Karlsruhe/Bayerischer Wald. Die Armut und Perspektivlosigkeit im Bayerischen Wald sorgte Anfang des 20. Jahrhunderts dafür, dass viele Bewohner ihre Heimat verließen – und „im Amerika“ ihr Glück suchten. Vor allem aus den Dörfern rund um den Haidel, wie Herzogsreut und Bischofsreut, verabschiedeten sich viele Wagemutige sowie Verzweifelte, die das Abenteuer USA auf sich nahmen. Eine regelrechte Landflucht war das Ergebnis.
Einer, der sich intensiv mit dem Thema Auswanderung auseinandergesetzt hat und als Experte auf diesem Gebiet gilt, ist Dr. Friedemann Fegert aus Karlsruhe. Der 71-Jährige hat bereits mehrere Auswanderer-Bücher veröffentlicht. Im Interview mit dem Onlinemagazin da Hog’n spricht der frühere Gymnasiallehrer über seine aufwendigen Recherchearbeiten, seine Leidenschaft für den Bayerischen Wald und die Entwicklung der Region im Allgemeinen.
Mit der „Schneckenpost“ über den Atlantik
„Wie hinh mein Schiksal führt“ – kürzlich haben Sie ein Buch mit diesem Titel veröffentlicht, das sich mit der Auswanderung vieler Bayerwäldler in die USA beschäftigt. Wie umfangreich waren die Recherchen für dieses Werk?
Bereits 1998 bin ich durch einen glücklichen Zufall in Kontakt mit Hildegarde Clemens in den USA gekommen, die einen ungeahnten Schatz hatte, nämlich das Jahrbuch ihrer Mutter Emma Stadler. Darin hat diese jährlich aufgeschrieben, was sich in ihrem Leben in Chicago Entscheidendes ereignet hat. Ich hatte das Glück, die noch lebenden Kinder der Stadler-Schwestern – Hildegarde Clemens und Charles Hackl – dazu befragen zu können. Etwa: Wie habt ihr als damals junge Leute das Leben in Eurer Familie, im Herzogsreuter Viertel und insgesamt in der 3,8-Millionen-Stadt Chicago empfunden?
Zunächst haben wir in der Anfangszeit mit der „Schneckenpost“ Briefe hin und her über den Atlantik geschickt. Als das Mailen möglich wurde, ging alles viel zügiger. So ist der Familienforscher Ken Madl auch schnell mal von Denver nach Salt Lake City geflogen, um mir die notwendigen Mikrofilme zu besorgen – oder er hat mir aus Ellis Island die Einwanderungslisten mit den Namen und Daten der Bayerwäldler zukommen lassen.
Wie alles begann: Familienurlaub in Zwölfhäuser
Von den Nachkommen der Auswanderer habe ich ebenfalls viele Fotos erhalten, die das Leben im Chicago der 30er Jahre, aber auch die ersten Besuche in der alten Heimat in den 1970er Jahren dokumentieren. So konnte ich im neuen Buch „Wie hinh mein Schiksal führt“ in einer Art Gegenstrom-Verfahren die Erlebnisse der Alten mit den Erfahrungen der Jungen verzahnen. Wichtig ist mir in diesem Buch, dass sich aus den individuellen Schicksalen der Stadler-Schwestern und der Herzogsreuter Auswanderer grundlegende Erkenntnisse über das Auswandern nach Amerika ableiten ließen. An dem Stadler-Buch habe ich dann in der Summe immerhin ein ganzes Jahr gearbeitet, nahezu täglich.
Dass die Dichterin Emerenz Meier im gleichen Viertel wie die Herzogsreuter lebte und es keine zusammenhängende Forschung über ihr Leben in Amerika gab, hat mich dazu veranlasst, 2014 auch ein Buch mit dem Titel „Emerenz Meier in Chicago – Auswanderung und Leben ihrer Familie in Amerika“ zu schreiben.
Woher rührt Ihre Begeisterung für die Erforschung derartiger historischer Ereignisse?
Nun, als Deutschlehrer und promovierter Geograph war für mich schon seit langem der Bayerische Wald eine bedeutsame Natur- und Kulturlandschaft. Als Geograph habe ich gelernt, die Landschaft als Ganzes zu sehen: etwa das Klima und die Böden als Vorbedingung für das harte Leben in der Landwirtschaft, aus dem aber heute das touristische Potenzial erwächst, den Menschen aus den hektischen Großstädten eine naturnahe Landschaft wie den Nationalpark Bayerischer Wald zeigen zu können.
Haben Sie eine persönliche Verbindung zum Bayerischen Wald? Warum haben Sie gerade die Bayerwald-Auswanderer zu Ihrem Thema gemacht?
