Chamerau. Bekanntlich bringt man ja den Waidler aus dem Wald heraus, aber den Wald nicht aus dem Waidler. Das trifft wohl auch auf Veronika Kallus zu, die ein ganzes Jahrzehnt in Edinburgh sowie viele weitere Aufenthalte in Schottland verbrachte. Dennoch wusste sie immer, dass sie zwar für einige Jahre dort bleiben, aber irgendwann auch wieder zurück in die Heimat, den Bayerwald, möchte. In Chamerau, einem knapp 2.600-Seelen-Ort vor den Toren Chams, ist sie aufgewachsen und heute zuhause. Rein äußerlich mutet sie mit ihren roten Locken typisch schottisch an – den Akzent der Briten hat sie sich bis auf einige Alltagsausdrücke jedoch nicht angeeignet.
„Bereits seit meiner Jugend hab ich diese Vorliebe für Schottland. Wo sie genau herkommt, kann ich gar nicht genau sagen – aber für mich war klar, dass ich nach dem Abi erst einmal für längere Zeit dorthin muss“, erinnert sich die 40-Jährige. Eine Stelle als Au-pair verschlug sie zunächst nach Aberdeen, der mehr als 200.000 Einwohner zählenden Stadt an der Ostküste. Nach sechs Monaten kam sie nach Deutschland zurück, um in Chemnitz einen Europa-Studiengang mit Schwerpunkt Osteuropa zu absolvieren – inklusive Auslandssemester in Rumänien.
Der Job ihres Lebens in der St Giles‘ Cathedral
In den Semesterferien zog es sie jedoch immer wieder Richtung Norden. Zehn Wochen lang hielt sich Veronika Kallus während eines Praktikums in Edinburgh – oder „Edinbörra“, wie die Einheimischen die schottische Hauptstadt nennen – auf. Es war gerade „Summer in the City“ und Festivalzeit – die perfekte Kombination also, um sich Hals über Kopf in die Metropole auf der Südseite des Firth of Forth zu verlieben. Im August ist die Stadt Gastgeber für das berühmte Fringe Festival, das rund 50.000 Aufführungen an ca. 250 Veranstaltungsorten in drei Wochen beherbergt. Überhaupt hat sich Edinburgh als Festivalhauptstadt Europas mit zahllosen Events aus Kultur, Kunst, Musik, Film, Literatur, Comedy, Theater und Tanz einen Namen gemacht. Eine große Bühne. All year long.
Im Jahr 2006, mit dem Bachelor-Abschluss in der Tasche bzw. im Koffer, der natürlich schon für den nächsten Schottland-Trip gepackt war, hieß es sogleich: Back to Edinburgh! Dort angekommen, wurde die Bayerwäldlerin auf eine Stellenausschreibung in der Zeitung aufmerksam: „Visitor Services Manager in der St Giles‘ Cathedral gesucht.“ Sie hat sich beworben – und bekam die Stelle. Ihr Zuständigkeitsbereich: alles, was nicht mit dem religiös-geistlichen zu tun hatte, sprich: Kultur, Tourismus und Organisation. Ein höchst umfangreiches Betätigungsfeld, wie sie versichert. „Dass daraus der Job meines Lebens werden würde, hätte ich mir nie träumen lassen“, erzählt sie noch immer voller Begeisterung und leuchtenden Augen. Eine junge Frau aus dem katholisch geprägten Bayerwald in einer protestantischen Kirche, die die Geschicke dort maßgeblich mitgestalten und prägen sollte.
St Giles ist die Hauptkirche der Church of Scotland, also die wichtigste Kirche Schottlands und Mutterkirche der presbyterianischen Kirchen. Sie wird auch als die Wiege des Presbyterianismus bezeichnet. „Das Schöne war, dass ich mein Aufgabenfeld weitestgehend unabhängig gestalten konnte. Der Priester, dort Minister genannt, ließ mir freie Hand – somit konnte ich mich organisatorisch und künstlerisch richtig austoben“, sagt sie. Eine ihrer ersten Amtshandlungen beinhaltete, sich mit den rund einhundert Church Guides vertraut zu machen. „Ich war 24 Jahre alt – und das waren alles hochgebildete Männer und Frauen, meist Akademiker im Ruhestand, die ehrenamtlich Kirchenführungen angeboten haben. Für mich war es sehr wichtig, ein gutes Verhältnis zu ihnen zu haben, zumal ich für die Koordinierung dieser bunten Truppe verantwortlich war“, erinnert sie sich.
