(…) Erst am nächsten Tag, am Sonntagmorgen, kam es zu einem Telefonat zwischen Wigg und Simone. Doch das Gespräch verlief arg einseitig. Sie machte ihm wütende Vorwürfe und ließ ihn, als er ihr den Grund für sein Verhalten zu erklären versuchte, praktisch gar nicht zu Wort kommen. Zuletzt brach Simone das Telefonat ähnlich abrupt ab wie am Tag zuvor. Wigg entschloss sich daraufhin, an diesem Wochenende nun überhaupt nicht mehr nach Regensburg zu fahren. Sondern seine Arbeit auf dem Kaltenberg fortzusetzen.
Im Lauf des Tages fotografierte er sämtliche Teile des Skeletts sowie die Quadersteine der Grabumrandung in ihrer Originallage. Nachdem er diese Details seines Fundes digital dokumentiert hatte, legte er die Gebeine zu den schon am Vortag geborgenen Relikten in eine Kiste, trug diese zu seinem Jeep und deckte die nun leere Grabgrube ab. Gegen drei Uhr nachmittags war er mit diesen Arbeiten fertig. Er fuhr nach Ringelai zurück, nahm im Hotel ein verspätetes Mittagessen ein und rief dann den hauptamtlichen Archäologen des Landkreises Freyung-Grafenau an.
Kreisarchäologe Stockinger ist begeistert, rätselt aber auch…
Eine halbe Stunde später trafen sich die beiden Wissenschaftler im Büro des Kreisarchäologen in Freyung. Nachdem Wigg dem schon älteren Beamten, der einen prächtigen Vollbart trug und auf den häufigen Bayerwald-Namen Stockinger hörte, Bericht erstattet und ihm seine Funde offiziell übergeben hatte, zeigte sich der Kreisarchäologe hellauf begeistert.
„Da ist Ihnen etwas wirklich Wichtiges gelungen, Gleißenthaler!“, lobte er seinen jungen Kollegen. „Denn Sie haben nicht nur den eindeutigen Beweis dafür erbracht, dass sich auf dem Frauenstein-Gipfel des Kaltenberges einst eine bedeutende keltische Ansiedlung mit Festungscharakter befand, sondern durch den Grabfund auch noch eine exakte Datierung dieser Anlage ermöglicht.“
Sinnend betrachtete er das Schwert, den schwarzen Rundstein und die übrigen Fundstücke, die auf seiner Schreibtischplatte lagen. „Alles zweites nachchristlichen Jahrhundert, gar keine Frage. Nur eins ist rätselhaft: Wie kam die römische Spatha in die Grabstätte eines Kelten? Handelte es sich bei dem Langschwert um eine Kriegsbeute? Oder um ein Geschenk von Römern an einen befreundeten keltischen Edlen? Oder eher um ein wertvolles Erbstück innerhalb einer Kriegerfamilie der Boier?“
„Ich würde sie liebend gerne beauftragen, jedoch…“
Nachdenklich wiegte Wigg den Kopf; dann äußerte er: „Zweifellos ist mit dem Schwert ein Rätsel verbunden …“ Er löste seinen Blick von der Waffe, deutete auf den dunklen Stein und fuhr fort: „Aber vielleicht noch mysteriöser ist dieses Stück. Es scheint ein Schieferstein zu sein, wie er hier in Bayern nicht vorkommt. Und die geheimnisvollen Buchstaben auf seiner Oberfläche …“
Stockinger nahm den Stein in die Hand. Er drehte ihn zwischen den Fingern, betrachtete ihn von allen Seiten und erklärte schließlich: „Ich würde Sie liebend gerne beauftragen, die Rätsel um die Spatha und den Rundstein zu lösen, Gleißenthaler. Doch leider kann ich es nicht, beim besten Willen nicht. Sie wissen ja, dass ich nur einen bescheidenen Etat für externe Forschungen zur Verfügung habe, und der ist mit Abschluss der Ausgrabung auf dem Frauenstein verbraucht…“
Er legte den Stein zurück auf den Schreibtisch und zwinkerte seinem jungen Kollegen freundschaftlich zu. „Aber zumindest eins kann ich für Sie tun. Wenn Sie wollen, überlasse ich Ihnen das Schwert und den Schriftstein bis auf weiteres, damit Sie die eine oder andere Untersuchung auf eigene Faust durchführen können.“
Heimreise mit gemischten Gefühlen
„Und ob ich will!“, freute sich Wigg. Wenig später verließen die beiden Archäologen Stockingers Büro. Jedoch nur, um ihr angeregtes Gespräch über den so erfolgreichen Abschluss der Grabungsarbeit auf dem Kaltenberg in einer urigen Freyunger Gastwirtschaft fortzusetzen.
