Mauth/Freyung. „Ich schreibe hiermit nieder, was ich, Inge Poxleitner, geb. 1927 in Mauth, noch in Erinnerung habe über den hier gelebten Kunstmaler Franz Staller und seine Ehefrau Sophia“, heißt es zu Beginn der Aufzeichnungen, die der Freyunger Heimatkundler Max Raab als „außergewöhnlichen Glücksfall“ bezeichnet. Denn die junge Frau hielt auf recht anschauliche Weise fest, unter welchen Lebensumständen der zwischen 1930 und 1956 in der heutigen Nationalparkgemeinde wohnhafte und wirkende Künstler sein Dasein fristete. Ein wertvolles Zeugnis für die Nachwelt, das im vierten Teil unserer Staller-Serie in Inge Poxleitners Wortlaut im Folgenden fortgesetzt wird.
Damals war ich ein junges Mädchen, als ich Kenntnis von den Staller-Leuten erhielt. Meine Mutter hatte eine Gemischtwarenhandlung in Mauth. Gegenüber wohnte in Nachbarschaft die Familie Staller im Mauth-Haus, später – nach dem Besitzer – Blöchl-Haus genannt. Ich musste meiner Mutter immer im Laden helfen. Somit waren meiner Mutter und mir der Tagesablauf der Staller-Eheleute bekannt.
„Frosttage gab es im Leben der Stallers viele“
Das Ehepaar erhielt von der Gemeinde Mauth ein Fürsorgegeld. Der Betrag war jedoch so beschämend gering, dass sie davon nicht leben konnten. Es waren von 1939 bis 1945 die Kriegsjahre. Wer diese Zeit miterlebte, der weiß, wie groß die Not und Gefahr war. Ein politisches Vergehen in der Hitlerzeit wurde schwer bestraft. An eine Versorgung für die Familie Staller hatte zu dieser Zeit niemand gedacht. Im Gegenteil: Die Stallers mussten sich still verhalten. Ganz schnell wäre ein Abtransport ins „Unbekannte“ möglich gewesen.
Der Hunger war bei den Stallers ein ständiger Gast. Im Winter litten sie unter großer Kälte. Im Herbst tat die Gemeinde ihre Pflicht und brachte ihnen einige Schubkarren Brennholz ins Gebäude. Doch viel zu wenig für die lange, kalte Winterzeit im Bayerischen Wald. So war bei Stallers auch Väterchen Frost ein ständiger Begleiter.
Franz Staller musste sich also selbst helfen. Fast jeden Tag im Winter ging er in die umliegenden Gehöfte und stibitzte das aufgerichtete, fertige Brennholz. Um aber nicht ertappt oder gesehen zu werden, nahm er die Dunkelheit in Anspruch. Wie ein Indianer im Wilden Westen auf Kriegspfad vollzog er diese Taten. Das Holz bündelte er in ein Tuch und versteckte es unter seinem weiten, großen Umhang, eine Art Mantel. Die Holzbesitzer merkten schon, dass der Holzstoß nach und nach kleiner wurde. Aber Holz war genug da – und sie nahmen es gelassen hin. Es gab aber Zeiten im Winter, da schneite es tagelang. Dann waren Frosttage im Zimmer von Familie Staller angesagt. Und solche Frosttage gab es im Leben der Stallers viele. Sie lagen dann beide im Bett.
Jeden Ersten im Monat bekamen die Stallerleute das wenige Geld der Gemeinde-Fürsorge. Schon am zehnten des Monats war das Geld verbraucht. Aber Franz Staller bettelte nie um mehr.
Schwarztee als Nahrungsersatz
Franz Staller war täglicher Kunde im Laden meiner Mutter. Während der Kriegszeit gab es die Lebensmittelmarken. Ausgabe war immer Anfang des Monats. Schnell waren die Marken bei den Stallers verbraucht. Herr Staller kaufte damit im Laden bei meiner Mutter ein. Seinen Einkauf verstaute er in seinem Stoffbeutel. Doch als es ans Zahlen ging, hatte Franz Staller kein Geld. So hatte er wieder billig eingekauft. Meine Mutter sagte dann: „Jetzt, Herr Staller, haben Sie mich wieder dran gekriegt, hätt’s mir denken können, gehen Sie schon“ – und gab ihm einen Wink. Sein freudiger Blick war ein Dankeschön.
Zur fast täglichen Kundschaft im Laden meiner Mutter gehörte Franz Staller. Er war wohl der Zahlungsunfähigste. Wenn die Ladenglocke bimmelte und er wortlos vor dem Ladentisch stand, wusste meine Mutter: „Aha, der Staller will was – und hat kein Geld.“ Oft hörte ich die Worte von ihr: „Nein, heute gebe ich Ihnen nichts.“ Darauf Franz Staller: „Ich möchte nur etwas Schwarztee.“ Gut, meine Mutter schenkte ihm wieder Schwarztee.
Staller war Pfeifenraucher. War er im Dorf unterwegs, trug er in der rechten Hand immer seine kurze Pfeife – ohne Tabak. Diesen kaufte er nur, wenn er Geld hatte. Das war aber nicht oft der Fall. Die Stallers waren leidenschaftliche Schwarzteetrinker. Wenn sie Hunger hatten, war der Tee ihr Nahrungsersatz. Er wurde mehrfach aufgebrüht, getrocknet und als Pfeifentabak wiederverwendet.
Nach ein, zwei Tagen war Franz Staller wieder im Geschäft, stand da und wartete. „Herr Staller, warum kommen Sie immer zu mir, gehen Sie doch mal woanders hin“, waren die Worte meiner Mutter. Staller schwieg. Meine Mutter ließ ihn oft im Laden stehen, kümmerte sich nicht mehr um ihn. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen – und er war immer noch da. „In Gottes Namen“, sagte meine Mutter schließlich und gab ihm wieder Lebensmittel. Manchmal war sie sehr verärgert über ihn. Zornig sagte sie dann zu mir: „Immer wieder gebe ich ihm, was er will. Ich bin machtlos, er nützt mich aus. Er hypnotisiert mich dauernd. Aber jetzt ist Schluss. Ich schau ihm nicht mehr in die Augen.“
„Er hat mir wieder leid getan“
Doch das Katz-und Mausspiel nahm kein Ende. Manchmal sagte meine Mutter zu mir: „Jetzt geh du in den Laden und sag, ich bin nicht da.“ Doch Staller ging nicht, er schaute mir in die Augen, ich hielt den Blicken nicht stand – und lief fort. Dann kam meine Mutter: „Herr Staller, was mach ich nur mit Ihnen? So geht das nicht weiter. Gehen Sie!“ Und er ging. „Er hat mir wieder leid getan“, sagte meine Mutter zu mir. Der Hunger schaute aus seinen Augen und seinem Gesicht. Erleichtert meinte sie dann: „Er kommt ja bald wieder.“ Das hat sich immer bewahrheitet…
Max Raab/ da Hog’n
Im nächsten Teil unserer Serie über den Mauther Maler Franz Staller geht Inge Poxleitner u.a. näher auf dessen künstlerisches Schaffen und das weitere Leben der Eheleute Staller im Dorf ein.