Vimperk/Winterberg. Für die Bürger Tschechiens ist es mittlerweile zur Normalität geworden, dass sie sich im öffentlichen Raum nur noch mit Mundschutz bewegen dürfen. „Die Akzeptanz dafür ist verblüffend hoch“, sagt Marek Matoušek, Herausgeber unseres langjährigen tschechischen Partnerportals „sumava.eu„. Der in Winterberg (Vimperk) lebende und dort praktizierende Zahnarzt verfolgt seit Anbeginn der Corona-Krise die Entwicklungen in seinem Heimatland akribisch. Am 12. März hatte die Regierung von Ministerpräsident Andrej Babiš den Notstand ausgerufen.
Sämtliche Geschäfte, Hotels, Restaurants, Wirtshäuser, Schulen, Hochschulen und kulturelle Einrichtungen sind seitdem geschlossen – mit Ausnahme von Apotheken, Tankstellen, Kiosken, Supermärkten – „und Blumenläden“, wie der 42-Jährige ergänzt. Blumenläden? Ja, richtig gehört! Der Grund: Die größte Blumenladen-Kette Tschechiens gehört mehrheitlich zu Andrej Babiš‘ Fondsgesellschaft namens Hartenberg. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…
Marek: Wie ist die derzeitige Stimmung in der tschechischen Bevölkerung?
SARS-CoV-2 wurde ja vor nicht allzu langer Zeit noch als Grippe bezeichnet. Es ist bekannt, dass etwa im Winter 2018/2019 in der Tschechischen Republik eine Million Menschen am Influenzavirus erkrankt ist – in Deutschland waren es sogar sieben Millionen. Hierzulande sind damals rund 1.500, in Deutschland etwa 25.000 Leute daran gestorben. Das Medien-Interesse hielt sich dabei in Grenzen. Der grundlegende Unterschied zur klassischen Grippe besteht jedoch darin, dass nun viel mehr Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind, einen Krankenhausaufenthalt benötigen, der länger andauert als bei einer gewöhnlichen Grippe. Das Risiko einer Überlastung des Gesundheitssystems ist also weitaus höher.
„Ich wünsche mir, dass die Grenze schon bald wieder öffnet“
Ich bin der Meinung, dass der Großteil der tschechischen Bevölkerung die Notwendigkeit des Prinzips zur „Abflachung der Kurve“ bereits verstanden hat – gerade angesichts zahlreicher Todesfälle und überfüllter Leichenhallen, wie wir sie derzeit in Spanien und Italien oder in den USA mitverfolgen können. Doch es gibt auch diejenigen, die sehr unbekümmert und unvernünftig mit der Corona-Situation umgehen. Ich bin mir nicht sicher, ob alle Leute dies- und jenseits der bayerisch-böhmischen Grenze bislang erkannt haben, wie schwierig und komplex die momentane Lage ist. Ich denke, dass die Coronakrise die größte emotionale wie intellektuelle Herausforderung der Neuzeit ist.
Wie hat sich Dein Alltag in Winterberg seit der Corona-Krise verändert?
Rein beruflich betrachtet haben mein Team und ich unsere Arbeit als Zahnärzte auf die dringlichsten Notfälle minimiert. Was die private Seite betrifft, hat sich für mich persönlich so gut wie nichts verändert: Ich meide – wie schon all die Jahre zuvor – einen vom Konsum dominierten Lebensstil, sodass mich die Schließungen gewisser Geschäfte nicht wirklich tangieren. In meiner derzeit überaus großzügig vorhandenen Freizeit versuche ich viel zu lernen, mich weiterzubilden – und unternehme Ausflüge in die Natur mit dem Fahrrad, um den Kopf frei zu bekommen. Das war vor Corona so, währenddessen – und wird auch danach noch so sein.
Welchen Einfluss hat die Grenzschließung auf die tschechische Wirtschaft? Zahlreiche, in Grenznähe lebende Tschechen sind ja in Deutschland beschäftigt. Sie können seit zwei Wochen nicht mehr in ihr Nachbarland einreisen.
Die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind und bleiben enorm. Ich kenne Unternehmen, die bereits bankrott gegangen sind oder aufgrund der geschlossenen Grenzen kurz vor dem Bankrott stehen. Ich bin nicht gerade davon überzeugt, dass diese „Grenzschließung“ schon bald wieder aufgehoben wird, doch ich wünsche es mir sehr.
