Freyung/Budapest. „Somogyváry Géza, Kindersoldat, heute 89 Jahre alt.“ Nur zwei Tage nach Veröffentlichung des Artikels „Als einst Kindersoldaten durchs Lang-Bräu-Tor marschierten“ erreichte die Hog’n-Redaktion Anfang Februar eine Nachricht aus Ungarn, die sich aus jenen sechs Wörtern und einer Zahl zusammensetzte. Dazu eine Email-Adresse. Der Absender: ein Bekannter von dem einstigen Kindersoldaten, dessen Vorname Géza und dessen Familienname Somogyváry lautet – und der vor rund 75 Jahren mit seinen ungarischen Kameraden von der „Royal Hungarian High School“ im Innenhof der Freyunger Brauerei Lang strandete. Filmaufnahmen der Video- und Bilddatenbank „Critical Past“ (zu deutsch: „Kritische Vergangenheit“) dokumentieren dies.
„Ja, ich war am 29. April 1945 in Freyung in einer Bierbrauerei“, antwortet Géza Somogyváry, nachdem wir ihn per Email kontaktiert hatten, und ergänzt sogleich: „Wenn Sie den ganzen Film haben, können Sie mich in einer Szene ganz am Anfang sehen, als sich ein amerikanischer Soldat in die Kamera beugt – und direkt danach sieht man einen Kumpel von mir und mich selbst, als ich ein Stück Brot lächelnd esse. Wir haben erst nach einem Tag Essen bekommen.“
„Ich kann gerne über unsere deutsche Reise berichten“
Wir wollen mehr wissen, wollen herausfinden, was sich in jenen Tagen in Freyung abgespielt hat, wie Géza und seine Kinder-Kameraden in den Bayerischen Wald gelangt sind und wie es danach für sie weiterging. Wir möchten in Erfahrung bringen, wie sich sein Leben nach dem Krieg entwickelte und wie er heute in Ungarn lebt. Ob er seit 1945 nochmals in Freyung gewesen ist – und ob er heute noch Kontakt zu seinen ehemaligen Leidensgenossen hat. Wir möchten von ihm wissen, wie er an die Zeit im Zweiten Weltkrieg zurückdenkt. „Leider, nach 75 Jahren kann ich die deutsche Sprache nur verstehen, aber nicht reden. Falls ich auch auf Ungarisch schreiben kann, dann könnte ich gerne über unsere deutsche Reise ausführlicher berichten“, teilt er uns mit.
Wir willigen ein – und machen uns auf die Suche nach Menschen, die uns bei der Übersetzung helfen. Dabei herausgekommen ist eine mehrteilige Dokumentation über die „deutsche Odyssee“, wie Somogyváry das Erlebte im Rückblick bezeichnet. Im ersten Teil stellt sich der 89-Jährige vor, geht auf seine Biografie ein und schildert „die ungarische Erziehung der Soldaten“.
„1941, im Herbst, bin ich Soldatenschüler geworden“
Wie so viele Ungarn bin ich ursprünglich Deutscher. Ein früherer Verwandter von mir kam 1685 nach Ungarn, als dieser an den Hof der Burg von Buda als Schreiber der Reitsportmannschaft berufen wurde. Er verletzte sich schwer, als er einmal an der Donau entlang ritt. Ein Fischer nahm ihn daraufhin unter seine Fittiche. Dieser hatte eine Tochter – und ich glaube, mehr muss ich dazu nicht schreiben. Und so geschah es, dass im Laufe vieler Jahrhunderte sowie insbesondere in den 1920er Jahren aus der Familie Freissperger die Familie Somogyváry wurde.