Gefragte Ansprechpartnerin und Entscheidungsträgerin
Einen wichtigen Veranstaltungsteil der „High Kirk of Edinburgh“, wie St Giles‘ auch genannt wird, bildeten die Konzerte. Veronika Kallus wählte dabei Künstler und Bands für die Konzerte aus – von Ska über Folk bis hin zur Chormusik, so divers und abwechslungsreich wie möglich war ihre Devise. Viele ausländische Musiker bewarben sich um einen Auftritt. Doch der Kulturmanagerin lag viel daran, auch lokale Musiker nach St Giles‘ zu holen und die Kirche für die Bevölkerung vor Ort zu öffnen.
Lesungen, Ausstellungen und diverse Festivals fanden in dem gotischen Bau statt und boten eine große Bühne für Kunst, Kultur, Gesang, Kreativität und Projektarbeiten. Natürlich finden in einem Gebäude dieses Ausmaßes und Alters auch ständig Renovierungs- und Bauarbeiten statt, die die Waidlerin teilweise zu betreuen hatte. Ihr erfolgreiches Management spiegelte sich rasch in den Besucherzahlen wider: 2006 verzeichnete St. Giles‘ etwa 450.000 Besucher, 2011 waren es schon eine Million. Eine Entwicklung, die gewiss auch ihrem Engagement geschuldet ist. So sorgte sie auch dafür, dass der Kirchenführer in 42 Sprachen übersetzt wurde. Dabei halfen die Kontakte aus Studienzeiten, vor allem nach Osteuropa. „Auffallend war, dass wir zum Beispiel viele ungarische Besucher hatten“, erinnert sie sich, „die sich immer riesig darüber freuten, dass die Infos auch in ihrer Sprache angeboten wurden.“
Die „Visitor Services Managerin“ aus Chamerau verantwortete nicht nur die Geschicke innerhalb der Kirchenmauern, sondern fungierte auch außerhalb als Repräsentantin und Mitglied in vielen städtischen und nationalen Komitees, Ausschüssen und Vereinen. Sie war gefragte Ansprechpartnerin und Entscheidungsträgerin und pflegte Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten des Stadtgeschehens. Selbstverständlich gastierte sie auch bei der jährlichen Garden Party der Queen – ganz klassisch mit Hut.
Prinz Philips Fasan und der verpasste Dalai Lama
Für Veronika Kallus war es generell nichts Ungewöhnliches, die Königin, Prinz Philip, Prinz Charles oder William und Harry nebst anderen hochkarätigen Mitgliedern der Königlichen Familie in der gotischen Kathedrale anzutreffen. „So war ich zum Beispiel mit dabei, als Prinz William in den Order of the Thistle aufgenommen wurde. Der Distelorden ist ein schottischer Ritterorden, der 1687 gestiftet wurde. Ein Orden, der nur hochrangigen Persönlichkeiten und Adligen vorbehalten ist und seinen Sitz in der St Giles‘ Cathedral mit eigener Kapelle hat“, erinnert sie sich an royale Höhepunkte während ihres Aufenthalts und ergänzt: „Als der jüngere Bruder Prinz Harry von seinem ersten Auslandseinsatz in Afghanistan 2008 zurückkehrte, wurde er mit einer prächtigen Parade auf der Royal Mile, der Prachtstraße und Hauptachse durch die Altstadt, an der die Kirche liegt, geehrt.“
Wenn der eigene Arbeitsplatz ein solch geschichtsträchtiger Ort ist, erlebt frau selbstverständlich auch viel Kurioses. Allein darüber könnte Veronika Kallus eine umfangreiche Anekdotensammlung herausgeben. „Eines Tages überreichte mir einer der Mesner einen Fasan. Der sei vom Duke of Edinburgh, damals noch Prinz Philip – ein Geschenk an mich persönlich. Tags zuvor war er auf der Jagd und nun hielt ich die gefederte Beute in Händen.“ Doch: Was jetzt tun mit dem Federvieh, fragte sich die Waidlerin verdutzt. Noch dazu war das Tier ungerupft. „Ich bin damit durch die Altstadt in meine Wohnung gelaufen und habe zum ersten Mal in meinem Leben versucht, einen Fasan zuzubereiten – was mir allerdings so einiges an Kochkünsten abgerungen hatte“, erinnert sie sich und lacht.
