(ACHTUNG: Folgender Zeitzeugen-Artikel enthält teils Textpassagen und Bildmaterial mit gewalttätigen Inhalten)
Neuschönau/Raqqa. „Ich hatte beinahe vergessen, dass ich ein menschliches Wesen bin.“ Die Geschichte von Mohammed R. gleicht dem Schicksal Tausender, die sich in den vergangenen Monaten auf den Weg in eine neue Welt, in ein neues Leben machten. Wie so viele andere hat der junge Mann aus der syrischen Stadt Raqqa in seiner Heimat schier unendliches Leid erfahren. Er geriet in die Fänge des Terrors. Er wurde wochenlang eingesperrt, geschlagen und auf grausame Weise gefoltert. Er hat dem Tod mehrmals ins Auge gesehen – und hat es am Ende doch geschafft, nach Europa zu fliehen.
Nach mehr als 3.000 Kilometern voller Strapazen, Anstrengung und Angst gelangte er schließlich in die Asylunterkunft in Neuschönau im Bayerischen Wald. Dort ist er zum ersten Mal seit Langem wieder zur Ruhe gekommen. Und hat seine Geschichte aufgeschrieben. „Ich hoffe, dass die Menschen hier ihre Meinung über uns Syrer ändern, nachdem sie gelesen haben, was alles in meiner Heimat geschehen ist…“
Das Entsetzen war mir ins Gesicht geschrieben
Ich lebe auf dem Land, in einem Dorf, das zur Stadt Raqqa gehört. Es liegt am Ufer des Euphrat. Die Menschen dort leben ohne Angst, ohne Gefahr und Diskriminierung. Unverdorben. Rein. Alles ist voller Leben. Die Sicherheitslage so gut, dass Touristen aus aller Welt in die alten Städte zu Besuch kommen.
So habe ich meine Heimat gekannt. Meine Heimat, die ihr ganzes Gesicht verändert hatte, als ich von der Universität in Latakia dorthin zurückkehrte. Der Bus fuhr Richtung Zentrum, die Menschen haben gebetet und man konnte sofort die zerstörten Häuser sehen. All die schönen Plätze waren verwüstet – und ich fragte mich nur: Was ist hier passiert?
Ich kam nach Hause. Das Entsetzen war mir ins Gesicht geschrieben. Meine Eltern umarmten mich. Ebenso meine Brüder. Und ich fragte sie, was geschehen war. Sie erzählten mir von den Kämpfen zwischen der Opposition und Truppen des syrischen Regimes. Davon, dass Artillerie und Luftstreitkräfte keine Gnade oder Menschlichkeit gezeigt haben. Davon, dass das Hauptaugenmerk darauf lag, die Opposition ohne Rücksicht auf Zivilisten zu beseitigen. Erst waren alle still. Dann fingen wir an zu weinen. Meine Mutter erklärte mir anschließend, dass sich mittlerweile alles gebessert habe. Dass die Kämpfe aufgehört haben. Dass die Opposition nun die Stadt beherrscht und alles wieder in Ordnung sei.
Am nächsten Tag ging ich in die Stadt, um mir anzusehen, wie sehr sich die Lage dort verändert hat. Überall waren Waffen zu sehen. Jeder trug eine. Manche Gewehre oder Pistolen, manche sogar Bomben. Und es waren nicht nur Angehörige der Opposition, die bewaffnet waren, sondern einfach jeder! Ich erkannte sogleich, dass hier das Gesetz des Dschungels galt. Die Starken fressen die Schwachen. Und so blieb es die ganze Zeit über, in der ich zu Hause war. Es gab keine Morde oder schwere Verbrechen. Lediglich die Diebstähle häuften sich. Das Prinzip: Der Starke mit der Waffe beklaut den Schwachen, der sich oder sein Geld nicht verteidigen kann. Das Leben hier war ansonsten fast „normal“!
Die Straßen waren übersät mit Leichen und Blut…
Ich kehrte zu Beginn des neuen Semesters wieder nach Latakia zurück und hoffte, an der Universität wieder in den Alltag zurückfinden zu können. Auf dem Weg dorthin war ich erstaunt über die vielen Straßensperren der Armee. Der Bus wurde an jeder Absperrung angehalten. Für die Weiterfahrt mussten wir Passagiere Geld einsammeln. In Latakia angekommen – mir war noch nicht klar, dass hier plötzlich der Rassismus Einzug gehalten hatte und die Menschen gegen Studenten aus Raqqa waren –, warfen uns die Soldaten des Regimes böse Blicke zu. Die Einwohner wollten uns nicht länger in der Stadt haben – und uns schon gar keine ihrer Wohnungen nahe der Uni vermieten. Sie wiesen uns ab und verlangten, dass wir wieder nach Raqqa zurückkehren. Ich war jedoch um jeden Preis darauf erpicht, meinen Abschluss zu machen. Also ignorierte ich die Aufforderungen, blieb mit meinen Freunden in Latakia und führte mein Studium fort. Nach dem Semester kehrte ich wieder heim nach Raqqa.
Dort war alles noch so, wie ich es zuletzt verlassen hatte. Es war normal, bewaffnet zu sein – auch für Frauen und Kinder. So ging es einige Zeit weiter, bis ein neuer Krieg begann. Dieser wurde von Terroristen entfacht – oder, wie sie sich selbst nennen: „Mudschaheddin im Namen Allahs„. Im Kampf dieser Terroristen gegen die syrische Opposition, die nur wenige Tage dagegen halten konnte, mussten wir Angst, Hunger und Tod in all seinen Facetten erleiden. Die Straßen waren übersät mit Leichen und Blut. Körperteile lagen überall. Jeder, der sein Haus verließ, wurde entweder durch Scharfschützen oder durch Bomben getötet. Am Ende siegten die Terroristen – und von da an veränderte sich alles in der Stadt.
