Ludwigsthal/Neuschönau. Gerade erst hat nach mehr als 150 Jahren das erste, wild lebende Wolfsrudel wieder Revier in Bayern bezogen. Eine Rückkehr, die prompt von der Forderung nach einer Lockerung des Schutzes für diese Tiere begleitet wurde, um Schäden für Viehhalter abzuwenden. Während die zuständigen Behörden diesen Forderungen bislang Stand halten, sieht es für die sechs Ende vergangener Woche aus dem Gehege des Nationalparks Bayerischer Wald entkommenen Wölfe anders aus: Die Nationalparkverwaltung hat sie zum Abschuss freigegeben, zwei Tiere wurden bereits geschossen – zur Empörung vieler in der Region. Wir haben mit dem Wolfsexperten Peter Blanché, Vorsitzender der Gesellschaft zum Schutz der Wölfe, über die Hintergründe für diese Entscheidung gesprochen.
Herr Blanché: Warum besteht der Nationalpark Bayerischer Wald einerseits auf dem weitgehenden Abschussverbot für wild lebende Wölfe, entscheidet sich aber andererseits so schnell für einen Abschuss der entlaufenen Gehegewölfe?
Es scheint mir die einzig richtige Entscheidung zu sein. Für die Nationalparkverwaltung muss die Sicherheit der Menschen an allererster Stelle stehen – auch wenn das heißt, dass Wölfe getötet werden müssen. Denn Gehegewölfe haben die Wölfen natürlicherweise eigene Vorsicht gegenüber Menschen nie erlernt.
„Genau diese Gefahr haben wir jetzt bei den Gehegewölfen“
In natürlicher Umgebung schätzen Wölfe wie alle Wildtiere immer ab, ob eine Situation für sie Gefahr bringen könnte. Das ist auch lebensnotwendig, denn Verletzungen haben gerade bei ‚Raubtieren‘ zur Folge, dass sie nicht jagen können und damit im Extremfall den Hungertod sterben.
Wenn ihnen das Beutetier stark und wehrhaft erscheint, ist ihnen das Risiko zu groß – und sie suchen ein schwächeres, bei dem die Verletzungsgefahr geringer ist. Der Mensch ist für wild lebende Wölfe wegen seines andersartigen Aussehens, sprich des aufrechten Gangs, erstmal keine Beute. Er ist den Wölfen sogar generell suspekt, was durch die Jahrhunderte währende intensive Verfolgung sicher zusätzlich gefördert wurde. Deshalb gehen Wölfe den Menschen in der Regel aus dem Weg.
Gehegewölfe mussten dagegen beim Nahrungserwerb nie Gefahren abwägen. Sie bekommen ihr Futter vom Menschen. Dadurch hat sich diese bei wilden Wölfen ‚Scheu‘ genannte Vorsicht zwangsläufig stark reduziert. Gehegewölfe leben in einer Umgebung, in der überall Menschen sind und alles Gute, sprich Futter, von Menschen kommt. Diese Gewöhnung ist genau das, was man bei Wölfen in freier Wildbahn schon im Ansatz sehr fürchtet. Einer der wichtigsten Grundsätze ist deshalb, dass Wölfe Menschen nicht als Futterquelle kennenlernen dürfen. Dadurch würden sie den Menschen so nahe kommen, dass Unfälle nicht auszuschließen sind. Genau diese Gefahr haben wir jetzt bei den Gehegewölfen.
„Ein Abschuss erscheint daher leider unvermeidlich“
In Medienberichten ist sogar zu lesen, dass einer der Wölfe einem Mann und seinem Jungen einige Meter gefolgt ist. Wie lässt sich ein solches, aufdringliches Verhalten erklären?
Im Gehege gibt es nicht nur die routinemäßige Fütterung durch das Pflegepersonal, sondern zusätzlich unkontrollierte Futtergaben durch Besucher. Man kann ganze Schulklassen beobachten, die trotz Ermahnung des Personals die Wölfe mit ihren Pausenbroten anlocken und sich freuen, wenn die ‚wilden Tiere‘ so brav herankommen.
Wenn jetzt aber solche Wölfe aus ihrem Gehege ausbrechen, wird diese Gewöhnung an Menschen und speziell Kinder als Futterquelle sehr schnell zum Problem. Sie haben keine Routine beim Jagen von Beutetieren und zusätzlich wenig Respekt vor den Menschen. Auch wenn sie bei der Jagd dazulernen, würden sie sich häufig in Ortsnähe herumtreiben und Haustiere wie Hühner, Schafe und auch Hunde und Katzen jagen. Die möglicherweise durch die Fütterung von Pausenbroten erworbene ‚Sympathie‘ für Schulkinder kann auch hier zu Unfällen führen, wenn kein Zaun zwischen den Kindern und bettelnden Wölfen ist.
Dennoch: Ist die Entscheidung für den Abschuss nicht doch eine Nummer zu hart?
Der Betreiber eines Wolfsgeheges ist für seine Tiere, auch wenn sie ausgebrochen sind, verantwortlich und haftet für sie. Er kann das Risiko, dass Menschen zu Schaden kommen, nicht zulassen. Gehegewölfe, die nicht nach kurzer Zeit wieder in ihr Gehege zurückgebracht werden konnten, sind in der Vergangenheit deshalb immer getötet worden. Das löst heftige Proteste aus.
Es erfreut sicher niemanden, ganz sicher auch die Verantwortlichen nicht. Für sie hat es absolute Priorität, die Tiere lebend zu fangen: Dazu haben sie Unterstützung aus den Nationalparks Šumava und Berchtesgaden organisiert, Lebendfallen ausgebracht. Außerdem sind permanent Streifen mit Narkosegewehren im Einsatz. Der Einsatz von Lebendfallen und Narkosgewehren ist jedoch extrem schwierig. Schon geringste Windgeschwindigkeiten machen einen Treffer mit dem Narkosegewehr beispielsweise nahezu unmöglich. Ein Abschuss erscheint daher leider unvermeidlich.
„Nachweisen kann den vorgetäuschten Irrtum freilich niemand“
Was bedeutet das alles für das erste wilde Wolfsrudel in Bayern? Fürchten Sie, dass sie mit den Tieren aus dem Gehege verwechselt werden?
Würde nichts gegen die Gehegewölfe unternommen, würden Probleme, die durch sie entstehen, den wilden Wölfen zugeschrieben. Die ohnehin geringe Akzeptanz für ein Wolfsvorkommen in Bayern würde damit zusätzlich belastet. Es wäre auch nach kurzer Zeit schon sehr schwierig, die wirklich wilden Wölfe von ihren Kollegen aus dem Gehege zu unterscheiden, so dass ein Abschuss zunehmend problematischer würde.
Wenn man dabei eines der Elterntiere des Rudels tötet, wird das ganze Rudel zerstört, und die Jungtiere können meist nicht überleben. Nachdem Wolfsgegner in der Region immer wieder halböffentlich geäußert haben, sie würden Wölfe bedenkenlos ‚abknallen‘, muss auch befürchtet werden, dass die Gehegewölfe als ‚Alibi‘ verwendet werden. Es würde möglicherweise ein wilder Wolf aus dem Rudel getötet und dann behauptet, man habe geglaubt, es sei ein Gehegewolf. Der habe sich aggressiv genähert, so dass es Notwehr gewesen sei. Nachweisen kann den vorgetäuschten Irrtum dann freilich niemand.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Blanché.
da Hog’n/Wiebke Bomas
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