Am Morgen des nächsten Tages trafen sich Wigg Gleißenthaler und der Kreisarchäologe noch einmal auf dem Frauenstein zu einer abschließenden Inaugenscheinnahme des Fundplatzes. Auch eine Vertreterin der Lokalzeitung war anwesend. Wigg beantwortete ihre Fragen zum Verlauf und zum Resultat seiner Ausgrabung. Er erlaubte der Reporterin zuletzt auch, Fotos von dem römischen Langschwert zu machen, das sich zusammen mit dem Rundstein jetzt wieder in seinem Jeep befand.
In der Vormittagsmitte dann verabschiedete sich der junge Archäologe und trat die Heimfahrt nach Regensburg an, wobei er mit ziemlich gemischten Gefühlen an seine Freundin Simone dachte.
„Du hast dich wie ein Schuft benommen“
Wigg fürchtete eine weitere Auseinandersetzung mit ihr und wäre einem Zusammentreffen am liebsten vorerst noch aus dem Weg gegangen. Doch als er ihr in der Boutique gegenüberstand, schlugen seine Gefühle um. Denn einmal mehr spürte er, wie ihre starke erotische Anziehungskraft ihn reizte. Plötzlich begehrte er sie, ihren verführerischen Körper sehr intensiv. Er wünschte sich, den Streit des vergangenen Wochenendes ungeschehen machen zu können.
Simone hingegen behandelte ihn kühl; wollte ihn offenbar strafen. Erst als er sie aufforderte, ihm von dem Event am Samstag zu erzählen, taute sie ein wenig auf, und eine Viertelstunde später, nachdem er ihren begeisterten Geschichten über den Mailänder Couturier und die Kulturstadträtin mit eher gespieltem Interesse gelauscht hatte, wurde sie zugänglicher und äußerte schließlich sogar: „Du hast dich zwar wie ein Schuft benommen, aber ich verzeihe dir. Und jetzt überleg dir, wie du mich wieder ganz für dich gewinnen kannst.“
Endlich kann er sich wieder dem Fund widmen
Wigg tat sein Bestes, indem er Simone für den Abend ins derzeit angesagteste Lokal in der Regensburger Altstadt einlud – und später in der Nacht hatte das Paar in Simones Appartement im Hochhausviertel Königswiesen durchaus leidenschaftlichen Versöhnungssex. Wigg genoss es, Simones wilde, wenn auch etwas rücksichtslose Lust zu erleben; er tat alles, um sie zum Höhepunkt zu treiben, was ihm letztlich glückte – doch danach, als sie an seiner Seite schlief, empfand er ungeachtet seiner eigenen Befriedigung wie schon öfter zuvor so etwas wie leise schmerzende Leere.
In seiner eigenen Wohnung hingegen, die in der Regensburger Altstadt nahe der weltberühmten Steinernen Brücke lag, fühlte sich Wigg tags darauf geborgen. Er hatte den schönen und beruhigenden Ausblick auf die gemächlich dahinströmende Donau und die altehrwürdigen Häuser von Stadtamhof am jenseitigen Ufer. Vor allem aber konnte er sich nun wieder seinen Funden vom Frauenstein widmen: dem Langschwert und dem schwarzen Stein.
Zunächst nahm er sich den Rundstein vor und reinigte dessen Oberfläche aufs sorgfältigste. So traten die eingegrabenen Buchstaben nach und nach deutlicher hervor, und schließlich vermochte Wigg sie allesamt zu lesen. Sie bildeten offenbar einen kurzen, einfachen Satz, der aus drei Wörtern bestand, die folgendermaßen lauteten: ROMANOS VISO ULCOS.
Manfred Böckl/da Hog’n
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