Die Mudschaheddin haben uns ihre Gesetze auferlegt. Mit ihren schwarzen Gewändern und Masken, bei denen man nur die Augen sehen konnte, und mit ihren Waffen verbreiteten sie Angst und Schrecken. Sie zerstörten eine Kirche, zündeten sie an und machten den Christen auf diese Weise deutlich, dass dies ein Land für Moslems sei – und dass sie eine jährliche Kopfsteuer zu leisten haben, falls sie bleiben möchten. Es begann eine Welle von Morden. Eine Art Säuberung. Jeder, der kein Moslem oder Christ war, wurde ohne Prozess getötet. Häuser wurden gestürmt. Manche wurden mit Gewehren, andere mit Pistolen erschossen. Die meisten jedoch wurden mit Messern umgebracht. Man packte sie an den Haaren und schnitt ihnen ohne Mitleid und Erbarmen die Kehle durch. Überall lagen abgetrennte Köpfe verteilt. Blut, soweit das Auge reichte. Zudem gab es Anweisungen, dass alle bewaffneten Menschen umgebracht werden.
Das Leben wurde bedeutungslos
Nach einigen Tagen beruhigte sich die Situation wieder. Die Terroristen begannen mit der Organisation von allen Lebensbereichen. Von Straßen, Märkten, Bäckereien. Verglichen mit der Opposition hatten die Terroristen alles im Griff. Es gab jetzt keine bewaffneten Zivilisten mehr, keine Diebstähle mehr. Denn jeder Dieb, den sie erwischten, wurde in eine Zelle gesteckt. Anschließend wurde ihm öffentlich die Hand abgehackt. So schürten sie Angst in der Bevölkerung.
Das Gesetz des Dschungels galt nicht mehr. Nun war es das Gesetz des Terrors, zu dessen Grundlagen Unterdrückung und Mord im gesamten Stadtbereich gehörten. Alles wurde einem aufgezwungen. Es gab kein normales Leben mehr, sondern überall Leichen. Am Anfang dachte ich noch, dass sie wieder Sicherheit in die Städte bringen. Aber es kamen Tag für Tag neue Vorschriften hinzu. Männer durften ihre Bärte nicht mehr rasieren, sich die Haare nicht mehr schneiden. Kurze Kleidung war verboten – es mussten lange und weite Gewänder sein. Frauen mussten einen schwarzen Niqab tragen, der – bis auf die Augen – den ganzen Körper verhüllte. Schulen wurden geschlossen. Der öffentliche Konsum von Alkohol und Zigaretten war verboten. Das Leben wurde bedeutungslos.
Die Söhne der Stadt wurden – einer nach dem anderen – getötet. Bei einigen wussten wir nicht wieso. Manche wurden ins Zentrum gezerrt und enthauptet. Wenn einer seine Frau betrog, steckten sie ihn in ein Loch und gruben es zu, bis nur noch der Kopf herausschaute. Dann befahlen sie den Menschen, ihn zu steinigen. Dasselbe geschah mit Frauen, die Ehebruch begingen. Fanden sie einen Homosexuellen, so wurde dieser vom höchsten Gebäude der Stadt geworfen. Wenn ein Mann und eine Frau eine Affäre hatten, wurden sie beide gefesselt ins Zentrum gebracht und mit 80 Peitschenhieben bestraft. Manche starben dabei. Bei Diebstählen – auch wenn es nur um ein Ei ging – hackten sie einem öffentlich die Hand ab. Das war nun unser Alltag. So ging es jeden Tag weiter. Es war alles perfekt organisiert. Die Morde blieben jedoch willkürlich. Sie durften jeden mit dem Tod bedrohen, um zu kriegen, was wie wollten. Wann immer sie wollten. Wir waren mittlerweile an Mord und Tod gewöhnt.
Der Staat kontrolliert das Denken. Ein Terror-Staat.
Mein kleiner Bruder kam eines Tages nach Hause und erzählte uns von seinen tagtäglichen Erlebnissen. Er und seine Freunde fanden einen Schädel neben der Straße und spielten damit. Er berichtete darüber, als wär es das Normalste auf der Welt. Mit nicht einmal zehn Jahren sprach er davon, wie sie mit einem Kopf spielten, den Terroristen einem Mann abgeschlagen hatten. Der Tod war also in unserer Stadt Normalität geworden – auch für Kinder. Und das Morden nahm kein Ende. Wenn ein Terrorist ein Mädchen zur Frau nehmen wollte, griff er sie sich einfach. Sollte ihr Vater mit der Heirat nicht einverstanden sein, kam dieser ins Gefängnis.
Sie vergewaltigten Mädchen, ordneten an, dass keine Frauen mehr die Stadt verlassen dürfen. Es gab viele verschiedene Sanktionen, viele Gründe, jemanden zu töten, ohne jegliches Gesetz. Wer die Terroristen am Morden hindern wollte, wurde selbst – ohne zu zögern – umgebracht. Ungerechtigkeit und Unterdrückung breiteten sich so in der Stadt aus. Sie zerstörten dein Leben, wenn du nicht ihrem Kampf beitreten wolltest. Tausende wurden somit gezwungen, sich ihnen anzuschließen und mit ihnen im Namen des Terrors zu kämpfen. Ihr Ziel war und ist es, einen neuen Staat aufzubauen. Einen Staat ohne Meinungs- oder Redefreiheit. Der Staat kontrolliert das Denken. Ein Terror-Staat.
