Bayerischer Wald. Möglichst groß und schwer muss er sein, wobei kleinere Flunkereien gewissermaßen zum guten Ton gehören. Das äußere Erscheinungsbild ist weitaus wichtiger als das Innenleben – (nur) der erste Eindruck zählt schließlich. Schnell noch das jüngste Mitglied der Familie zum Model bzw. lebenden Stativ befördern, auf den Auslöser drücken, nette Geschichte dazu erfinden und an die Presse schicken – und fertig ist das Foto für die Titelseite der nächsten Ausgabe der Lokalzeitung. Und diese sind gerade im Herbst voll davon. Die Rede ist von Schwammerln aller Art – von prächtigen Dobernigln (Steinpilze), von farbenfrohen Fliegenpilzen und massenhaften Pfifferlingen. Ob genießbar oder lebensgefährlich – vollkommen egal. Was zählt, sind rekordverdächtige Bestwerte in Begleitung möglichst süßer Zwei- oder gar Vierbeiner.
Mein Haus. Mein Auto. Mein Fernseher. Mein Dobernigl. Es scheint, als seien die Statussymbole der Neuzeit um das schmackhafte Gewächs aus den Wäldern erweitert worden. Es entsteht jedoch gleichzeitig der Eindruck, dass es längst nicht mehr um jene Wunder der Natur geht, sondern einfach nur um den für die Dauer eines (Handy-)Fotos anhaltenden Besitzmoment. Pilzsachverständiger Wolfgang Bachmeier aus Passau bestätigt diese Entwicklung – jedoch vor einem anderen Hintergrund: „Ganz klar, Schwammerl sind inzwischen Statussymbole. Es geht aber nicht um die Größe oder Menge, sondern vielmehr um das Wissen, welche essbar sind – und welche nicht.“
Die Gründe für den Schwammerl-Hype
Der 57-Jährige weiß, wovon er spricht. Der Pensionist beschäftigt sich von frühester Kindheit an mit Pilzen, ist offizieller Sachverständiger der Deutschen Gesellschaft für Mykologie und hält deshalb regelmäßig Seminare im Bayerischen Wald ab. Wolfgang Bachmeier betreibt auch das Online-Lexikon „123pilz.de“, zu der eine mittlerweile recht beachtliche Community zählt. Der Passauer verfügt demnach sowohl über ein breites Wissen als auch über den nötigen Einblick, um fundiert über Pilze und deren Bedeutung berichten zu können. Er ist überzeugt: „Der Hype um das Schwammerlsuchen ist entstanden, weil viele den Weg in die Natur suchen, diese wieder besser kennenlernen wollen. Pilze haben dabei noch einen angenehmen kulinarischen Nebeneffekt.“
Im Rahmen seiner Exkurse, die hauptsächlich rund um den Haidel und im grenznahen Tschechien stattfinden, hat er jene gesteigerte Wissbegierde zuletzt verstärkt wahrgenommen. Seine Seminare sind restlos ausgebucht. Pilzfreunde aus dem gesamten Bundesgebiet, aber auch aus Frankreich, der Schweiz und selbst aus Übersee hat Wolfgang Bachmeier bereits „ausgebildet“. Dass die Lehr-Suche nach Steinpilzen, Pfifferlingen & Co. ausgerechnet in und um Herzogsreut im Landkreis Freyung-Grafenau stattfindet, ist dabei kein Zufall. „Die dortige Höhenlage, die Niederschlagsmenge und auch die Temperaturen sind einfach ideal. Außerdem liegt die Wasserscheide nicht weit weg, weshalb in Tschechien beispielsweise eine komplett andere Artenvielfalt vorherrscht.“
Mengenbegrenzung: „Zwei Kilogramm reichen“
Freilich: Wolfgang Bachmeier freut sich immens darüber, dass das Interesse an seinem Spezialgebiet in den vergangenen Jahren immer mehr zugenommen hat. Doch er beschäftigt sich auch mit der Kehrseite der Medaille. Natürlich würden auf der Suche nach Schwammerln immer mehr Menschen die Wälder durchstreifen, und somit – bewusst oder unbewusst – die Natur beeinflussen. Doch er kann beschwichtigen: „So schlimm wie vermutet ist es nicht. Die Zahlen steigen nicht derart stark an. Außerdem ist es für die Vermehrung der Pilze sogar gut, wenn relativ viele Pilzesucher unterwegs sind.“
Der Grund: Eine Schweizer Studie habe herausgefunden, dass eine regelmäßige Ernte die Qualität und Quantität der Pilze steigere. Einerseits, weil dadurch für junge nachwachsende Schwammerl Platz geschaffen werde. Andererseits, weil Zwei- und Vierbeiner die Sporen, also die Samen der Pilze, unbewusst weiterverbreiten und somit beispielsweise neue Dobernigl-Plätze entstehen. „Aus diesen Gründen halte ich nichts von Schutzprojekten“, betont Wolfgang Bachmeier. „Für eine Mengenbegrenzung setze ich mich schon ein. Zwei Kilo reichen. Wir müssen unsere Wälder nicht ausrauben.“
Klare Ansagen eines Pilzsachverständigen, der auch mit einem Mythos rund um Maronen & Co. aufräumen möchte. „Pilze zu finden ist kein Glück, sondern Wissen. Man muss sich einfach mit gewissen Arten, deren Vorlieben und Vorkommen beschäftigen – dann klappt’s mit dem Finden ganz automatisch.“ Der Mond habe, wie landläufig oft vermutet, keinen Einfluss auf das Wachstum. Im Gegensatz zum Niederschlag. „Es muss genügend regnen und dazu noch relativ angenehme Temperaturen haben – dann passt alles.“ Es gäbe, so Bachmeier, auch keine guten oder schlechten Pilzjahre. Schwammerl orientieren sich nicht an liebgewonnenen Plätzen der eifrigen Sucher, sondern an eigenen Bedürfnissen.
Und schon sind wir wieder bei den Statussymbolen: Es ist also – beachtet man die passenden Rahmenbedingungen – einfacher an einen prächtigen Steinpilz zu gelangen als den neuesten Mittelklassewagen mit vier Ringen und Allrad zu erstehen – oder in der schicken Toskana-Villa zu hausen. Ob der regionale Kosmos davon im Rahmen eines Bildes in der Lokalzeitung erfahren muss, steht auf einen anderem Blatt bzw. liegt im Ermessensspielraum der zuständigen Redaktionen. Fest steht: Mit Knödel und Rahmsoße macht sich ein Dobernigl definitiv besser als neben Gemeinderatsberichten und Veranstaltungsankündigungen.
Helmut Weigerstorfer