Freyung/Budapest/Erding. Ähnlich jener Odyssee, die der ungarische Soldatenschüler Géza Somogyváry gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte, hat sich so manches Mal auch die (Zusatz-)Recherche hinter der Geschichte des damals 14-Jährigen und seiner Kameraden auf der Flucht vor der Rotten Armee gestaltet. Freilich war diese bei Weitem nicht so gefährlich, jedoch des Öfteren nicht minder verzweigt und verschachtelt. Gemeinsam mit Attila Funke, „Hobby-Historiker“ mit ungarischen Wurzeln, der großen Anteil daran hat, dass unsere fünfteilige Serie mit dem Titel „Als ungarischer Kindersoldat im Bayerischen Wald“ dank seiner Expertise in dieser Form realisiert werden konnte, wollen wir nochmals auf die Nebenschauplätze blicken, die sich im Laufe des Zeitzeugenberichts ergeben haben.
Attila Funke, der heute mit seiner Frau in Erding lebt, hatte sich per Email bei der Hog’n-Redaktion gemeldet, kurz nachdem der erste Teil von Géza Somogyvárys Geschichte veröffentlicht worden war. Er fragte nach dem Originaltext, den Géza uns zugesandt hatte und den wir mithilfe von Bekannten ins Deutsche übersetzen ließen. Und so kam der Recherche-Stein langsam aber sicher ins Rollen, denn der 49-Jährige versorgte uns von da an mit wertvollen Hintergrundinformationen zu sämtlichen Stationen, die Géza auf seiner Odyssee durch Österreich, Tschechien und den Bayerischen Wald durchlebte.
„Wie eine Wand aus großen und kleinen Steinen“
Schnell war klar: Attila Funke ist sehr bewandert in Sachen Kriegshistorie und besitzt große Qualitäten bei der (Internet-)Recherche. Danach gefragt, wie er dabei vorgeht, sagt er: „Ich stelle mir das wie eine Wand vor, die sich aus großen und kleinen Steinen zusammensetzt. Die großen Steine sind diejenigen Teile der Geschichte, die bereits erforscht wurden – und dann gibt es noch die kleinen Stücke, die kleinen Geschichten – wie bei Géza. Ich schaue dann, wo diese kleinen Teile in der Wand fehlen, wo sie hineinpassen.“
Im Falle von Géza Somogyváry gab es als Ausgangsmaterial zum einen die Filmaufnahmen der Video- und Bilddatenbank „Critical Past“, die u.a. zeigen, wie ungarische Soldatenschüler unter den Augen amerikanischer Soldaten durchs Werkstor der Freyunger Lang-Brauerei marschieren. Zum anderen gab es ein zehnseitiges Dokument von Géza selbst, in dem er seine Erinnerungen und Erlebnisse vom Oktober 1944 bis März 1946 schilderte. „Ich schaue mir das alles systematisch mehrmals an und versuche, gewisse Stichworte herauszunehmen“, erklärt Attila Funke weiter. „Danach begebe ich mich auf die Suche. Es ist wie ein Puzzle – aber ein Puzzle, das nie fertig wird. Es gibt manchmal hundert verschiedene Abzweigungen – und auch so manche Sackgasse.“
Bei der Recherche benutzt er generell mehrere Datenbanken, im Falle Gézas sowohl ungarische als auch amerikanische. Die Grundfähigkeiten, auf die es dabei ankommt: Geduld, Ausdauer, Akribie und die Liebe zum Detail. „Wenn man etwas findet, ist man froh – wenn nicht, geht’s weiter und man nimmt sich das nächste Stück vor“, sagt der im sächsischen Freiberg geborene Sohn einer ungarischen Mutter und eines deutschen Vaters. „Auf irgendwelche Hinweise stößt man immer. Man sieht etwas im Fernsehen, liest etwas in Büchern – oder man fragt direkt nach, sofern diejenigen noch leben. Dann habe ich Glück – so wie bei Géza.“
Filmmaterial für Propagandazwecke
Und freilich nahm Attila Funke nicht nur einmal Kontakt zum heute bei Budapest lebenden, ehemaligen Schüler der einst in Kőszeg angesiedelten Militärrealschule auf, um seine Nachfragen zu stellen und herauszufinden, wie es sich genau abgespielt hat damals im Bayerischen Wald, als die Ungarn in Freyung, Neudorf, Grafenau, Waldhäuser und Passau landeten.
Besonders in Erinnerung ist dem Hobby-Historiker im Rahmen seiner Recherchen eine Begebenheit geblieben, als Gézas Truppe im Oktober ’45 nach Passau kam. „Géza hat mir davon erzählt, dass er mit seinen Kameraden ins Kino gegangen ist, wo der Film ‚Meine Frau, die Hexe‘ gezeigt wurde. Im Vorfeld wurde die amerikanische Nachrichtensendung ‚United News‘ ausgestrahlt – und plötzlich waren die ungarischen Soldatenschüler selbst alle auf der Leinwand zu sehen. Es waren die Aufnahmen, die die Amerikaner zuvor von den ungarischen Jugendlichen gemacht hatten und die auch im besagten Video der Datenbank zu sehen sind“, berichtet Attila Funke – immer noch ganz verwundert.