Eines jener Verbrechen hat mir gezeigt, dass sie weder über den Islam noch über Moslems Bescheid wussten. Sie töteten einen psychisch Kranken, der in den Straßen umher lief und rief: „Ich bin ein Zauberer, ich bin ein Zauberer!“ Die Terroristen ergriffen ihn. Ihr Urteil stand schnell fest. Sie erzählten jedem, dass er übergeschnappt sei; und dass er schon herumgeschrieen habe, bevor sie eintrafen. Niemand hatte das gehört. Sie fuhren also mit ihm ins Zentrum – und köpften ihn. Diese Tat war für viele der Beweis dafür, dass die Terroristen sich zwar an den Islam binden wollten – jedoch keine Moslems waren. Aber was sollten wir dagegen tun? Sie hatten die Waffen. Die Killer. Wir nicht. Wir hatten nur unsere Häuser, in denen man sich nicht mehr sicher fühlten konnte…
Sie fingen an, mich vor meinen Eltern und Brüdern zu schlagen
Ich mochte dieses eine Mädchen aus meinem Nachbardorf. Jedes Mal, wenn ich sie sehen wollte, setzte ich mein Leben aufs Spiel. Ich traf mich immer nachts mit ihr. Zitterte vor Angst am ganzen Körper. Es waren nur wenige Minuten, die uns blieben. Wenige Minuten, in denen uns niemand sehen und an die Terroristen verraten konnte. Immer, wenn ich nach diesen paar Minuten der Freude wieder heimkam, war es für mich, als hätte ich die Terroristen besiegt. Ich kam nach Hause und legte mich schlafen.
Am nächsten Morgen wurde ich durch den Krach an meiner Zimmertür geweckt. Mein kleiner Bruder öffnete sie – und mehr als zehn maskierte, schwarz gekleidete Männer rannten auf mich zu. Sie fragten mich: „Bist du Mohammed?“ Ich sagte: „Ja.“ Daraufhin fingen sie an, mich vor den Augen meiner Eltern und Brüder zu schlagen. Sie schrien Dinge wie „Verräter“ und „Ungläubiger“. Ich hatte keine Ahnung, was und vor allem warum das alles gerade geschah. Sie zerrten mich zu ihrem Auto, das draußen vorm Haus stand. Zwei Typen warteten dort auf mich. Ich musste vortreten. Einer fragte mich nach meinem Handy. „In meinem Zimmer“, sagte ich. Sie gingen ins Haus zurück, durchsuchten alle Räume, stellten alles auf den Kopf und kamen mit meinem Handy und meinem Computer wieder raus.
Bevor sie mir einen schwarzen Sack über den Kopf stülpten, konnte ich noch einmal meiner Mutter in die Augen sehen. Dann fuhren wir weg. Ich war gefesselt und konnte nichts sehen. Sie schrien erneut: „Ungläubiger!“ Sie schlugen mich. Sie schrien „Verräter“ – und schlugen wieder zu. Ich wusste nicht, was los war. Ich versuchte, mit ihnen zu sprechen. Fragte sie, warum sie mich schlagen. Da wurden die Schläge auf meinen Kopf heftiger. Einer schrie, ich solle kein Wort mehr sagen. Ich gab keinen Mucks mehr von mir.
„Wenn du dort lügst, bist du tot“
Nach einiger Zeit hielt der Wagen an. Ich sollte aussteigen. Endlich hörten die Prügel auf. Einer ergriff meine Hand – und zog mich mit. Ich war sehr wackelig auf den Beinen, weil ich noch immer nichts sehen konnte. Wir blieben stehen. Ich hörte das Knarren einer Eisentür und wurde von hinten gestoßen, dass ich auf den Boden fiel. Ich spürte, wie jemand nach meinen Händen griff, die Handschellen öffnete und mir den Sack vom Kopf nahm. Ich musste meinen Kopf am Boden lassen, bis mein Peiniger den Raum verlassen hatte. Als die Tür zuging, schaute ich mich langsam um. Es war eine Zelle. Ich sah eine zweite Person. Einen Mann. An seinem Gesicht konnte man erkennen, dass auch er geschlagen wurde. Sein Körper schien in Ordnung. Ich traute mich nicht, ihn zu fragen, wer er war oder wo wir uns befanden. Ich blieb still, bewegte mich nicht vom Fleck. Den ganzen Tag lang.
Nachts öffnete sich die Tür. Zwei maskierte Männer mit schwarzen Anzügen kamen und fesselten mich wieder. Ebenso verhüllten sie meinen Kopf erneut mit einem Sack. Sie steckten mich wieder in einen Wagen. Ich sagte kein Wort, weil ich nicht wieder geschlagen werden wollte – bis einer meinen Namen rief. Ich dachte erst, ich bilde mir das ein. Dann rief er ihn nochmal. Ich antwortete mit „Ja.“ Die Stimme sagte dann zu mir: „Wir bringen dich jetzt an einen Ort. Wenn du dort lügst, bist du tot. Wenn du dort die Wahrheit sagst, kommst du unversehrt wieder raus.“ Ich fragte ihn, warum sie mich dorthin brachten. Doch er sagte nichts mehr.