Ich bin 1931 geboren. 1941, im Herbst, bin ich Soldatenschüler geworden. Nach meiner Rückkehr 1946, also im Alter von 15 Jahren, habe ich mich für das Gymnasium eingeschrieben – jedoch wurde ich kurz vor dem Abschluss verhaftet und für sechs Monate in ein Lager gesperrt. Der Grund: Ich hatte die amerikanischen Botschaftsbibliothek betreten. Sie hatten mir Spionage unterstellt. Und so wurde ich zunächst Hilfsarbeiter und anschließend Mechaniker. 1953 habe ich geheiratet. Von der Geburt meines Sohnes habe ich erfahren, als mich ein Polizist nach meinem Namen fragte. Und als ich mit „Somogyváry“ antwortete, meinte dieser nur: „Gut, der kleine Faschist ist zur Welt gekommen.“
1956 wurde mir eine Strafminderung zugesprochen – und ich konnte daraufhin, mit 25, die letzte Klasse des Gymnasiums besuchen. Es gelang mir sogar die Schule abzuschließen und das Abitur zu machen. Das ist deshalb so großartig, weil sie mich nur eine Woche nach dem Abschluss erneut verhafteten Ein ganzes Jahr lang hatten sie mich wieder in Gewahrsam genommen. Trotzdem wurde ich Mitglied in der Nationalen Revolutionskommission im XX. Bezirk von Budapest.
Nach meiner Freilassung arbeitete ich wieder als Mechaniker. 1965 wollte ich mich an der Universität bewerben, wo ich jedoch aus Platzgründen nicht zugelassen worden bin. Ich wurde vielmehr einer anderen Hochschule zugewiesen, an der man mich zum Anlagentechniker ausgebildet hat. Ich habe dort 1969 meinen Abschluss gemacht und von da an als IT-Spezialist gearbeitet – bis zu meinem 82. Lebensjahr. Ich bin 1990 in den Vorstand eines Software-Unternehmens aufgenommen worden. Ich habe mehrere Fachbücher geschrieben. Dort, wo ich heute lebe, bin ich zum Ehrenbürger ernannt worden. So viel zu meiner Geschichte.
Die Soldatenschule
Zu jener Zeit, als ich Anfang der 1940er-Jahre die „Magyar Királyi Hunyadi Mátyás Honvéd Reáliskola és Nevelőintézet“ (ungarische König-Matthias-Soldatenrealschule und Internat, im Video von den Amerikanern als „Royal Hungarian High School“ bezeichnet) an der österreichisch-ungarischen Grenze in Kőszeg besuchte, um dort zum Soldaten ausgebildet zu werden, war das ungarische Schulsystem nach deutschem Vorbild in eine vierjährige Grundschule und eine achtjährige Oberschule unterteilt. Diejenigen, die die Schule in Kőszeg regulär absolvierten, hatten im Anschluss auf die höhere Soldatenschule, die 1836 in Budapest erbaute königlich-ungarische Verteidigungsakademie Ludovika, gehen können. Die Militär-Hochschule war bis 1918 eine Schule für die kaiserlich-österreichische Armee. Danach übernahm sie die königlich-ungarische Armee.
Es gab in Kőszeg die Möglichkeit eine Ausbildung zum Militäroffizier zu absolvieren, bei der die achtjährige Schulzeit unterteilt wurde in eine Unterrealschule und eine Kadettenschule. In den ersten vier Klassen der Unterrealschule, die auch ich damals zur Kriegszeit besuchte, stand die militärische Ausbildung noch nicht so sehr im Vordergrund. Diese beschränkte sich auf den Formaldienst. Wir mussten uns insbesondere an Disziplin und Gehorsam gewöhnen. In der Schule herrschte eine harte, militärische Hierarchie. Der Zehnjährige musste etwa den Elfjährigen siezen.
Von der fünften bis zur achten Klasse besuchten die Schüler dann die sogenannte Kadettenschule, in der sie nach unterschiedlichen Truppengattungen aufgeteilt waren. Die jeweils besten Schüler eines Jahrgangs gingen im Anschluss für drei Jahre auf die Ludovika, die sie im Rang eines Leutnants verließen. Diejenigen, die nicht zur Akademie gingen, erhielten eine einjährige Offizersausbildung und wurden dann entweder als Feldwebel oder Fähnrich eingesetzt. Nach zwei Jahren stiegen auch sie in den Rang eines Leutnants auf.
da Hog’n
Im zweiten Teil unserer Serie über den ungarischen Kindersoldaten Géza Somogyváry schildert dieser den Weg seiner Einheit von Kőszeg (zu deutsch: Güns) an der ungarisch-österreichischen Grenze über Cheb (Eger) an der bayerisch-tschechischen Grenze nach Horn im östlichen Waldviertel in Niederösterreich.