„Ich rechne mit Problemen beim Pflegepersonal“
Glaubst Du, dass die aktuelle Grenzschließung negative Folgen haben wird auf die in den letzten Jahren immer besser gewordene Völkerverständigung zwischen Tschechen und Deutschen?
Im Gegenteil. Die Wiedereröffnung der Grenzen wird gleichbedeutend mit einem Neustart sein, den wir alle mit neuem Enthusiasmus entgegen blicken können. Dieser Neustart wird den Menschen auf beiden Seiten der Grenze zugute kommen – und ich denke, dass sich dieser Trend dann auch künftig weiter fortsetzen wird.
Ist der tschechische Staat Deiner Meinung nach ausreichend vorbereitet auf die Corona-Pandemie? Zum Beispiel in Sachen Beatmungsgeräte?
Laut Statistik: Ja. Doch ich rechne schon bald mit Problemen beim Pflegepersonal. Seit Jahren und Jahrzehnten wird seitens Vertretern des Gesundheitswesens beklagt, dass dieses notorisch unterbesetzt sei und dessen Beschäftigte täglich mehr als acht Stunden arbeiten müssten. Leider hat sich in dieser Hinsicht – trotz des Drucks vieler Angestellter im medizinischen Bereich – nichts geändert. Die Verantwortlichen verlassen sich seit Jahren auf teils völlig überlastetes Pflegepersonal. Was für sie zählt, ist der wirtschaftliche Profit, nicht das Wohl der Menschen.
Was kann Bayern von Tschechien in Sachen Krisenmanagement lernen – und umgekehrt?
Ich würde den Tschechen definitiv empfehlen, sich täglich die Informationen des Berliner Virologen Professor Christian Drosten anzuhören. Er spielt eine tragende Rolle bei der öffentlichen Kommunikation. Er kann Sachverhalte so vermitteln, dass sie bei der Bevölkerung ankommen. Hinter dem deutschen Anti-Corona-Konzept steht ein ausgezeichnetes Krisenmanagement.
Ich habe seit Beginn der Pandemie viel nachgedacht. In Tschechien gibt es in der Krise ein großes Gefühl der Verbundenheit. Die Menschen und Unternehmen helfen zusammen. Bewundernswert ist, dass hierzulande die Leute das von der Politik verordnete Tragen eines Mundschutzes akzeptieren – obwohl nach neuesten Erkenntnissen nicht sichergestellt ist, dass dieser der Ausbreitung des Virus zu einhundert Prozent Einhalt gebietet. Doch der Mundschutz ist auch ein Zeichen der Solidarität.
Zudem ist es nahezu unglaublich, wie viele Menschen derzeit für sich selbst und auch für andere Gesichtsmasken nähen. Das Miteinander unter den Leuten ist beachtlich – es wäre wünschenswert, wenn dies auch in Bayern der Fall ist. Ich denke, dass Tschechien aufgrund der ergriffenen Maßnahmen rund zehn Tage Vorsprung vor den Deutschen hat.
„Handy-Überwachung ist überaus grenzwertig“
Aktuell greift der Staat in vielen Ländern in das tägliche Leben der Menschen ein. Wie gehen Deine Landsleute damit um, wenn sie – wie zu Zeiten des Kommunismus – nun wieder vieles diktiert bekommen?
Wir befinden uns heute tatsächlich in einer recht ähnlichen Situation wie zu Zeiten des Kommunismus. In Ungarn kann man aktuell recht gut beobachten, dass freiheitliche Grundwerte missbraucht und in eine autokratische Richtung umgelenkt werden. Die Situation ist zweischneidig: Einerseits brauchen wir gewisse Maßnahmen, um der Ausbreitung des Coronavirus Herr zu werden, andererseits bieten diese Maßnahmen auch viel Raum für Missbrauch. Die Handy-Überwachung von Corona-Infizierten etwa ist überaus grenzwertig. In Tschechien wird dieser äußerst kontrovers-diskutierte Schritt schon sehr bald Realität sein.
Ich möchte jedoch auch betonen, dass wir uns derzeit in einem Wettlauf zwischen Leben und Tod befinden. Dabei sind Corona-Apps auf freiwilliger Basis meiner Meinung nach absolut notwendig, um bestimmte Daten zur Eindämmung des Virus gewinnen zu können. Wir brauchen dazu jedoch eine gesamteuropäische Lösung, keine nationalstaatliche, die Politikern wie Orbán und auch Babiš in die Hände spielen könnten.
Wie gehen vor allem die älteren Bürger von Winterberg mit der Krise um?
