Mauth/Freyung. Die Aufzeichnungen Inge Poxleitners (geb. Lenz) über den (fast) vergessenen Mauther Kunstmaler Franz Staller und dessen Ehefrau Sophia sind ein einzigartiges Zeitdokument. Davon ist nicht nur der Freyunger Heimatforscher Max Raab überzeugt, der sich mit dem Leben und Wirken des in großer Armut lebenden Ehepaars intensiv auseinandersetzte. Im fünften Teil unserer Serie geht es vor allem um das künstlerische Schaffen Franz Stallers – geschildert aus Sicht jener Heranwachsenden aus dem Bayerischen Wald.
Seine Bilder waren gut, sehr gut. Das bestätige mir auch der Kunstmaler Turek aus Freyung. Leider wurde Franz Staller als Künstler zu Lebzeiten verkannt, missachtet, nicht unterstützt von Landkreis oder Gemeinde. Heute wären seine Bilder gefragt. Die Waldler hatten damals keine Interesse für seine Malerei. Armut, Not und Arbeitslosigkeit gab es in dieser Gegend genug. Es gab viele kinderreiche Familien. Junge Leute konnten selten studieren. Franz Staller schaffte nicht den Durchbruch zum gefragten Künstler.
Gibst du mir, so geb ich dir
Die Gegend im hintersten Winkel des Bayerischen Waldes war nicht geeignet für ihn. Er kam in den Wald wegen seiner Liebe zur Natur, seiner Liebe zur Landschaftsmalerei, die armen, einfachen Menschen zu porträtieren. Er malte auch Bilder aus der Sagenwelt, Heiligenbilder, impressionistische und abstrakte Werke. Soviel ich weiß, modellierte Staller auch Gipsplastiken. Doch davon ist nichts mehr erhalten. Eine kleine, zehn Zentimeter hohe Plastik, ein Gnom, ist noch in meinem Besitz.
Fast jeden Tag im Sommer war Franz Staller unterwegs, um seine Bilder zu verkaufen. In seinem weiten Mantel steckten in der Innentasche immer einige zusammengerollte Bilder. Wenn er nach Freyung ging, benutzte er die alte Trasse des „Goldenen Steiges“. Von dem Erlös der Bilder kaufte er sich Farben, Leinwand und Papier. Seine Werke findet man heute kaum noch in der Bevölkerung, vielleicht da und dort noch eines. Sehr oft war der Verkauf ein Tauschgeschäft – nach dem Motto: Gibst du mir, so geb ich dir.
Not machte auch bei Stallers erfinderisch. Ein wenig abseits vom Gutshof Neuhütte standen einige Wohnhäuser, bewohnt von den Arbeitern des Gutes. Diese Bewohner kannten Franz Staller sehr gut. Es gab da eine blumenreiche Wiese mit vielen jungen Birken. Da saß Franz Staller schon bei Sonnenaufgang mit seiner Staffelei und malte. Die Kinder der Leute fürchteten ihn wegen seines Aussehens und seiner Kleidung. Auch die einsamen Bereiche der Finsterauer und Heinrichsbrunner Reute gehörten zu seinen bevorzugten Gegenden. Außerdem war er gerne in Zwölfhäuser, einem kleinen Dorf oberhalb von Mauth, in 900 Metern Höhe gelegen. Dort verweilte er gerne. Da war die alte Sandstraße, der sogenannte „Goldene Steig“, der zwischen den alten Holzhäusern verlief. Das ganze Dorf strahlte, bot einen romantischen Anblick. Eine Malerei von diesem Dorf ist in meinem Besitz.
Wieder so ein Siegeszug von ihm
Ein weiterer Grund war die Nahrungssuche in den Dörfern. Die Leute gaben ihm Brot, Kartoffeln und manchmal bekam er auch böse, kräftige bayerische Schimpfworte nachgerufen, wenn er voller Hunger zu häufig vorbeischaute. Manchmal bediente er sich selbst, nahm einige Holzscheite wie üblich mit – und nebenbei vom Rüben- und Krautacker die Krautköpfe, Rüben und Kartoffeln für seinen Kochtopf zuhause.
An vielen Tagen konnte Franz Staller nicht malen. Er war gezwungen zum Nichtstun. Und warum? Diese Frage ist leicht zu beantworten: Er hatte keine Farben. Woher diese aber kaufen ohne Geld? Ein kurzer Gang über die Straße zu seiner Nothelferin Franziska Lenz, meiner Mutter. Sie hatte ihren Gemischtwarenladen gegenüber seiner Behausung. Die Ladenglocke bimmelte (wie so oft) – und schon stand Kunstmaler Staller im Laden. Meine Mutter begrüßte ihn mit den Worten: „Herr Staller, heute bekommen Sie nichts, gar nichts. Gestern waren sie erst da – und heute nicht schon wieder. Nein, nein, gehen Sie, ich will Sie heute nicht mehr sehen!“
Doch der schlaue Herr ging nicht, sondern sagte zu meiner Mutter: „Ein schönes Bild habe ich in Arbeit, bald ist es fertig. Sie bekommen es geschenkt, brauche nur noch einige Trockenfarben.“ Und Franz Staller bekam die gewünschten Farben, weil meine Mutter wieder zu gutmütig war und nicht zuletzt wegen seinen hypnotisierenden Augen. Wieder so ein Siegeszug von ihm, seine ihm bewusste Macht.