Wir hielten nach einigen Stunden an – sie zerrten mich wieder zu einer Metalltür. Machten mir die Fesseln auf. Stießen mich in einen Raum. Nahmen mir den Sack vom Kopf – und verschlossen die Tür. Ich war in einem großen Zimmer, gemeinsam mit mehreren Jungen und Männern. Sie wurden ganz offensichtlich verprügelt. Man sah die Angst in ihren Augen. „Wo sind wir?“, fragte ich. Sie wussten es nicht.
Die Spuren der Folter waren am ganzen Körper zu sehen
Drei Tage war ich in dem Raum. Eine Zelle. Ich konnte nicht schlafen. Es gab keine Betten oder Decken. Die Schreie von Menschen, die misshandelt wurden, durchströmten die Luft. Ich hörte Schreie von Frauen. Die Schreie klangen noch schriller – wegen der Folter. Ich bekam kein Auge zu. Am vierten Tag ging die Tür auf und ein Mann rief meinen Namen. Ich konnte anfangs kaum stehen. Hatte Angst. Aber die Männer neben mir drängten mich, ich solle gehen und herausfinden, warum ich hier war. Also ging ich. Mein Kopf wurde wieder verhüllt. Sie steckten mich in irgendein Zimmer, wo ich mich setzen sollte. Ich konnte noch immer nichts sehen. Jemand fragte mich nach meinem Namen. Ich nannte ihn. Er sagte: „Wenn du hier wieder rauswillst, versuch gar nicht erst zu lügen! Ich will die Namen der Beamten der syrischen Armee, mit denen du zu tun hast.“
Ich wollte anfangen zu erklären, dass ich nichts mit der syrischen Armee zu tun hätte. Da traf mich schon irgendetwas an der Brust. Ich wurde zu Boden geworfen. Konnte kaum atmen. Sie schütteten Wasser über mich. Rissen meinen Kopf an den Haaren nach hinten. Nahmen mir die Haube ab und sagten: „Schau da rechts!“ Ich sah einen alten Mann am Boden. Bewusstlos. Vielleicht tot. Ich wusste es nicht. Die Spuren der Folter waren am ganzen Körper zu sehen. Dann sollte ich nach oben schauen. Ein junger Mann mit den Händen am Rücken hing von der Decke. Einer der Männer gab ihm einen Stoß, dass er herumbaumelte. Er sagte, dass sie mit mir dasselbe machen, wenn ich ihnen nicht die Namen verrate. Ich versicherte, dass ich keine Ahnung hatte, wovon sie sprachen. Sie setzten mir die Haube wieder auf, verprügelten mich überall. Auch am Kopf. Mein Schreien um Hilfe war vergeblich. Ich verlor das Bewusstsein.
Als ich aufwachte, war ich wieder in der großen Zelle. Die anderen Eingesperrten standen um mich herum. Sie halfen mir, mich richtig hinzulegen. Gaben mir Wasser. Einige von ihnen konnten mir jedoch nicht helfen, weil sie sich vor Schmerzen durch die Verhöre und Folter nicht bewegen konnten.
Mit all dieser Folter wünschte man sich allmählich den Tod
In den nächsten zwei Tagen hatte ich mich zumindest körperlich ein wenig erholt. Mental war das unmöglich. Wenn man ständig die Schreie von gefolterten Männern und Frauen zu hören bekam. Dann holten sie mich wieder zur Befragung. Dieselbe Frage nach den syrischen Armee-Beamten. „Ich studiere an der Universität. Ich kümmere mich nicht um Politik und interessiere mich nicht dafür. Ich will nur etwas lernen“, sagte ich. Einer der Männer befahl daraufhin, dass mich die anderen an den Händen aufhängen. Ich schrie vor Schmerzen. Meine Hände rissen ein. Es war kaum auszuhalten. Ich sollte die Wahrheit sagen, dann würden sie mir helfen, riefen die Männer. Ich wiederholte nur, dass ich keine Ahnung hätte, was sie meinten. Und schrie weiter meine Schmerzen hinaus. Sie ließen mich hängen. Ich verlor das Gefühl in meiner Hand. Dann auch das Bewusstsein. Dann spritzten sie mir Wasser ins Gesicht, dass ich wieder aufwachte. Und zogen an meinen Füßen, um die Schmerzen noch schlimmer zu machen. Irgendwann holten sie mich runter – und brachten mich in die Zelle zurück, wo mich die anderen Insassen fütterten, mir Wasser gaben. Meine Hand konnte ich erst nach einigen Tagen wieder bewegen.
Unter den Menschen in der Zelle befand sich ein netter Arzt namens „Humam“, der mir mit seinem Lächeln viel Hoffnung bereitete. In diesem Gefängnis waren Moslems und Christen. Viele unterschiedliche Ansichten. Alle brutal gefoltert und unterdrückt. Manche waren die ganze Zeit gefesselt. Andere konnten sich aufgrund ihrer zahlreichen Verletzungen nicht mehr bewegen. Die Schreie der gequälten Frauen drangen immer noch an unsere Ohren.
Ich wurde erneut abgeholt. Doch diesmal war es anders. Der Weg war länger. Und ich kam nicht wieder in den mir bekannten Verhörraum. Ein Mann nahm mir die Stoffhaube vom Kopf, stieß mich durch eine Öffnung im Boden. Ich landete in einem kleinen Raum, der mit Wasser gefüllt war. Ich fing an zu schwimmen – und ich hörte von draußen wieder dieselbe Frage nach den syrischen Offizieren. Wie wir Studenten mit ihnen kommunizieren. Was wir verhandeln. Ich versicherte ihnen, dass ich keine Ahnung davon hätte – und nur ein einfacher Student wäre.