Alle Senioren-Einrichtungen in der Region werden hervorragend verwaltet – von klugen und weitsichtigen Leuten, die bereits lange bevor der Staat etwas anordnet die richtigen Maßnahmen in die Wege geleitet haben. Sowohl die Führungskräfte als auch das Pflegepersonal verdienen meinen vollen Respekt. Vor rund 25 Tagen, als die Coronakrise ihren Lauf nahm, war absehbar, dass vor allem Senioren mit Vorerkrankungen zur Risikogruppe zählen. Wir haben damals fast alle Mundschutz-Masken aus unserer Zahnarztpraxis an das Seniorenheim der Stadt übergeben. Die dortigen Bewohner brauchten diese notwendiger als wir.
Und wer feuert sie ab? Die Politiker?
Was glaubst Du: Wie lange wird es den „Shutdown“ in Tschechien noch geben?
Wir haben leider keine Glaskugel, in die wir hineinschauen können um festzustellen, wie jahreszeitenabhängig sich die Ausbreitung des Coronavirus verhält. Wir wissen nicht, wie sich die Corona-Kurve entwickeln wird. Um es etwas drastisch auszudrücken: Es wird dabei wohl die Frage entscheidend sein, wie viele Menschen „geopfert“ werden können bis die Wirtschaft endgültig am Boden liegt. Und die Frage: Wer kontrolliert den Staat? Sind es die Wissenschaftler, die Ärzte oder die Ökonomen und Manager? Die restriktiven Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie sollen, wie es heißt, in Tschechien bald etwas zurückgefahren werden – obwohl Experten wie Professor Drosten und viele andere darauf hinweisen, dass der Höhepunkt erst noch vor uns liegt.
Insbesondere Politiker vergleichen den momentanen Kampf gegen das Coronavirus gerne mit kriegsähnlichen Zuständen. In meiner Vorstellung entsteht dabei häufig ein beunruhigendes Bild: Die Munition für die Kanonen und Gewehre setzt sich aus Ärzten und Krankenschwestern zusammen. Die Ökonomen und Manager sind für die Ladung der Geschosse verantwortlich. Und wer feuert sie ab? Die Politiker?
Doch ich will positiv bleiben – und weit am Ende des Tunnels sehe ich Licht. Wenn Deutschland und Tschechien nun keine weiteren Fehler mehr machen, könnten beide Länder nach dieser einschneidenden Zeit als „Sieger“ aus der Krise hervorgehen. Im Vergleich dazu sehe ich Nationen wie Italien, Frankreich, Spanien, England, die USA sowie überraschenderweise auch China künftig weniger in der Lage neue Corona-Infektionen, verbunden mit sozialen Unruhen und wirtschaftlichen Krisen, zu verhindern.
„Brauchen mehr denn je ein intaktes Immunsystem“
Wie lautet Dein persönlicher Wunsch für die nächsten Wochen und Monate?
C.G. Jung, der Begründer der analytischen Psychologie, sagt: Jede Krise ist auch eine Chance. Ich wünschte, wir könnten diese Chance nutzen und lernen, autarker zu sein. Wir sehen derzeit, wie verletzlich und wie abhängig wir in vielerlei Hinsicht sind. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen die derzeitige Ausnahmesituation dazu nutzen, um über ihr Sein nachzudenken – und zu erkennen, wie sehr wir uns bereits von der Realität entfernt haben.
Menschen haben die Möglichkeit, Prioritäten zu setzen – auf persönlicher, beruflicher und gesundheitlicher Ebene. Jetzt gerade sorgen wir uns alle um die Gesundheit unserer Kinder, Eltern, Großmütter, Großväter und Freunde. Keinem von uns ist in diesen Tagen egal, was auf der Welt geschieht. Jeder von uns hat jemanden, um den er sich sorgt. Das Gefühl der Angst jedoch – und das ist wissenschaftlich erwiesen – schwächt das Immunsystem.
Wir brauchen jetzt aber mehr denn je ein intaktes Immunsystem. Lasst es uns stärken, indem wir die momentane Krise als Chance dafür nutzen, um unser Übergewicht loszuwerden, mit dem Rauchen aufzuhören, und wieder mehr zu bewegen, gesünder zu essen und zu trinken, wieder mehr im Einklang mit der Natur leben. Lasst uns die warmen Sonnenstrahlen genießen. Lasst uns positiv bleiben, um uns weiterhin ein Lächeln unter dem Mundschutz zu bewahren.
Ein sehr schönes Schlusswort. Vielen Dank für Deine Zeit und weiterhin alles Gute.
Interview: Stephan Hörhammer