“Kommen Sie mir nicht mehr unter die Augen!“
Der nächste Tag verlief nach dem selben Muster: Franz Staller stand wieder im Laden. Diesmal fehlte ihm Firnis für seine Farbenmixtur. Und natürlich, nach vielem Hin und Her zwischen meiner Mutter und dem Künstler, verließ er am Ende den Laden mit dem, was er haben wollte.
Einige Tage vergingen, dann kam Staller erneut in den Laden. Er versprach meiner Mutter, ihr das Bild nach der Fertigstellung zu schenken, wenn die Farben am Kunstwerk getrocknet sind. Aber bis dahin bräuchte er dringend einige Lebensmittel. Meine Mutter fragte ihn: „Haben Sie Geld, Herr Staller?“ Er sagte daraufhin meistens gar nichts – und so wusste meine Mutter Bescheid. Sie sagte nur: „Herr Staller, heute sind Sie wieder so unverschämt. Ich gebe Ihnen gar nichts.“ Doch nach einiger Zeit verließ er mit ein paar Lebensmitteln den Laden. Meine Mutter rief ihm nach: “Kommen Sie mir nicht mehr unter die Augen!“ Schon ein paar Tage später kam er mit dem versprochenen Bild. Meine Mutter sagte dann: „Für das Bild gebe ich Ihnen keine Waren, egal, was Sie auch haben wollen. Sie haben schon genug bekommen!“ Er brauchte nichts Essbares, sondern Terpentin zum Reinigen des Pinsels. Meine Mutter ließ sich wieder erweichen, das Terpentin wechselte den Besitzer.
Wenn Franz Staller keine Leinwand zum Malen hatte, holte er sich von meiner Mutter dickes Packpapier oder Kartonschachteln als Ersatz. Alles, was er an Material zum Malen brauchte, bekam er größtenteils von ihr geschenkt. War es wegen seiner Augen, seines hypnotisierenden Blickes? Die haben es meiner Mutter und auch mir angetan. Wenn ich im Laden war, wollte er lange nicht wieder gehen. Ich fragte dann: „Herr Staller, was brauchen Sie?“ Er sagte nichts, starrte mich nur an. Mir wurde angst und bang und ich rief nach meiner Mutter. Er mochte Kinder sehr gerne, denn als Porträtmaler malte er auch Kinderbilder. Ein solches ist im Besitz meiner Familie. Auf dem sind drei Kindergesichter abgebildet: mein Bruder, ich und ein Spielkamerad. Er liebte Kinder sehr, doch diese versteckten sich, wenn sie ihn sahen.
Anmerkung von Max Raab: Im Haus von Josef Poxleitner, dem Sohn der Verfasserin dieses Berichts, hängen an die 20 Bilder des Malers Staller. Eine ebenso große Anzahl Bilder Stallers hat der Bruder von Josef Poxleitner in seinem Besitz. Man kann somit gut nachvollziehen, wie oft Bilder gegen Lebensmittel oder Ähnliches getauscht wurden. Franziska Lenz, die Kramerin, war eine warmherzige Frau und großzügige Gönnerin dieses Außenseiters und Sonderlings, wie ihn die meisten Bürger Mauths wohl sahen. Der Maler und seine Frau Sophia wurden nie in die dörfliche Gemeinschaft integriert, nicht einmal akzeptiert. Doch es gab einige Menschen, die die Not des Künstlers und seiner Frau erkannten und nicht wegsahen, die sie unterstützten, soweit es ihnen möglich war.
Denn er schuf sie in Liebe und Not
Franz Staller war ein Ehrenmann. Niemals hat er sich unsittlich benommen, er war höflich, korrekt, beherrscht und auch stolz in seiner Art als Künstler. Er war ein überaus gebildeter Mann. Jedoch wurde er von den Dorfbewohnern falsch eingeschätzt.