Seit der Geburt unserer Kinder Ende der 1970er Jahre ist der immer gleiche Bauernhof in Zwölfhäuser uns zur zweiten Heimat geworden. Die in der Landschaft sichtbare planmäßige Anlage der Waldhufensiedlung kurz vor 1700 hat mich gereizt, die Siedlungsentstehung dieser jungen Rodungsdörfer hin zur Grenze nach Böhmen zu erforschen. So habe ich herausgefunden, dass der Fürstbischof von Passau die Siedlungswilligen auf Schloss Wolfstein im modernen Sinne „interviewen“ ließ, um die geeignetsten zwölf oder sechs Glücklichen herauszusuchen.
Aus dieser Forschung entstanden Veröffentlichungen über die Orte Mauth und Zwölfhäuser. Innerhalb eines Beitrags im Heimatbuch über Gründer und Zuwanderer von Philippsreut hatte ich auch zwei Seiten über die Abwanderer – eben nach Amerika. Der Herausgeber meinte, ich solle doch die zwei Seiten herausnehmen und einen Aufsatz in einer Fachzeitschrift schreiben. Nach einigem Grummeln habe ich die beiden Seiten auf meinem Computer wieder angesehen – und schließlich, nach fünf Jahren Arbeit, kam ein 540-Seiten-Buch heraus, was der Amerikanist Professor Raithel dann als „epochales Werk“ bezeichnet hat.
Ab den 1845er Jahren wurde abgewandert, nicht mehr zugewandert
Wie gestalten sich die Recherchearbeiten? Wie kommen Sie zu Ihren Informationen, Bildern und Ausstellungsstücken?
Der persönliche Kontakt zu den Nachkommen der Amerika-Auswanderer ist für mich der Schlüssel: Sei es die Frage, warum denn die Kathy Stadler in ihrer bayerischen Wirtschaft „Zur Heimat“ eine große Blechwanne gebraucht hat, um Kartoffelsalat anzumachen, oder was denn der Ur-Urgroßneffe der Dichterin Emerenz Meier noch über deren Leben überliefert bekam. Da die Nachkommen der Auswanderer sehr stark an ihren Wurzeln interessiert sind, habe ich ihnen immer wieder konkret gezeigt, auf welchem Bauernhof ihre Vorfahren aufgewachsen sind. Sie haben mir im Gegenzug alle ihre Schätze an Dokumenten ausgebreitet. Es geht sogar so weit, dass wir heute im Auswanderermuseum „Born in Schiefweg“, dessen Auswanderungsteil ich ehrenamtlich gestaltet habe, Heiligenfiguren und Sonntagsgeschirr aus Amerika zeigen können, da die Nachkommen der Meinung sind, die Dinge gehören wieder in den Bayerischen Wald – also dorthin, wo sie hergekommen sind.
Aufgrund Ihrer Arbeit haben Sie die Entwicklung des Bayerischen Waldes seit Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt im Auge. Wie hat sich der Landstrich Ihrer Meinung nach entwickelt?
Ab den 1845er Jahren sind im Bayerischen Wald die Menschen nicht mehr zugewandert, sondern abgewandert – etwa in die Städte Passau, Regensburg oder München. Während zwischen 1925 und 1937 die Gesamtbevölkerung Bayerns um 4,1 Prozent zugenommen hat, ist sie im gleichen Zeitraum etwa im Bezirk Wegscheid um 0,2 Prozent zurückgegangen. Aus dem Bayerischen Wald sind zwischen 1880 und 1914 etwa 4.000 Menschen nach Amerika ausgewandert.
Bereits in den 1970er Jahren gab es einen Linienbus, der die Fernpendler am Montagmorgen um 3 Uhr von Mauth nach München mitnahm und sie am Freitagnachmittag wieder zurückbrachte. Denn es gab und gibt auch heute nur wenige Industrie-Arbeitsplätze in der Region. Umso erfreulicher ist es, dass die Bürgermeister der Nationalpark-Gemeinden erkannt haben, dass die Naturlandschaft ihr Potenzial für den Fremdenverkehr darstellt.
Der Bayerische Wald und die Herausforderungen der Zukunft
Sie haben auch erkannt, dass das noch erhaltene Kulturlandschaftsgefüge, das lange Zeit als rückschrittlich galt, heute eine Bereicherung darstellt. Themenorientierte Museen – beispielweise in Finsterau, Schiefweg, St. Oswald, Hauzenberg, Kropfmühl, Frauenau, Zwiesel, Regen – bieten den Gästen vertiefte Bildungserfahrungen. Es ist bemerkenswert, dass in Ruhmannsfelden noch der einzige Blaudruckermeister in ganz Süddeutschland tagtäglich Stoffe mit 300 Jahre alten Modellen bedruckt. Übrigens sind auch hier ab 1875 in einer Generation fünf von acht Geschwistern nach Wisconsin ausgewandert.
Andererseits ist zu bewundern, wie etwa ein junges Netzwerk von Bürgermeistern, Stadträten, Verlegern, Gastronomen, Hochschulfachleuten und Fremdenverkehrsexperten dem früher verschlafen wirkenden Freyung ein modernes Gesicht mit Geschäften und Dienstleistungen gegeben haben. So hat dieser periphere ländliche Raum heute eine neue Zukunft. Eine große Herausforderung für kommende Zeiten wird es allerdings sein, was aus den überkommenen Bauernhäusern und den nicht mehr gebrauchten Mähwiesen in den Dörfern werden kann. Sollen dort nur noch Solarzellen oder Biogasanlagen stehen?