Durch die Öffnung an der Decke drückte mich der Mann mit einem Stock unter Wasser. Als er losließ und ich auftauchte, bekam ich kaum Luft. Er wiederholt diesen Vorgang wieder und wieder. Dies ging stundenlang so weiter, bis sie mich endlich wieder aus dem Wasser hoben. Doch dann schlugen sie mich mit Stöcken. Als sie mich in die Zelle zurückbrachten, konnte ich kaum noch atmen. Ich saß da, hatte die Hoffnung verloren, dieses Gefängnis jemals lebendig zu verlassen. Tage vergingen. Immer wieder wurde mir gesagt, ich würde sterben. Ich würde jeden Tag sterben. Mit all dieser Folter wünschte man sich allmählich den Tod. Der Tod würde einem die Höllenqualen nehmen…
Ich kam also endlich frei aus diesem dunklen Loch
Am 25. Tag wurde ich nochmals rausgerufen. Ich kam wieder in den Verhörraum. Es waren sechs Männer mit Kapuzen. Ganz in schwarz. Ich konnte erkennen, dass einer von ihnen mein Handy in der Hand hielt. Er sagte zu mir: „Wir wissen, dass du das Mädchen aus dem Nachbardorf liebst. Wir kennen ihren Namen. Wissen, wo sie wohnt. Und wenn du nicht redest, holen wir sie her. Dann kannst du zuschauen, wie wir sie foltern, bis du redest.“ Ich fing an zu weinen. Schwor ihnen erneut, dass ich nichts wusste – und sagte, dass sie mich einfach töten sollten, wenn sie mir nicht glauben wollten. Sie würden mich sicher umbringen, war ihre Antwort. Ich musste wieder ins Gefängnis zurück, weinte nur noch, wollte sterben.
Am 32. Tag wurde ich früh morgens abgeholt. Der Kerl, der meine Fesseln öffnete, behandelte mich diesmal völlig anders, ging zum ersten Mal sehr ruhig. Legte seine Hand auf meine Schulter. Keine Ahnung, warum. Ich dachte nur, heute würden sie mich umbringen. Ich kam nicht in das Folterzimmer, sondern in einen anderen Raum. Ich wurde höflich gebeten, mich zu setzen. Allein schon der Geruch war anders. Angenehmer. Dann erklärte mir jemand: „Wir haben herausgefunden, dass du unschuldig bist und nicht mit der syrischen Armee zusammenarbeitest. Deshalb lassen wir dich heute gehen und bringen dich nach Hause.“ Die Stimme klang sehr herzlich. Grenzenlose Freude durchströmte meinen Körper, als der Mann mir mitteilte, dass ich zu meiner Familie zurückkehren werde. Das war alles, was ich wollte. Meine Eltern, meine Familie. Und meine große Liebe noch einmal sehen!
Ich kam also endlich frei aus diesem dunklen Loch, wurde nach Hause zurückgebracht. Ich rannte auf meine Mutter zu, die vor Freude weinte. Meine Brüder hielten mich fest und schrien vor Glück. Ich umarmte sie alle und konnte ihnen nicht mal erzählen, was passiert war.
In der folgenden Zeit ging ich kaum noch aus dem Haus. Jeden Tag gab es neue Verbrechen und Morde. Ein Mädchen wurde getötet, weil sie eine Beziehung mit einem Mann einging. Er konnte entkommen – das Mädchen nicht. Sie schnappten sie, warfen sie in ein Loch – und steinigten sie solange, bis sie starb. Ich sehe sie immer noch vor mir. Um Hilfe schreiend. Viele Menschen mussten dies mitansehen. Auch ich. Niemand konnte ihr helfen. Das Rauchen von Zigaretten wurde zur Straftat und mit Peitschenhieben bestraft. Manchmal sogar mit dem Tod. Man sah auf den Straßen nur noch schwarz. Es war die Farbe des Todes.
Ich verlor das Wertvollste, das ich hatte – wollte tot sein
Heute war der schlimmste Tag meines Lebens. Als meine große Liebe und ihr Vater zum Arzt gingen, ergriff sie einer der Terroristen und fragte ihren Vater, ob er sie heiraten lässt. Wenn er nein gesagt hätte, hätte man ihn eingesperrt oder als Ungläubigen umgebracht. Widerwillig akzeptierte er die Heirat. Niemand konnte etwas dagegen tun. Sie weinte. Sie weinte die ganze Zeit wegen der bevorstehenden Hochzeit mit dem Terroristen, der „Abu Maisara“ genannt wurde. Ich hasste seinen Namen. Für immer. Ich stand hilflos davor, als er sie vergewaltigte. Ich hatte keinen klaren Gedanken mehr. Und sie war nicht die einzige. Tausende Mädchen wurden auf dieselbe Weise missbraucht.
An diesem Tag verlor ich den einzigen Grund zu leben. Ich verlor das Wertvollste, das ich hatte. Ich wollte nur noch tot sein. Es gab keinen Grund mehr zu leben. Da mein Vater dies alles mitbekommen hatte, nahm er all sein Geld, das er besaß, und sagte, ich sollte nach Deutschland gehen. Für ein Leben in Sicherheit. Um mein Studium zu beenden. Am Anfang wollte ich meine Familie nicht verlassen. Ich fragte ihn, wieso wir nicht gemeinsam gehen. Er antwortete, dass wir nicht genug Geld hätten, um gemeinsam zu flüchten. Er wollte, dass ich ging, um meinen Traum zu erfüllen – und zu studieren. Letztendlich habe ich auf meinen Vater gehört – und bin geflohen. Es begann eine Reise voller Hoffnung.
Ich ging zu ihm und sagte, dass ich nach Griechenland wolle
Ich flüchtete in die Türkei, da hier Europa begann – und kam in eine Stadt namens Izmir. Es war 8 Uhr abends. Hier waren überall Syrer. Ich befand mich am Hauptbahnhof Basmane, wo sich auch die türkischen Gangs aufhielten. Nach einer Weile sprach mich jemand an, ob ich nach Griechenland möchte. Ich bejahte. Er könnte mich für 1.000 Dollar dorthin bringen. Ich fragte ihn, wie ich ihm 1.000 Dollar zahlen könnte, obwohl ich ihn ja gar nicht kannte – und ging weiter. Ich suchte nach einem Schlafplatz und kam zu einem Park voller Syrer. Da ich nicht einschlafen konnte, begann ich ein Gespräch mit einer Gruppe junger Syrer neben mir. Diese wollten ebenfalls nach Griechenland, der Preis war offenbar derselbe: ebenfalls 1.000 Dollar. Ich fragte sie viele Dinge – und fand danach schließlich doch noch zwei Stunden Schlaf.
Nachdem ich von türkischen Polizisten aufgeweckt wurde, ging ich wieder zum Hauptbahnhof zurück und sah dort denjenigen Typen, der mich tags zuvor angesprochen hatte. Ich ging zu ihm und sagte, dass ich nach Griechenland wolle. Er fragte nach dem Geld. Ich wiederum antwortete, dass ich die 1.000 Dollar habe – sie ihm aber erst gebe, wenn ich dort angekommen bin. Er erzählte mir von einem speziellen Büro für solche Angelegenheiten. Ich könnte dort mein Geld abgeben und ich würde anschließend einen Code bekommen, den nur ich kenne – und mit dem jeder, der ihn weiß, mein Geld abheben kann. Ich sollte ihm also, in Griechenland angekommen, meinen Code schicken, so dass er das Geld abheben könne. Damit war ich einverstanden.
Ich ging zu dem Büro, gab das Geld ab, musste noch 50 Dollar für den Code bezahlen, ging zum Hauptbahnhof zurück und wartete auf den Anruf des Mannes. Als er sich meldete, sagte er mir, ich solle ein Taxi nehmen und ihn von da aus zurückrufen. Im Taxi rief ich ihn zurück. Ich sollte dem Fahrer das Handy geben. Beide unterhielten sich auf Türkisch. Ich wusste nicht, was hier vor sich ging. Wir kamen in eine fast verlassene Gegend, wo ich aussteigen sollte. Ein Mann wartete auf mich. Wir gingen zu einem verschlossenen Transporter. Als er die Tür öffnete, sah man einen Haufen Menschen darin, obwohl das Fahrzeug recht klein war. Ich sollte über die anderen drüber klettern. Anfangs kam ich nicht richtig hinein, weil viel zu wenig Platz war. Dann schob mich der Mann von draußen an, bis ich endlich im Wagen war. Der Mann konnte die Tür nur schwer schließen. Fuhr dann los. Man konnte drinnen kaum atmen. Es waren 42 Menschen in dem Wagen zusammengepfercht. Die waghalsige Fahrt dauerte etwa fünf Stunden. Dann hielt das Fahrzeug an. Die Tür ging auf. Ich sah nach draußen. Alle mussten schnell raus – und begannen zu laufen.
… vergessen, dass ich tatsächlich ein menschliches Wesen bin
Wir kamen an einen Strand, an dem zwei Männer in einem Gummiboot auf uns warteten. Frauen und Kinder stiegen zuerst ein. Das Boot war weiß und maß etwa 7 x 1,5 Meter. Als wir Männer endlich dran waren, konnte so mancher gar nicht mehr zusteigen. Es war kein Platz mehr. Trotzdem mussten wir irgendwie mit drauf. Ein Mann startete schließlich den kleinen Motor. Wir fuhren los. Er sagte, dass Griechenland auf der anderen Seite liege, forderte einen von uns auf, nun das Boot immer geradeaus zu lenken. Dann sprang er ins Meer und schwamm zum Ufer zurück. Wir kamen kaum vom Fleck. Der, der das Boot nun fahren musste, hatte so gut wie keine Ahnung davon, wie man es steuert. Wir waren mitten im Meer. Ohne Ahnung, wo wir hinfahren. Nach sieben Stunden kam am Horizont endlich Land in Sicht. Wir hielten drauf zu. Kinder, Frauen, sogar einige Männer weinten.
Plötzlich kam ein schnelles, riesiges Boot auf uns zu. Wir begannen wild zu winken. Es kam näher. Das Boot hatte eine griechische Flagge, die im Wind flatterte. Sie warfen uns Seile herunter und vertäuten unser Gummiboot mit ihrem. Dann kletterten wir hinüber, auf das griechische Schiff, das uns aufs Festland brachte. Die Luft war so rein, ich fühlte auf einmal wieder Hoffnung. Hoffnung auf ein neues Leben.
