird.“
Dass die Grenze derzeit wieder als solche auszumachen ist – und nicht nur eine geographische, sondern auch zwischenmenschliche Hürde darstellt – , trägt laut dem Oberhaupt der Grenzgemeinde nicht dazu bei, dass das Verhältnis zwischen Waidlern und Böhmen leidet. „Das spielt keine Rolle“, betont Knaus. Genauso sieht es auch Leopold Urmann. Der 57-jährige Tscheche mit sudetendeutscher Vergangenheit pendelt seit mehr als 30 Jahren nach Deutschland. Er kennt beide Seiten nicht nur in beruflicher Hinsicht, sondern ist wie sein Vater Egon auch auf eine endgültige Aussöhnung, sprich: Völkerverständigung, bedacht.
„Jeder stimmt den Grenzkontrollen zu“
„Dadurch, dass die Kontrollen nur temporär sind, werden sie fast gar nicht wahrgenommen“, pflichtet auch Urmann bei. Er selber wurde bisher weder „gefilzt“, noch hatte er mit langen Wartezeiten zu kämpfen. Generell würden, so der Mann mit doppelter Staatsbürgerschaft, die Tschechen das Migrationsthema ähnlich sehen wie die Deutschen. „Jeder stimmt den Grenzkontrollen zu“, spricht er für viele seiner Landsleute – auf beiden Seiten der Grenze.
Wie lange Mario Kraus & Co. wieder in die tatsächliche Rolle von „Grenzlern“, wie die Beamten einst genannt wurden, schlüpfen, ist bis dato noch unklar. „Wir rechnen damit, dass die Schleuseraktivitäten im Winter wegen der Wetters nachlassen“, blickt Jürgen Bockstedt in die nähere Zukunft. Es bleibt aber vieles offen. Sicher ist nur: Egal, wie es am Grenzübergang Philippsreut weitergeht, die Marchhäuser Bewohner sitzen in der ersten Reihe – und bleiben weiterhin Zeitzeugen der Geschichte dieses Landes…
Helmut Weigerstorfer
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