Ein anderes Mal machte sie sich mit dem Zug ins nordenglische Newcastle auf, um ein Bruce-Springsteen-Konzert zu besuchen und dort zu übernachten. Als sie wieder in Edinburgh angekommen und auf dem Weg zur Kirche war, wurde der Dalai Lama samt Entourage just in diesem Moment durch die Innenstadt chauffiert. Vor St Giles‘ ließ er seinen Fahrer anhalten, um die Kathedrale außerplanmäßig zu besichtigen. Der Mesner wurde aufgrund seiner Kleidung vom tibetischen Oberhaupt missverständlich für den Minister gehalten und höflich gefragt: „May I enter your church?“ Und ob! Voller Bewunderung stand der Dalai Lama staunend im gotischen Kirchenschiff und fuhr nach dieser kurzen Stippvisite wieder ab. Veronika Kallus kam gerade des Wegs, als dieser nur wenige Minuten zuvor seine Reise fortsetzte. Leider verpasst. Ärgerlich? „Jein“, sagt sie heute. „Natürlich hätte ich den Dalai Lama gerne getroffen. So eine Gelegenheit bietet sich wahrscheinlich nie wieder im Leben – aber zumindest habe ich alles aus erster Hand vom Mesner erfahren.“
Back home – Zurück zu den Wurzeln
Aus den ursprünglich geplanten „paar Jahren“ wurden dann doch zehn – und irgendwann war es an der Zeit, Edinburgh zu verlassen und wieder zu den Wurzeln zurückzukehren. Das war 2016. Nicht zuletzt gab ihre Schwangerschaft dafür den Ausschlag. „Ich wollte immer, dass meine Tochter so wie ich auf dem Land aufwachsen darf und nicht in einer trubeligen Großstadt“, wie sie bereits lange vorher entschieden hatte.
Vor fünf Jahren erfolgte dann der Umzug nach Chamerau. Der Kulturschock nach dem Wechsel von der pulsierenden Großstadt in den beschaulichen Woid blieb dabei aus. „Mein Herz schlägt nach wie vor für Schottland, ganz auswandern wollte ich jedoch nie. Und es schlägt genauso für meine Heimat“, erzählt sie – und man kauft es ihr ab. Ein Herz, das also gleich doppelt blau-weiß schlägt. „Ich habe nach wie vor eine enge Verbindung zu Edinburgh, sehr viele Freunde dort und täglich Kontakt.“
Um auch im Bayerwald schottische Traditionen aufleben zu lassen, lädt sie seit ein paar Jahren am 25. Januar zum „Burns Supper“ (auch als „Burns Night“ bekannt) ein – im Gedenken an den schottischen Nationaldichter Robert Burns (1759-1796). Dabei serviert sie ihren Gästen Suppe als Vorspeise, als Hauptgang gibt’s natürlich das schottische Nationalgericht Haggis: mit Innereien gefüllter Schafsmagen. Auch wenn es sich nicht so anhört, sei dieser sehr bekömmlich, wie sie betont. Die von ihr geladene Gesellschaft fällt meist international aus – auch der ein oder andere Schotte hatte sich schon mit dazugesellt. Und: Jeder bringt sein Lieblingsgedicht mit, das dann rezitiert wird. Ein Abend ganz im Zeichen der Gemeinschaft, Kulinarik und der Lyrik.
Die Lyrik – ihre große Passion
Letzteres hatte es der Chamerauerin schon seit Ende der 1990er angetan. An der University of Edinburgh belegte sie während ihres Aufenthalts einen Masterstudiengang in „English Literature“ mit Schwerpunkt Lyrik – parallel zum Vollzeitjob in St Giles‘. Der Literatur-Lehrstuhl ist übrigens der älteste der Welt. Mit Referenzen von ihrem Chef, dem Minister der Church, und einem Anglistik-Professor aus Wien wurde sie zugelassen. Und die Professionalisierung ihrer großen Leidenschaft nahm ihren Lauf.