In Griechenland angekommen, brachte uns die Küstenwache auf ein Polizeirevier. Unsere Namen wurden dort notiert und Passfotos gemacht – auch von den Kindern. Dann mussten wir warten. Es war wunderbar. Wir setzten uns nach draußen. Passanten brachten uns Essen, Zigaretten, manche sogar Hüte zum Schutz vor der Sonne. Ich fragte mich völlig verwundert: Warum machen die das? Warum fragen die uns nicht nach unserer Religion? Sie helfen uns einfach so. Kümmern sich nicht darum, wo wir herkommen. Betrachten uns als menschliche Wesen! Sowas war fast schon zu lange her. Ich hatte beinahe vergessen, dass ich tatsächlich ein menschliches Wesen bin – und dass ich das Recht auf ein Leben in Freiheit habe.
Über die mazedonische Grenze weiter nach Serbien
Nach und nach bekamen wir unsere Papiere. Wir sollten nun in die Hauptstadt Athen reisen – und Griechenland binnen drei Tagen wieder verlassen. Also gingen wir zum Hafen, kauften uns Tickets nach Athen und stiegen auf ein großes Schiff. Es war voller Syrer, die dem Tod nur knapp entkommen waren – wie ich! Es war 23 Uhr, als wir Athen erreichten. Ich schloss mich einer Gruppe junger Syrer an, die ich auf dem Schiff kennengelernt hatte. Wir marschierten los, suchten nach einer Schlafmöglichkeit und fanden ein Hotel. Dort war ein netter Kerl, der einigermaßen gut Englisch sprach. Ich erklärte ihm, dass wir über Nacht hier bleiben wollten. Wir bezahlten pro Mann 25 Euro und gingen auf unsere Zimmer. Mein erster Weg führte mich ins Bad, wo ich ausgiebig duschte. Danach bin ich todmüde ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen.
Am nächsten Morgen gingen meine Freunde und ich zum Bahnhof. Wir mussten weiter nach Thessaloniki, unweit der mazedonischen Grenze. Dort angekommen, stiegen wir in ein Taxi. Wir baten den Fahrer, uns nach Avazunoa zu bringen, das direkt an der Grenze zu Mazedonien liegt. Dort waren bereits viele Syrer versammelt. Wir wanderten gemeinsam über die Grenze. Es vergingen vier Stunden, bis wir einen Bahnhof erreichten, in dem sich auch ein Polizeirevier befand. Die mazedonischen Polizisten sammelten unsere Papiere ein, die wir in Griechenland bekommen hatten, und gaben uns neue. Sie sagten uns, dass wir mit dem Zug nun weiter Richtung serbische Grenze fahren sollten. Weitere fünf Stunden später erreichten wir diese. Dort wurden wir jedoch von den serbischen Grenzbeamten zurückgewiesen. Wir durften nicht über die Grenze. Also suchten meine Freunde und ich nach einem anderen, abgelegeneren Weg, weit weg von den Grenzbeamten. Schließlich kamen wir nach Serbien, fanden ein Hilfszentrum für Flüchtlinge und holten uns dort neue Papiere. Mit dem Bus fuhren wir danach in die Hauptstadt Belgrad, suchten wieder ein Hotel. Ich ging wieder duschen, fiel todmüde ins Bett. Diesmal konnte ich jedoch nicht sofort schlafen. Ich musste an meine große Liebe denken, die misshandelt wurde. An meine Familie, zu der ich keinen Kontakt mehr hatte. Ich weinte die ganze Nacht.
Zuerst nach Budapest – und von dort weiter nach Deutschland
Am nächsten Morgen zogen wir mit dem Bus weiter nach Cengiza an der ungarischen Grenze. Alle sprachen über Ungarn. Es sollte der schwierigste Teil unserer hoffnungsvollen Reise werden. Wir durften auf keinen Fall von den Polizisten dort aufgegriffen werden, denn sonst hätten wir in Ungarn Asyl beantragen müssen. Cengiza erreichten wir dann am Nachmittag. Wir warteten auf den Sonnenuntergang. Wir mussten nachts durch die Wälder nach Ungarn laufen, um unbemerkt die Grenze zu passieren. Also liefen wir los. Wir konnten in der Dunkelheit nichts sehen. Lampen konnten wir nicht anmachen, da uns sonst die ungarischen Polizisten gefunden hätten. Wir setzten unseren schwierigen Marsch fort, fast acht Stunden lang.
Ich nahm mein Handy und nutzte den Ortungsdienst, um unsere Position festzustellen. Die Grenze hatten wir schon überschritten. Wir mussten nach Szeged, um dort per Taxi nach Budapest weiterzufahren. Aufgrund der Dunkelheit kamen wir nur sehr langsam voran. Deshalb verließen wir den Wald und gingen auf den angrenzenden Wegen weiter. Jetzt wurden wir schneller. Der Durst wurde immer schlimmer – und wir hatten nur noch wenig Wasser dabei. Nach einiger Zeit waren wir so erschöpft und durstig, dass wir nicht mehr weiterlaufen konnten. Wir setzten uns auf den Boden und machten eine Pause.
Auf einmal sah ich einen Lichtkegel an der Straße. Vor lauter Angst versteckten wir uns im Wald. Ich entschloss mich, nachzusehen, woher die Lichtsignale kamen. Ich ging in Richtung des Lichts und konnte nach und nach einen Mann erkennen, der eine Lampe in der Hand hielt. Er sagte, wir sollten keine Angst haben. Er wäre Taxifahrer. Er sprach Englisch. Sein Name war Stephen. Er könnte uns nach Budapest bringen. Ich fragte ihn nach Wasser. „Ja, im Auto. Wie viele seid ihr?“ Wir waren zu fünft. Für 200 Euro pro Mann würde er uns nach Budapest bringen. Und da unser Durst so enorm groß war, nahm ich das Angebot an. Ich holte den Rest meiner Freunde aus dem Wald – und nach rund einer halben Stunde Fußmarsch kamen wir zu Stephens Taxi.
