Freyung/Budapest. Nachdem der ungarische Soldatenschüler Géza Somogyváry mit seinen Kameraden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs vor der Roten Armee zunächst über Österreich und Böhmen nach Bayern flüchtete, landete der damals 14-Jährige schließlich in Neudorf bei Grafenau. Dort kam seine Einheit in amerikanische Gefangenschaft, wenig später wurde sie wieder freigelassen. Ihr Weg führte sie erneut nach Neudorf sowie nach Waldhäuser, worüber Géza Somogyváry nun im vierten Teil seiner Odyssee berichtet…
Dieses Video zeigt die ungarischen Soldatenschüler auf ihrem Weg durch den Bayerwald:
Neudorf, Grotting, Waldhäuser – ab dem 30. Mai 1945 bestimmten diese drei Orte mein Leben. Sobald wir nach der kurzen Gefangenschaft durch das US-Militär nach Neudorf bei Grafenau zurückgekehrt waren, nahmen wir dort unsere Zuordnung wieder auf. Die Dorfbewohner glaubten, dass wir nicht zurückkehren würden, und behandelten daher all unsere Besitztümer als ihre eigenen.
Zur Arbeit bei Familie Angerer in Grotting
Die Nahrungsmittel, die wir zurückgelassen hatten – u.a. Konserven, Nudeln, Zucker, Mehl, Fett und Öl – fanden wir in der Schule wieder, wo wir untergebracht waren, bevor die Amerikaner kamen. Wir haben dort unser eigenes Abendessen zubereitet, die Köche leisteten ganze Arbeit: Es gab Nudeln mit Mohn. Mein Freund Karsay und ich blieben bei den jüngeren Soldatenschülern in der Schule, wo wir auf frischem Stroh schliefen, während meine älteren Kameraden in ihre frühere Unterkunft zurückkehrten. Sie lebten bei einem reichen Bauern, nicht bei einer armen Haushälterin.
Wir hatten kein Geld mehr zum Füttern der Pferde, unsere „Zigarettenbank“ – damals, nach dem Krieg, als das Geld nichts mehr wert war, dienten Zigaretten als Ersatzwährung – war leer. 16 jüngere Soldatenschüler rissen zunächst jeden Tag das Gras im Straßengraben heraus, um es an die Pferde zu verfüttern. Dann haben wir angefangen sie wegzugeben, um vom Erlös des einen Pferdes die restlichen mit (gekauftem) Hafer zu versorgen.
Dann machten wir uns auf die Suche nach Arbeit. Ich kam auf dem Hof von Christian Angerer in Grotting unter, unweit von Neudorf. Ich habe dort vom 6. Juni bis 18. August 1945 gearbeitet, habe zum Beispiel die Scheune gereinigt oder das geschnittene Gras auf dem Feld gewendet. Ausgenutzt hat mich Familie Angerer nicht, im Gegenteil: Sie hatten eher Mitleid und gaben mir zu essen: morgens Suppe mit Brot, mittags Räucherfleisch, abends Brot mit Butterquark. Ich habe das bekommen, was sie gegessen haben.
Die Eheleute Angerer hatten zwei Söhne und zwei Töchter, Anna und Therese. Die Söhne Josef und Mathias waren bis zu jenem Zeitpunkt nicht nach Hause zurückgekehrt. Der Hofbesitzer war jedoch erfreut darüber, dass er zu Beginn des Jahres ’45 von ihnen ein Lebenszeichen erhalten hatte. Soweit ich mich erinnern kann, war Josef, der ältere der beiden Brüder, Unteroffizier. Der jüngere Sohn, Mathias, war im Arbeitseinsatz bei der Organisation Todt und ist im August ’45 zurückgekehrt.
(Eine Darstellung, die der Version von Matthias Angerer, dem heute auf dem Grottinger Hof lebenden Sohn von Mathias Angerer, widerspricht. Dieser teilt auf Hog’n-Nachfrage mit, dass sein Vater Ende März ’45 im Rheinland von den Amerikanern gefangen genommen und kurz darauf an die Franzosen ausgeliefert worden sei; Matthias Angerer zufolge war sein Vater bis 1947 in französischer Gefangenschaft. Möglicherweise handelte es sich bei dem von Géza Somogyváry damals im August ’45 beschriebenen Rückkehrer doch nicht um Matthias Angerer, sondern um dessen Cousin Anton oder Josef.)
1997 begab ich mich auf eine Wanderung durch Grafenau und sah eine Reihe von Tafeln an einer kleinen Gedenkstätte bei einer Kirche: ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen von Grafenau. Auf den Tafeln entdeckte ich in großer Trauer, dass die beiden Söhne gegen Kriegsende gefallen waren.
Unterricht in Waldhäuser
Im August mussten alle Soldatenschüler die Schule in Neudorf verlassen. Uns wurde das „Jugend-Skiheim“ in Waldhäuser zugewiesen. Es handelte sich um ein komfortabel eingerichtetes Gebäude mit einer großen Küche, einem Esszimmer und einem Wohnzimmer. Die vier Schlafsäle waren für jeweils 20 Personen ausgelegt.
(Wie Recherchen des Onlinemagazins da Hog’n ergaben, handelte es sich bei dem Gebäude, das erstmals in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erwähnt worden sein soll, mit ziemlicher Sicherheit um das Haus, in dem heute die Jugendherberge Waldhäuser untergebracht ist. Der Kunstmaler Reinhold Koeppel hatte es 1908 erworben – zuvor diente es als Schulhaus. 1932 verkaufte er es weiter an das Jugendherbergswerk. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs wurde es zweckentfremdet, wie es heißt – Quellen zufolge sollen dort auch Flüchtlinge untergebracht worden sein.)
Übrigens: Bereits im Juni 1945 wurde in Deggendorf ein Register über die Standorte aller ungarischen Einheiten eingerichtet. Auch unsere Einheit war von Anfang an in diesem Katalog verzeichnet. Vertriebene und ausgewanderte Eltern, insbesondere Soldaten, entdeckten dadurch bald ihre Kinder – und fanden so wieder zusammen.
Als wir nach Waldhäuser kamen, waren wir nur noch 45 von einst 92 Soldatenschülern. Es gab eine Zusammenkunft, bei der wir über unser Schicksal diskutierten. Die einhellige Meinung war: Wenn wir schon nicht nach Hause konnten, organisierten wir unsere Ausbildung eben auf eigene Faust. Es fanden sich zwei Lehrer in einem Flüchtlingslager: einer war Geschichtslehrer, der andere unterrichtete uns in Physik, Mathematik und Chemie. Am 5. September begann der Vormittagsunterricht. Am Nachmittag gingen wir in den Wald, um Bäume zu fällen. Bis zur kalten Jahreszeit würden wir genügend Heizmaterial gesammelt haben. Wir kauften eine Kuh für die Milch, getrocknete Waldpilze standen ebenso auf unserem Speiseplan. Der Winter konnte kommen.
Im Oktober nach Passau
Doch plötzlich erreichte uns die Nachricht, dass wir von Passau aus die Heimreise antreten konnten. Von da an wussten wir, dass wir in der Heimat keine Soldatenschüler mehr sein würden. Im Oktober sollten wir nach Passau kommen, um von da aus nach Hause zurückzukehren.
da Hog’n