Wegscheid/Passau. Absperrgitter. Helfer, die sich durch das Chaos wuseln. Ein Bahnsteig, der hoffnungslos überfüllt ist. „Ein echter Wanderzirkus“, kommentiert Wolfgang Duschl die Szenerie, die sich da auf dem Display seines Smartphones gerade abspielt – und kann dabei lachen. Inzwischen wieder. Denn zum Lachen war ihm zu dem Zeitpunkt, als die Bilder entstanden sind, wahrlich nicht zumute. Heute sind es nur noch die zwei Wochen alten Fotos auf dem Handy des Caritas-Sprechers, die an diese chaotischen Szenen am Passauer Hauptbahnhof erinnern. „Mittlerweilse ist das viel besser geworden.“ In der Innenstadt bekomme man so gut wie nichts davon mit, dass in Passau täglich tausende Flüchtlinge ankommen. Eine Momentaufnahme aus den Flüchtlingslagern im Grenzgebiet.
Bundespolizeisprecher: „Wir mussten auch dazu lernen“
Es ist Dienstagmorgen. Die wenigen Reisenden, die auf ihren IC nach Frankfurt warten, blicken neugierig hinter der kleinen Menschen-Karawane her, die ein paar Meter entfernt von einigen Bundespolizisten zu einem Zug am gegenüberliegenden Bahnsteig eskortiert wird. Es ist einer von vier Sonderzügen, die heute rund 1.500 Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrichtungen nach Zwickau, Saalfeld, Düsseldorf und Hannover bringen. Etwas weniger, knapp 1.200, kommen an diesem Tag aus Österreich am Bahnhof an, wo die Beamten sie in Empfang nehmen – und zu einem Zelt begleiten, das etwas abseits beim Güterbahnhof steht.
„Was Sie heute sehen, ist kein Vergleich zu den ersten Wochen“, sagt Bundespolizeisprecher Heinrich Onstein. „Wir mussten auch dazu lernen.“ Viele seiner Kollegen, die hier sieben Tage die Woche in Zwölf-Stunden-Schichten arbeiten, seien noch in der Ausbildung. „Und ein Großteil von dem, was sie hier machen müssen, ist neu.“ Doch mittlerweile habe man die Abläufe optimiert und könne das bewältigen. „Es braucht Absprachen, genügend Kapazitäten und ein paar Puffer, um sich vorbereiten zu können.“
„Du warst aber jetzt schon oft da, Du Bazi“
Der Grenzübergang Wegscheid, etwa 30 Kilometer nördlich von Passau, ist so ein Puffer. In einem beheizten Zelt, das erst vor wenigen Tagen aufgestellt wurde, aber auch draußen – auf Decken, Kartons und in ein paar Igluzelten – warten auf österreichischer Seite etwa 1.200 Flüchtlinge darauf, die Grenze überqueren zu dürfen.
Maria Wagner hilft hier seit über einer Woche ehrenamtlich mit. „Du warst aber jetzt schon oft da, Du Bazi.“ Sie lächelt, holt ein Päckchen Schokolade aus der Plastiktüte und drückt es einem kleinen Jungen in die Hand. Sie hat gerade Zeit für solche Gesten – vor allem aber, um selbst auch einmal kurz zu verschnaufen. Denn: Gerade wird sie nicht bombardiert mit Fragen nach einem Arzt, nach Kleingeld für die Telefonzelle, Strom fürs Handy oder einfach einem Verantwortlichen, den es nicht gibt. Gerade muss sie auch keinem weinenden Mädchen helfen, seine Mutter zu finden. Gerade ist nämlich kein Bus angekommen, der weitere Menschen am Grenzübergang abliefert.
Wegscheid ist (neben Neuhaus und Simbach am Inn) einer von nunmehr drei anstatt zuvor neun Grenzübergängen rund um Passau, an denen Flüchtlinge von den österreichischen an die bayerischen Behörden übergeben werden. 50 pro Stunde – so lautet die Vereinbarung. Eine vierte Anlaufstation ist der Hauptbahnhof in Passau. Erst vor Kurzem hat man sich auf diesen Modus geeinigt. Etwas mehr als 4.000 Flüchtlinge kommen auf diesen Wegen am Dienstag nach Deutschland. Ein normaler Tag. In den Paul-Hallen, mit 1.500 Plätzen die größte Auffangstation in Passau, wo Flüchtlinge bis zu einen Tag auf ihre Weiterreise warten, sind am späten Nachmittag noch fast zwei Drittel der Feldbetten frei.
An der Eingangsschleuse, die in das Zelt beim Güterbahnhof Passau führt, steht Azad in der Warteschlange. Der 35-Jährige kommt aus dem syrischen Aleppo und ist nach neuntägiger Flucht soeben mit einem Zug angekommen. Er muss sich erst einem kurzen Sicherheitscheck – der sogenannten „Fast Identification“ – unterziehen, ehe er weiter in den abgetrennten Wartebereich gehen kann, wo seine Frau schon von den ehrenamtlichen Helfern mit Tee und belegten Brötchen versorgt wird – und die dreijährige Tochter einen blauen Luftballon bekommt.
„Aber da ist jeder Tag wie ein Blick in die Glaskugel“
Bei Azad wird – wie bei allen Männern – vorher per Fingerabdruck-Scanner geprüft, ob er schon in der Bundesrepublik oder einem anderen EU-Land registriert wurde. Das geht schnell vonstatten. Nach wenigen Minuten ist er wieder bei seiner Familie. Hier erfahren die drei eher zufällig, dass sie sich nun in Deutschland befinden. Eine Stunde später steigen sie zusammen in den Zug nach Zwickau.
Für eine umfassende Feststellung der Personalien bleibt in Passau keine Zeit, auch nicht für einen generellen Gesundheitscheck. Das wird erst gemacht, wenn die Flüchtlinge in den Erstaufnahmeeinrichtungen irgendwo im Bundesgebiet untergekommen sind. „Für akute Probleme ist eine Ärztin vor Ort“, sagt Onstein. „Mehr ist hier nicht leistbar.“
Am Grenzübergang Wegscheid ist Onsteins Kollege Albert Poerschke etwas überrascht. „Wir hatten eigentlich damit gerechnet, dass die meisten Migranten in Neuhaus ankommen werden.“ Dort erprobt man gerade ein neues Modell: Die Busse aus Österreich fahren direkt zu den Aufnahmestellen in Deutschland, um unnötige Zwischenstopps und Überfüllungen zu vermeiden. „Aber da ist jeder Tag wie ein Blick in die Glaskugel. Man weiß nicht, was kommt.“ So auch am Dienstag – der Schwerpunkt ist wieder einmal Wegscheid. Fast die Hälfte aller Flüchtlinge, die Niederbayern über die drei vereinbarten Grenzübergange erreichen, kommen hier an.
Als es Abend wird, nähern sich die Temperaturen in Wegscheid dem Nullpunkt. Maria Wagner verteilt Schals und Socken an die Menschen, die keinen Platz mehr im großen Zelt haben. Zwischendurch tröstet sie ein weinendes Baby, während seine Mutter sich eine Jacke überzieht. Ein neuer Bus fährt vor. Maria Wagner stöhnt, sagt aber dann: „Zumindest ist ja jetzt das Zelt da. Es ist schon besser geworden.“
Stefan Aigner/regensburg-digital.de