Wir stiegen ein und tranken erst einmal. Es dauerte zwei Stunden, bis wir in eine wunderschöne Stadt gelangten. Ich fragte Stephen, welche Stadt das war. Er lachte und sagte „Budapest“. Wir hielten vor einem Hotel namens „Kirkis“. Darin würde ich jemanden finden, der uns nach Deutschland bringen könnte. Wir bezahlten ihm das Geld, stiegen aus und standen nun vor dem Hotel. Vor der Tür stand ein Mann, der uns fragte, ob wir nach Deutschland möchten. Ich bejahte. Für weitere 500 Euro pro Person würde er uns in einem privaten Transporter nach Deutschland bringen. Ich stimmte wieder zu. Wir folgten ihm zu einem abgeschlossenen Wagen in der Nähe eines Parks. Sieben Leute hatten darin Platz. Meine vier Freunde und ich sollten einsteigen und warten, denn er würde noch ein paar andere nachholen. Er machte die Tür zu – und nach einer ganzen Stunde kam er mit weiteren fünf Personen zurück. Ich machte ihm deutlich, dass das Fahrzeug zu klein für so viele Leute war. Er sagte: „In fünf Stunden sind wir in Deutschland. Bis dahin müsst ihr irgendwie durchhalten.“ Also zwängten wir uns hinein – und fuhren los.
„Habt keine Angst, ihr seid jetzt in Deutschland“
Ich war so müde, schlief im Wagen. Nach ein paar Stunden weckten mich meine Freunde. Wir hätten schon die deutsche Grenze überquert. Ich konnte nichts sehen, weil wir so dicht aneinander lagen. Plötzlich hielt der Wagen. Der Fahrer fluchte immer wieder. Eine Polizistin öffnete die Fahrertür. Ich hatte solche Angst. Dann öffnete ein weiterer Polizist die Seitentür. Als er uns sah, ging er ein paar Schritte zurück, sagte irgendwas auf Deutsch. Die Polizistin nahm die Fahrzeugschlüssel an sich und legte den Fahrer in Handschellen. Dann kam der Polizist wieder auf uns zu, fragte uns, woher wir kommen. Auf Englisch antwortete ich, dass wir aus Syrien sind. Er sagte: „Habt keine Angst, ihr seid jetzt in Deutschland.“ Meine Freude war grenzenlos.
Wir mussten aussteigen. Der Polizist war sehr nett zu uns. Er telefonierte. Und nach einer Weile kam ein Polizeiauto, in das wir einsteigen sollten. Wir kamen an einen Ort mit vielen Syrern, Irakern und Menschen aus anderen Nationen. Sie fragten mich dort nach meinem Namen, meinem Alter, meiner Herkunft, wie ich hierher gekommen bin. Und ich beantwortete all ihre Fragen. Anschließend wurde ich mit dem Bus in eine Stadt namens Deggendorf gebracht. Sie machten ein Passfoto und nahmen meine Fingerabdrücke. Einer der Sicherheitsleute in dem Lager erklärte mir, dass ich diese Nacht hier schlafen könnte und sie mich morgen woanders hinbringen würden.
Am nächsten Morgen teilten mir die Lagerhelfer mit, dass ich nach Neuschönau gebracht werde. Nach einer halben Stunde kam ein Bus – und wir fuhren los. In Neuschönau kamen wir in das „Sport Hotel„. Es war herrlich dort: Ruhig. Überall Bäume. Die Natur überstrahlte alles. In dem Hotel war eine wundervolle Frau namens Gaby, die uns auf unsere Zimmer brachte. Sie war umwerfend. In diesem Moment hätte ich gerne meine Familie bei mir gehabt – nur um zu wissen, dass sie am Leben sind. Ich dachte die ganze Zeit an sie und fragte mich, was wohl mit ihnen geschah.
Ich fühlte mich wie im Paradies…
Ich kam in mein Zimmer. Es war so hübsch, mit einem tollen Ausblick. Ich fühlte mich wie im Paradies. Alles hier war perfekt. Dann traf ich ein wunderschönes Mädchen mit atemberaubenden Augen. Sie hieß Steffi und half jedem. Sie war kinderlieb, emotional, von ihren Gefühlen geleitet. Das konnte ich jedes Mal sehen, wenn sie diejenigen verabschiedete, die gehen mussten. Ich fühlte immer mehr Hoffnung, wenn ich sie ansah. Jeden Tag redete ich mit ihr. Ich sagte zu ihr, dass sie ein Grund dafür sei, dass das Leben hier weitergeht.
Vor sechs Tagen erzählte mir Steffi, dass viele Deutsche nicht glauben, was sie im Fernsehen über den Krieg in Syrien sehen. Dass sie glauben, die Syrer kommen nur wegen des Geldes nach Deutschland. Sie bat mich, alles über mein Leben in Syrien aufzuschreiben. Wie ich nach Deutschland kam. Mit allen Einzelheiten. Ich habe alles aufgeschrieben, was ich erlebt hatte. Und wie ich hierher gekommen bin.
Mohammed
(übersetzt aus dem Englischen von da Hog’n)
Anmerkung: Mohammed lebt mittlerweile nicht mehr in der Neuschönauer Unterkunft. Er wurde vor wenigen Tagen in einem anderen Flüchtlingsheim untergebracht.