Schwendreut. „Und hier hat unser Haus gestanden“ – Hans Reichenberger steht inmitten einer Wiese und malt mit dem Zeigefinger eine Silhouette in die Luft. Die hochgewachsenen Grashalme reichen ihm fast bis zur Hüfte, der Wind weht durch sein weißes Haar. Lang ist es her, dass der 77-Jährige auf dieser Waldlichtung zu Hause – dahoam war. Wo früher ein kleines Bayerwald-Dorf seinen Mittelpunkt hatte, ist mittlerweile nur noch eine kleine Kapelle zu sehen. Die Rede ist von Schwendreut, im Volksmund „Glosan“ genannt. 1957 verließ der letzte Einwohner die Ortschaft, am 17. Oktober 1968 verschwand der Name endgültig von der Landkarte. Schwendreut teilt somit das gleiche Schicksal wie der frühere Nachbarort Leopoldsreut („Sandhaisan„). Doch „Glosan“ ist nicht nur verlassen – sondern auch aus den Köpfen vieler Menschen verschwunden.
Gegen dieses Vergessen kämpft Hans Reichenberger, dessen Familie als vorletzte die kleine Siedlung zwischen Herzogsreut und Grainet verlassen hatte, seit jeher. 1936 in Schwendreut geboren, erlebte er die letzten Jahre des Dorfes hautnah mit, geprägt von vielen Entbehrungen und harter Arbeit.
Schon früh war Hans Reichenberger der einzige Mann in der Familie
Hans Reichenberger erinnert sich: „Während des Krieges, als mein Vater in die Wehrmacht eingezogen wurde, musste ich die Landwirtschaft übernehmen.“ Neben den Töchtern Irma, Thea und Marianna galt es für ihn als ältestes Kind schnell erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen. „Im Sommer bin ich um 3 Uhr morgens aufgestanden, habe mit der Sense die Wiese gemäht – und bin dann in die Volksschule nach Herzogsreut gegangen.“ Da blieb nur wenig Zeit für Dinge, die junge Buben gerne machen – nur manchmal verabredete man sich zum Kartenspielen oder Stockschießen.
„Die Kapelle war der Mittelpunkt des Dorfes“, erzählt Hans Reichenberger:
Auch die Wirren des Zweiten Weltkrieges machten vor dem kleinen Bayerwald-Dorf nicht Halt. Gegen Ende, 1945, beschossen Amerikaner von Fürholz aus Philippsreut – die Granaten flogen über Schwendreut hinweg, die Einwohner flüchteten in Todesangst in die umliegenden Wälder. „Wir sind gelaufen so schnell wir konnten“, erzählt Hans Reichenberger. Die Erinnerung an diese schweren Stunden machen ihm noch heute zu schaffen, seine Stimme kommt ins Stocken, seine Augen werden glasig. „Als die Amerikaner zu uns gekommen sind, haben sie erst mal das Kanonenrohr ihres Panzers auf unser Haus gerichtet – es war schrecklich.“ Vorher hatten „SS’ler“ die Telefonleitungen gekappt, Maschinengewehre aufgebaut und den Volkssturm organisiert. „Wir hatten aber gar keine Waffen für einen Angriff. Dann haben sie gesagt, das ist egal: Jedes Stück Holz ist eine Waffe.“
Fürstbischof Marquard von Schwendi gab dem Dorf seinen Namen
Kriege, Waffen und Tod – seit seiner Gründung im Jahre 1618 bestimmten sie immer wieder die Geschichte von Schwendreut. Fürstbischof Marquard von Schwendi ließ den Landstrich unterhalb des Haidels besiedeln, um die Region vor Wilderern und Schmugglern zu schützen. Bereits sieben Jahre später starb jedoch das komplette Dorf aus – die Pest raffte die Einwohner dahin. Ursprünglich gehörte Glosan zur Gemeinde Hinterschmiding, später unterstand es der Gemeinde Grainet – bis zu 90 Einwohner lebten einst dort. 1909 kaufte der Passauer Anton Scheuffele die gesamte Dorffläche auf, 1921 erwarben schließlich die Bayerischen Staatsforsten die Wiesen, Felder und Grundstücke.
Elf Jahre später wurde Schwendreut ein weiteres Mal in seinen Grundfesten erschüttert, als Bewohnerin Frieda Wintersteiger versuchte, die Häuser des Dorfes anzuzünden. 1932 legte sie in vier Gebäuden Feuer, ein Jahr später versuchte sie es abermals. Hans Reichenberger kennt diese Geschichte nur aus Erzählungen seiner Eltern, weiß von ihnen: „Die Männer des Dorfes, mein Vater war auch dabei, haben der Wintersteigerin aufgelauert – und sie daran gehindert, größeren Schaden anzurichten.“ Trotzdem erholte sich Schwendreut von diesen Vorfällen nicht mehr – nur zwei Höfe blieben nach dem Brand übrig. In einem davon lebte Hans Reichenberger mit seinen Eltern und Geschwistern, im anderen die Großfamilie Zellner.
Zu Fuß oder mit dem Moped ging es ins benachbarte Grainet
Und diese wackeren Schwendreuter hatten mit vielen Unwegsamkeiten zu kämpfen – vor allem im Winter. Hans Reichenberger erinnert sich: „Meine Schwester Thea war sterbenskrank. Gott sei Dank haben wir einen Arzt doch noch dazu überreden können, trotz Eis und Schnee zu uns zu kommen.“ Auch im Sommer war es alles andere als einfach – die Höhenlage, die weiten Entfernungen zu den nächsten Dörfern und Städten sowie der steinige Boden taten ihr Übriges. Zudem war das gesellschaftliche Leben in Schwendreut sehr wenig ausgeprägt. „In Grainet haben sie zum Beispiel schon Filme gezeigt – ich bin dann zu Fuß oder mit dem Moped dahin gefahren“, sagt Hans Reichenberger mit einem Schmunzeln.
„Je älter ich wurde, desto öfter bin ich zurückgekommen“
1956 verabschiedete sich dann der damals 20-jährige Mann endgültig von seinem Heimatdorf und zog mit seiner Familie nach Fürholz, ein Jahr später verließ mit Franz Zellner der letzte Einwohner Glosan. Schnell wurden die Häuser abgerissen und die Dorfflächen aufgeforstet – nur die Kapelle blieb stehen. Anfangs war Hans Reichenberger regelrecht froh, die Einsamkeit hinter sich lassen zu können. Doch: „Je älter ich wurde, desto öfter bin ich nach Schwendreut zurückgekommen.“ 1997 wurde dann der Waldverein, der sich insbesondere um den Erhalt der Kapelle kümmert, gegründet – mit Hans Reichenberger in der Vorstandschaft. Die Kapelle wurde aufwendig saniert, ein Teil der früheren Ortschaft gerodet und die Geschichte des Dorfes zu konservieren versucht. Ein großer Verdienst des Rentners, der dafür mehrmals ausgezeichnet worden ist.
Im Gegensatz zu Leopoldsreut, das mit der höchstgelegenen Schule Deutschlands aufwartet, ist Schwendreut nicht berühmt geworden. „Da bin ich schon ein bisschen neidisch, ehrlich gesagt. Über Leopoldsreut wird immer wieder mal berichtet – doch auch Glosan ist besonders.“ Blickt Hans Reichenberger in die Zukunft, befürchtet er, dass die alten Geschichten und das Wissen seiner Generation auf lange Sicht verloren gehen werden. „Leider kümmern sich heute nicht mehr Viele um diese Dinge …“
Helmut Weigerstorfer