Meine Mutter war eine christliche Frau. Mein Vater, Schreinermeister Josef Lenz, starb im Jahr 1942 an einer schweren Krankheit. Ein Versprechen meiner Mutter war, in der Pfarrkirche Mauth mit Einverständnis des Hochwürdigen Herrn Pfarrers, ein Bild des Heiligen Bruder Konrad anzubringen. Er war der Diözesanheilige. Franz Staller malte ein sehr schönes Bild dieses Heiligen. Es erhielt seinen Platz im Gotteshaus hinten rechts am Eingang. Einige Jahre lang hing es dort und die Mauther Kirchgänger verehrten es sehr. Dann wurde die Kirche renoviert und das Bild des Heiligen verschwand spurlos. Leider weiß ich nichts über dessen Verbleib. Meine Mutter gab Franz Staller noch einmal den Auftrag, ein Bild von Bruder Konrad anzufertigen. Es ist ein gut gelungenes Werk – und es hängt heute in meinem Schlafzimmer.
Ein weiteres, von meiner Mutter gestiftetes Bild des Heiligen Bruder Konrad hängt heute wieder in der Pfarrkirche. Auch ein Bild des Heiligen Antonius, den meine Mutter sehr verehrte, wurde vom Künstler Staller gemalt und befindet sich heute im Besitz meiner Familie, wie viele weitere seiner Werke. Ich halte sie in Ehren, denn er schuf sie in Liebe und Not. So wie das Mauth-Haus eine unvergessliche, zeitgeschichtliche Darstellung war, so war es auch die Familie Staller. In diesem Haus befanden sich im Erdgeschoss die Wohnräume der Familie Blöchl (zwei Zimmer). Elektrisches Licht war zu dieser Zeit bereits vorhanden. Außerdem waren noch zwei Zimmer vermietet. Im Obergeschoss waren noch zwei Zimmer der Eheleute Blöchl und zwei Zimmer, die die Familie Poxleitner bewohnte.
Das hat mich oft sehr geärgert
Im hinteren Teil war das Zimmer des Künstlerehepaares Staller. Dort gab es kein elektrisches Licht. Franz Staller bezog sein Licht aus zwei verschiedenen Quellen: Erster Anlaufpunkt zur Lichtversorgung war das Kaufhaus Graf in Mauth. Hatte er ein wenig Geld, kaufte er dort Petroleum für seine Lampe. Hatte er kein Geld, ging er in den Laden meiner Mutter. Dort bekam er sicher die zweite Art der Lichtversorgung: Stearinkerzen. Doch manchmal gab ihm meine Mutter nichts – vor allem, wenn seine Wünsche zu hoch angesetzt waren. Dann war der Künstler aber sehr beleidigt – und verließ gekränkt den Laden.
Der Gemischtwarenladen meiner Mutter war aber auch sehr verlockend. Es gab Lebensmittel aller Art, Süßigkeiten, Tabak, Geschirr, Heringe, Eisenwaren, Waschmittel usw. In einer Ecke hinter der Ladentüre stand eine schwarze Blechtonne. Darin war Karbid, bestimmt für die Leute, die in Häusern außerhalb des Ortes lebten. Da gab es noch kein elektrisches Licht, Karbidlampen sorgten abends für ausreichende
Helligkeit. Außerdem Petroleum und Kerzen. Manchmal holte er sich auch Karbid bei meiner Mutter. Seine Lichtversorgung war somit gesichert. Er brauchte ja Licht für seine Malkunst, er war nachts viel wach und hatte das Licht immer brennen. Im Laden meiner Mutter hatte ich die Aufgabe, den stinkenden Karbid mit bloßen Händen aus der Tonne zu holen. Das hat mich oft sehr geärgert.
Fließendes Wasser gab es im Haushalt der Stallers nicht. Hinter dem Haus befand sich das Grandl, ein Steintrog mit fließendem Quellwasser. Daraus nahm Franz Staller, was er brauchte. Ich denke, im Haushalt der Stallers war sehr selten Waschtag. Ich meine, man brauchte mehr Wasser zur Teezubereitung als zum Waschen. Seife war sicherlich Mangelware – überhaupt während der gesamten Kriegszeit. Kam Franz Staller in Mutters Laden, was fast täglich geschah, mussten wir, nachdem er den Laden verließ, für längere Zeit lüften.
Sonst verhungern und erfrieren sie
Meine Mutter sagte oft zu mir: “Inge, mir erbarmen die Stallerleute sehr. Besonders in der Kriegszeit muss ich ihnen helfen, sonst verhungern und erfrieren sie. In der Schreinerwerkstatt meines Vaters gab es immer Holzabfälle, Späne und kleinere Holzstücke. Das konnte sich Franz Staller immer umsonst mitnehmen. Häufig sagte meine Mutter: „Wenn sich doch die Menschen mehr um die Stallers kümmern würden!“ Auch nach dem Krieg war die Not dieser Menschen nicht kleiner…
Max Raab/ da Hog’n
Im nächsten Teil berichtet Inge Poxleitner über das kärgliche Leben der Stallers in Mauth und deren Eintrag in ihr Poesie-Album. Sie erzählt von ihrem Besuch in Stallers Zimmer, wo sie gemeinsam mit mehreren Katzen hausten. Und vom leidvollen Ableben Sophia Stallers…