Auswanderung ist ein Thema, das die Menschheit seit Generationen beschäftigt und weiterhin beschäftigen wird. Warum hat es der Mensch so an sich, weiterzuziehen?
Im 19. Jahrhundert sind viele nach Amerika ausgewandert: Der Strafentlassene Johann Katzdobler (1875) ebenso wie der unternehmerische Max Süß, der von der Sattlmühle bei Waldkirchen aus aufbricht und in Chicago die berühmte „Suess Ornamental Glass Co„ gründet, die in den USA mit ihren künstlerischen Gläsern große Bekanntheit gewann. Landlose konnten kostenlos Land erwerben, besitzlose Dienstboten durften dort heiraten. Sie alle haben sich in Amerika erhofft, die politische, religiöse, wirtschaftliche und soziale Freiheit zu erlangen, die ihnen die Heimat nicht bieten konnte. Die Zuwanderer heute erhoffen sich gleichermaßen in den USA wie bei uns in der Bundesrepublik ein Leben in Freiheit und ein gesichertes Auskommen.
Fragen über Fragen: Woher komme ich? Was sind meine Wurzeln?
Generell nimmt das Interesse für Ahnenforschung immer mehr zu. Wie begründen Sie dieses Phänomen?
Die Deutsch-Amerikaner haben es oft zu einem gewissen Wohlstand in ihrer neuen Heimat gebracht. Und trotzdem schlummern in ihnen die tiefgehenden Fragen: Woher komme ich? Was sind die Wurzeln, die durch meine Vorfahren auch mich geprägt haben? Warum sind sie überhaupt weggegangen? Erkenne ich in den Augen eines heutigen Bayerwäldlers das Gesicht eines meiner Vorfahren, wie kürzlich etwa Al Wallisch aus Wisconsin, als er Mauth besucht hat? Oder noch wilder: Kann eine Speichelprobe den genetischen Beweis erbringen, dass ich, Jim Leitner, meinen Verwandten gefunden habe, obwohl er sich Poxleitner schreibt?
Abschließende Frage: Wie geht es mit Ihren Forschungsarbeiten weiter?
Nun, die Amerikaner drängen schon lange darauf, auch jetzt bei unserer soeben eröffneten Auswanderungsausstellung in Herzogsreut, dass endlich mein 540-Seiten-Buch auf Englisch erscheint. Titel: „You cannot imagine what it is like in America“.
Vielen Dank für das Interview. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Freude bei Ihren Forschungsarbeiten.
Interview: Helmut Weigerstorfer
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Sehr interessant. Ich würde das Buch gerne Kaufen – allerdings die deutsche Fassung.
Was mich interessiert: In den 30-er Jahren wurden die deutschen Einwanderer, bedingt durch die Wirtschaftskrise in den Staaten, wieder nach Deutschland zurückgeschickt. Allein in meinem 200 Seelen Dorf Gottsdorf kannte ich drei Familien, denen es so erging. Sie haben sich daheim wieder angesiedelt.
Sehr hilfreich waren deren Englisch-Kenntnisse beim Einmarsch der Amerikaner in den letzten Kriegstagen. Sie konnten der Bevölkerung damit viel Leid ersparen.
Lieber Herr Lang, in der Tat war es so, dass den Auswanderern die Tauben nicht in den Mund flogen oder wie ich in meinem Buch „Ihr ghönt es Eich gar nicht vorstelen …“ dargestellt habe, „Wennst net Amerikanisch kannst, lebst wie en Hund“. Doch die meisten Auswanderer hatten gerade genug Geld zurücklegen können, um auszureisen, aber das Geld für die Rückreise hat eben nicht gereicht. Und dazu kommt noch, dass man ja in der Heimat auch nicht als Versager dastehen wollte. Deshalb gibt es nur wenige Briefe, in denen offen über das harte Leben in Amerika geredet wurde.
Übrigens können Sie noch bis Ende Oktober 2019 im Bauernhausmuseum Lindberg meine Ausstellung zur Auswanderung zur Bayerwald-Auswanderung nach Amerika sehen.
Dazu sind alle drei meiner Auswanderungsbücher im Handel erhältlich. Hier ein Blick ins Buch:
Ihr ghönt es Eich gar nicht vorstelen wie es in Amerigha zugeht:
http://www.blickinsbuch.de/9783942509428&account=7813149622
Emerenz Meier in Chicago
http://www.blickinsbuch.de/9783942509367&account=7813149622
Wie hin mein Schiksal führt
https://www.lehmanns.de/shop/geisteswissenschaften/42046451-9783942509657-wie-hinh-mein-schiksal-fuehrt
Wir können auch gerne über die Hognianer ins persönliche Gespräch kommen!