Zurück im Bayerwald wollte Veronika Kallus erst einmal beruflich Fuß fassen, was sich – wie erwartet – als gar nicht so einfach herausstellte. So arbeitete sie in verschiedenen Bereichen als Projektmanagerin. Nebenbei war da aber auch immer noch die Literatur, das Übersetzen und die Poesie. Gedichte übertrug die Chamerauerin bereits in Schottland in andere Sprachen – etwa diejenigen ihrer befreundeten Stadtdichterin Christine de Luca. Auch wieder so ein Edinburgh-Ding: Es gibt den so genannten Stadtdichter, den Makar, oder die Stadtdichterin, die für ein Jahr das Stadtgeschehen in Versen zum Besten gibt, gewählt von der Scottish Poetry Library. Christine de Luca war jahrelang ein(e) Makar. Ihre Gedichte sind nicht nur in englischer Sprache erschienen, sondern auch im Dialekt der Shetland-Inseln, der dem Skandinavischen sehr ähnlich ist. Diese Gedichte übersetzte die Linguistin nicht nur ins Deutsche, sondern auch ins Bairische – oder besser gesagt: in ihren niederbayerisch-oberpfälzerischen Dialekt, in ihre ureigene Sprache.
Aus dem Hobby haben sich nach und nach immer mehr Aufträge ergeben – und schließlich auch Veronika Kallus‘ neuer Beruf. Sich immer wieder neu zu erfinden und Neues zu wagen: Viele Türen haben sich auf diese Weise bereits für sie geöffnet. So hat sie beispielsweise den „Domschatzführer“ des Regensburger Doms übersetzt, wo sie übrigens auch als ausgebildete Domführerin tätig ist. „Ich liebe die Aura von Kathedralen“, schwärmt sie.
Ihr Traum: Hemingway übersetzen
Um ihre Expertise weiter auszubauen, bewarb sich die umtriebige Frau um einen von nur 15 Masterstudienplätzen im Fach „Literarisches Übersetzen“ an der Münchener Ludwig-Maximilian-Universität, wobei nur acht für die englische Sprache zu vergeben waren. Einer davon ging an Veronika. Aufgrund der Pandemie fand der gesamte Studiengang online statt – sehr praktisch und familienfreundlich. Als Masterarbeit transformierte sie Gedichte von Christine de Luca ins Deutsche und Bairische.
Das Übersetzen ist eine diffizile Angelegenheit, wie sie erklärt. „Es geht nicht nur darum, die Wörter von der einen in die andere Sprache zu übertragen, sondern den Ton des Textes zu finden und zu transportieren.“ Dabei ist die Frage zu berücksichtigen: Was ist wichtig? Der Inhalt, die Grammatik, die Metrik? Manche Stimmen behaupten, dass es unmöglich sei, Poesie in eine andere Sprache zu übertragen. „Mein Traum wäre es, Hemingway zu übersetzen. Ich liebe seine Ausdrucksweise. Oder Trainspotting auf Bairisch.“
Aktuell ist sie mit einem englischen Thriller beschäftigt, danach folgt eine deutsche Autobiographie. Zudem gibt es Aufträge für Werbetexte oder die MasterClass, einer Online-Bildungsplattform. Das Spektrum ist breit gefächert – und nicht zuletzt lernt die Übersetzerin stets selbst viel dazu. Nebenbei schreibt sie aber auch gerne selbst: Seit Jahren füllt sie Notizbücher, ihre ganz persönlichen „Momentensammlungen“. Vielleicht entsteht einmal ein Buch daraus, das den Namen Veronika Kallus als Autorin trägt. Man darf gespannt bleiben. „Ich bin da, wo ich gerade sein will“, zieht sie ihr momentanes Lebensfazit mit einem zufriedenen Lächeln.
Melanie Zitzelsberger
Kostproben des dichterischen Schaffens von Veronika Kallus: