Freyung/Budapest. Es ist die Geschichte eines 14-Jährigen, der am Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinen Mitschülern der „Magyar Királyi Hunyadi Mátyás Honvéd Reáliskola“ (König-Matthias-Militärrealschule) vom ungarischen Kőszeg aus vor der Roten Armee flüchtet – und schließlich im Bayerischen Wald landet. Es ist die Geschichte von Géza Somogyváry, der – wie so viele Menschen – in den Irrungen und Wirrungen des Krieges eine wahre Odyssee durchlebt.
Géza Somogyváry ist heute 89 Jahre alt und lebt in der Nähe von Budapest. Im ersten Teil seines Erlebnisberichts hat er von der Struktur der Soldatenrealschule erzählt und darüber, wie sich sein Leben nach Kriegsende entwickelte. Der zweite Teil handelt davon, wie er und seine Kameraden mit dem Zug von Kőszeg über Eger (Cheb) nach Horn im östlichen Waldviertel (Niederösterreich) gebracht wurden. Nun, im dritten Teil, schildert Géza Somogyváry den langen Marsch von Horn nach Krumau, von wo aus er und seine Truppe über die Grenze bei Philippsreut den Bayerischen Wald erreichte. Hier kamen die Ungarn unter anderem in Neudorf unter, bevor sie von den herannahenden Amerikanern gefangen genommen und nach Grafenau und Freyung verbracht wurden…
„Der Himmel war hell erleuchtet“
Am 12. April stand unsere Truppe zum Abmarsch aus dem Lager „Kirchenholz“ bei Horn in Niederösterreich bereit. Mehr als 300 Kilometer Fußmarsch bis Deggendorf lagen vor uns. Der evangelische Pastor Zoltán Balikó begleitete uns. Der Weg führte zunächst über Gmünd an der österreichisch-tschechischen Grenze durch das Protektorat Böhmen und Mähren, bis wir schließlich in der Nähe von Krumau im Sudetenland ankamen. Doch wir mussten die Stadt aufgrund der dortigen Kampfhandlungen umgehen – und nahmen einen Umweg von 38 Kilometern in Kauf. Wir schliefen in jener Nacht nicht besonders viel. Es flogen Bomben. Der Himmel war hell erleuchtet wie bei einem Feuerwerk. Es war furchtbar.
Am 18. April schafften wir nur 15 Kilometer – dieser Abschnitt war einer der anstrengendsten, da es steil bergauf und bergab ging. Wir mussten die Pferde am Hang unterstützen, um die Wagen, auf denen wir unser Material transportierten, voranzubringen. Am 19. April waren wir nahe Otterstift und Hintring unterwegs. Hier haben wir von Pastor Balikó erfahren, dass die Dorfbewohner nicht wussten, dass wir kommen. Brot wurde immer im jeweiligen Ankunftsort gekauft: Es gab überall deutsche Brotwürfel. Die Kruste war mit Kleie bestreut – es sah aus, als wäre es Sägemehl. Die erste und zweite Klasse waren in Häusern untergebracht, wir, die Schüler der dritten und vierten Klasse, schliefen im Heuhaufen.
Am 20. April ging es für uns von Hintring nach Strázny: Wir haben in der Schule übernachtet, auf frischem Stroh. 21. April: Wir marschierten von Strázny aus bei Philippsreut über die Grenze und kamen schließlich in Linden bei Freyung an, wo wir in Hütten übernachteten. Wir sind an diesem Tag ungefähr 25 Kilometer gegangen. Sonntag, 22. April: Wir ruhten uns aus und blieben in unserer Unterkunft. Am 23. April marschierten wir von Linden aus über Bierhütte, Hohenau, Saldenau und Kapfham nach Neudorf. In Kapfham machten wir am Rande des Dorfes an einem Gasthof Halt. Wir baten um etwas Apfelsaft, den man uns aushändigte und für den wir nichts bezahlen mussten.
In Neudorf wurden wir dann in Häusern untergebracht. Die Schule stand gegenüber. Wir wohnten bei einer sehr armen Frau, deren Mann gefallen war. Sie war Putzfrau im Grafenauer Rathaus. Wir kannten den Grund zwar noch nicht, vermuteten aber, dass wir am nächsten Tag nicht weitermarschieren würden.
Als wir in Grafenau angekommen waren, staunten wir nicht schlecht
Mittwoch, 25. April. Wir hatten bereits erfahren, dass die Amerikaner kommen. Gegen Mittag begann ein Flugzeug wie ein Storch über uns zu kreisen. Wir standen gerade an, um das Mittagessen entgegen zu nehmen, als drei deutsche Soldaten aus Grafenau herbei eilten: Ein Unteroffizier und zwei Burschen (vielleicht zwei Jahre älter als ich) in Wehrmachtsuniform. Einer von ihnen schleppte das berüchtigte Maschinengewehr MG 42 mit sich. Der andere trug zwei Kisten Munition. Sie wären fast eingeschlafen, so übermüdet waren sie. Der Bürgermeister von Neudorf sprach eine Viertelstunde mit ihnen – und eilte dann davon.
Am Nachmittag brach ein gewaltiger Donner aus – und da kamen sie mit drei Panzern angerollt. Währenddessen flog das Flugzeug über uns hinweg. Am anderen Ende von Neudorf hielten die drei Panzer schließlich an – und das unverwechselbare Geräusch des MG 42-Maschinengewehrs war zu hören. Die Panzer reagierten mit Gegenwehr und schossen ebenfalls. Dann schwiegen die Waffen wieder. Die Panzer rumpelten weiter und die Infanterie traf mit gewaltigem Getöse ein – Jeeps und einen unglaublichen Vorrat an Waffen im Schlepptau. Nach etwa einer halben Stunde bemerkte ich, dass sich meine Kameraden auf dem Schulhof versammelten. Niemand hatte uns Bescheid gegeben.
Wir packten unsere Ausrüstung schnell zusammen. Und da ich meine Mütze nicht finden konnte, stellte ich mich mit bloßem Kopf im Hof auf (die Mütze war in meinem Rucksack). Vorne stand unser Sergeant Thon. Wir machten uns auf den Weg nach Grafenau. Auf einem Jeep war eine Filmkamera installiert, die unseren Marsch festhielt. Als wir in Grafenau angekommen waren, staunten wir nicht schlecht: Wir bekamen im Boden vergrabene Flugabwehrraketen zu sehen. Es gab beheizte Zelte auf dem Feld. Es sah so aus, als wären die Amerikaner schon seit Jahren dort gewesen. Sie brachten uns in den Hof einer Schule, wohin unsere Offiziere, unsere Stellvertreter und die 20 ungarischen Soldaten, die die Karren schoben, von uns begleitet wurden.
Und wir starrten genauso wie sie
Nach einer Weile kam ein amerikanischer Offizier und beorderte uns in zwei Klassenzimmer. Sogar von der Toilette aus konnten wir ungarische und deutsche Soldaten sehen, die sich in Lastwagen zwängten und weggebracht wurden. Zwei meiner Kameraden gingen zu den Schülern des ersten und zweiten Jahrgangs und verteilten die Betten. Abendessen hatten wir keins bekommen. Wir haben uns im Flur die Zähne geputzt. Dass wir auf dem Boden schlafen mussten, war nichts Ungewöhnliches. Doch vor dem Schlafengehen hatten wir noch eine interessante Begegnung: Die Amerikaner brachten Diplomaten und Soldaten der japanischen Botschaft in Berlin herein – sie starrten uns genauso an wie wir sie.
Die Japaner wurden ebenfalls auf einen Lastwagen verladen und nachts weggebracht. Am Abend hatten wir eigentlich noch mit einem Luftangriff gerechnet – jedoch waren die deutschen Flugzeuge in solch einen „Feuervorhang“ geflogen, dass sie wohl doch lieber umkehrten. Wir packten zusammen und gingen weiter. So kamen wir aus der Grafenauer Gefangenschaft zurück nach Neudorf. Wir mussten unser Überleben von nun an selbst organisieren: Wir wurden zu Küchenhilfen und Köchen oder zu Heusammlern für die Pferde – mein Freund Karsay und ich blieben Gruppenleiter.
Am Morgen des 29. April hielten zwei Kettenfahrzeuge auf der Straße an, die amerikanische Militärpolizei stieg aus und begann mit dem Bürgermeister von Neudorf zu sprechen. Dann wurden wir abgeholt und nach Freyung gebracht. Auf dem Weg dorthin kamen wir in Kapfham an jenem Gasthof vorbei, wo wir noch vor einigen Tagen etwas zu trinken bekamen – er war komplett zerstört. Als wir in Freyung angekommen waren, machten sie formelle Übungen mit uns. Die Amerikaner verhörten zwei meiner Kameraden, Karsay und den „kleinen Wolf“, und suchten ständig nach einer Waffe. Doch die beiden sagten, dass sie keine Waffen bei sich hätten. Dabei wurden sie auch gefilmt.
„Die Ungarn sind wieder da“
Am nächsten Tag wurden wir auf zwei GMC-Trucks verladen und nach Cham gebracht. Wir landeten auf einer Wiese, die von Stacheldraht umgeben war. Ungefähr 200.000 Menschen standen auf dem durchnässten, schlammigen Boden. Es fiel kalter Regen, manchmal sogar etwas Schnee. Nach etwa vier Stunden wurde uns erneut befohlen in den Lastwagen zu steigen. Wir sollten in ein Dorf namens Langen gebracht werden.
Wir wurden von den Amerikanern auf dem Dachboden einer Schule untergebracht, bekamen zu essen und einen Vorrat an Lebensmitteln. Es gab Frühstück, Abendessen und Lunch-Pakete, in denen sich Zigaretten, Konserven und Kekse befanden. Wir haben vier Tage dort verbracht. Am Ende bekamen eine DP-Karte (Displaced Person) ausgehändigt – und sie ließen uns frei.
Nach einem kurzen Aufenthalt in einem weiteren Lager brachen wir wieder nach Neudorf auf. Die Amerikaner, die auf der Straße mit ihren Fahrzeugen an uns vorbeirollten, belächelten unsere kleine Truppe. Zwei Lastwagen brachten uns schließlich zurück nach Neudorf. „Die Ungarn sind wieder da“, hieß es im ganzen Dorf.
Es gab dort mittlerweile eine Geflüchtete aus Schlesien, die mit einer Pistole auf amerikanische Konvois schoss. Der Bürgermeister wollte uns dafür die Schuld in die Schuhe schieben. Doch am Ende fand man doch heraus, dass es die Frau war. Sie wurde festgenommen – ebenso der Bürgermeister. Sie wurden fortgebracht – was mit ihnen passierte, wussten wir nicht. Wir schrieben den 29. Mai 1945.
da Hog’n
Aufruf: Wer von unseren Lesern aus dem Raum Freyung, Hohenau, Neudorf und Grafenau hat noch Großeltern, die sich möglicherweise an die ungarischen Soldatenschüler erinnern können? Oder gibt es sogar noch altes Fotomaterial von damals? Wer kennt die Frau aus Neudorf, die das Grafenauer Rathaus geputzt hat? Von welchem Wirtshaus in Kapfham könnte die Rede sein? Wer etwas in Erfahrung bringen kann, darf sich gerne per Telefon unter der 08550-9217214 bzw. per Mail an info@hogn.de melden.