„Der Nachrichtensprecher hatte Géza zufolge, während dieser und seine Kameraden durchs Kino-Bild gelaufen sind, mitgeteilt, dass es zu schweren Kämpfen in Freyung-Grafenau gekommen war, die zehn Tage und länger angedauert hatten“, gibt Attila Funke die Erinnerungen Gézas wieder, „und dass die Nazis bis zuletzt so fanatisch waren, dass sie selbst Kinder in den Kampf schickten“. Nach Funkes Recherchen gab es keine derartigen Kampfhandlungen. „Die Soldatenschüler waren nicht einmal Mitläufer, sie hatten gar keine Waffen bei sich, wie auch bei dem Video herauskommt, das die Befragung der Ungarin in Freyung zeigt.“
Für den 49-Jährigen steht fest: „Dieses Filmmaterial wurde von den Amerikanern zu Propagandazwecken verwendet. Diese United-News-Beiträge wurden von Hollywood-Regisseuren gedreht – das waren Profis, die ein Ziel verfolgten, eine gewisse Botschaft beabsichtigten. Den Deutschen sollte im Kino vermittelt werden: Wir Amerikaner sind die Guten. Ob das wirklich so war, steht auf einem anderen Blatt – das ist immer nur die eine Sichtweise.“
Den United-News-Beitrag selbst konnte Attila Funke bis dato noch nicht ausfindig machen. Doch es existiert ihm zufolge ein weiteres Indiz für die Propaganda-Theorie: „Géza hat mir erzählt, dass sie mehrmals durch das Lang-Bräu-Tor marschieren mussten, während sie von den Amerikanern dabei gefilmt wurden. Auch die Filmklappe am Anfang spricht dafür.“ Des weiteren steht Funke zufolge in dem Buch „Diszmenet“ von Károlyi István, der als Jugendlicher von Siebenbürgen nach Kőszeg gekommen war und ein ähnliches Schicksal wie Géza erfuhr, „dass die Amerikaner extra schöne Aufnahmen von den Truppen haben wollten und den Kindern gesagt wurde, dass sie so militärisch wie möglich auftreten sollten“.
„Hinter jedem Namen steckt eine Person, ein Schicksal“
„Für mich wichtig ist“, betont Attila Funke, „dass die Menschen in diesen Geschichten einen Teil ihrer eigenen Geschichte wiederfinden. Denn es ist nicht allein eine ungarische Geschichte, nicht die Geschichte von Géza – es ist eine europäische Geschichte. Ob diese gut oder schlecht war, ist für mich erst einmal nicht interessant – und manchmal schwierig zu beantworten.“
Er möchte nicht werten, nicht (ver-)urteilen – er möchte herausfinden, was tatsächlich geschehen ist. Faktenbasiert. Nach dem Credo: Hinter jedem Namen steckt eine Person, ein Schicksal. Alles andere ist aus seiner Sicht nicht von Belang. „Wie soll ich zum Beispiel beurteilen, was 1492 mit Columbus passiert ist? Irgendjemand hat dies einmal aufgeschrieben, dass das so und so gewesen sein soll – ob das jedoch alles richtig ist, dazu kann ich die Indianer nicht mehr befragen. Ich kann Géza fragen, weil er noch am Leben ist – aber ich kann die andere Seite nicht mehr dazu befragen, etwa die Bayerwäldler, die die Ungarn damals am Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt haben und von denen der Großteil heute nicht mehr lebt. Viele wollen auch nicht darüber sprechen.“
Funkes Mission ist die Aufarbeitung der Geschichte – soweit dies im Rahmen des Möglichen liegt. Sie erfordert viel Zeit. Zeit, die er unentgeltlich investiert. „Ich mach es kostenlos, aber nicht gratis, denn ich bekomme vieles zurück von den Menschen, die ich bei meinen Recherchen kennenlerne.“ Derzeit hat er mehrere Projekte am Start, schreibt dazu E-Mails an verschiedene Stellen, von denen er glaubt, dass sie ihm weiterhelfen können. Seine Nachforschungen stellt er dabei nicht nur übers Internet an, sondern auch Besuche vor Ort. „Ich muss selbst sehen, wie es etwa in Freyung, Grafenau, Neudorf oder Pocking heute aussieht, was noch erhalten geblieben ist, was umgebaut wurde. Das ist wichtig.“
So kann er sich in eine Geschichte „hinein graben“ – und manchmal stellt sich heraus, dass er mehr weiß als ein Suchdienst oder ein Archiv, an die er sich zuvor gewandt hatte. „Oftmals brauche ich nur die Bestätigung, ob das wirklich so war oder nicht – häufig bekomme ich aber auch keine Antwort“, erzählt der gelernte Fernmeldetechniker, der im ungarischen Miskolc nach dem Fall des Eisernen Vorhangs an der Universität die elektronische Bibliothek mit aufgebaut hat und so erste Einblicke in die Forschungsarbeit erlangte.
„Die unendliche Geschichte“
So hat sich Attila Funke im Laufe der Jahre zu einem Experten auf dem Gebiet der ungarischen Geschichte entwickelt. Mit seinem Wissen konnte er bereits so manchem weiterhelfen, der etwa auf der Suche nach dem Grab seines verstorbenen Großvaters war.
Danach gefragt, ob er sich mit Géza Somogyváry demnächst auch im wahren Leben einmal treffen möchte, winkt Attila Funke lächelnd ab. „Schwierig“, sagt er – und schiebt die Begründung gleich hinterher: Denn zum einen sei er aufgrund einer schweren Erkrankung immer noch berufsunfähig und somit körperlich nicht fit genug, zum anderen kündigen sich immer dann, wenn er in die ungarische Heimat fährt, viele Besuchstermine an. „Ich würde mich gerne mit ihm treffen, aber das würde wohl zur unendlichen Geschichte führen“, sagt er in Anspielung darauf, dass sich die beiden sehr viel zu erzählen hätten…
Stephan Hörhammer