(…) Angesichts dieser positiven Aussicht schlief der junge Archäologe in der Nacht gut. Allerdings träumte er intensiv von Kämpfen um Keltenfestungen, von todesmutig fechtenden Kriegern; von Druiden, die magische Beschwörungsformeln skandierten, und im Morgengrauen von einem reichen Schatzhort, der vom Gespenst eines adligen Boier-Kriegers bewacht wurde. Ein weiterer Blick in den neuen Roman „Das uralte Geflecht“ von Manfred Böckl.
Zeitig am nächsten Tag fuhr Wigg erneut zum Gipfelgrat des Kaltenberges hinauf und setzte seine Ausgrabungsarbeit fort. Knochen um Knochen legte er das Skelett weiter frei: den restlichen Teil des Brustkorbes, den rechten Arm und die übrige rechte Skelettseite vom Beckenknochen über die Beinknochen bis zum Fuß.
Etwas Metallisches stach ihn in die Augen
Kurz vor der Mittagsstunde befreite er die letzten kleinen Fußknochen von Lehm und Sand; danach legte er eine Pause ein und begutachtete einmal mehr die Gegenstände, die er im Fundzusammenhang mit dem Keltenskelett freigelegt hatte. Es handelte sich um eine stark verkrustete metallene Schnalle, vermutlich aus Eisen, die wohl zu einem Gürtel gehört hatte; zudem um einen noch recht gut erhaltenen Kamm, der aus einem Tierknochen hergestellt worden war, und schließlich um zwei zerbrochene Tongefäße, die einst wahrscheinlich Totengaben von Korn und Met oder Wein enthalten hatten.
Beim Betrachten der Gefäßscherben verspürte Wigg plötzlich Hunger und Durst; er aß zwei Müsliriegel und trank einen halben Liter pasteurisierten Kakao. Sodann machte er sich daran, nun auch die linke Skeletthälfte freizulegen. Von den unteren Rippen ausgehend, arbeitete er sich in kleinen Abschnitten bis zum Beckenknochen vor – und dann auf einmal stach ihm neuerlich etwas Metallisches in die Augen. Er stutzte – plötzlich war es ihm, als würde die Luft um ihn herum wie flirrend schwingen, und zugleich fühlte er sich unwirklich leicht; wie aus der realen Gegenwart entrückt.
Ein nussgroßer Gegenstand, der einer Kapsel gleicht
Gleich darauf aber verwichen das seltsam schwingende Flirren und das Empfinden von schwebender Entrückung wieder; wie zuvor spürte Wigg die Hitze der Mittagssonne auf seiner Haut und den schweren, lehmigen Erdboden unter seinen Knien.
Verwirrt schüttelte er den Kopf; atmete tief durch – und erinnerte sich jäh an die Entdeckung, die er soeben gemacht hatte. Hastig bückte er sich tiefer zu dem metallisch wirkenden Fleck in der unmittelbaren Nähe des Beckenknochens nieder; rieb Erdreich von ihm ab, befreite ihn vom umgebenden Lehmsand und brachte auf diese Weise einen doppelt nussgroßen Gegenstand zutage, der einer runden Kapsel glich.
Doch es war keine hohle Kapsel, wie Wigg durch vorsichtiges Beklopfen mit dem Rücken seiner Taschenmesserklinge feststellte. Das Objekt bestand vielmehr aus massivem Metall; eindeutig aus Bronze, und als Wigg jetzt auch noch einen kurzen, aber starken Metalldorn an seinem oberen Ende entdeckte, stieß er fast erschüttert hervor: „Donnerwetter! Das ist ja der typische gedrungene Stachel! Und dazu die unverwechselbare Machart! Das kann doch nur …“
Vor Aufregung war ihm schlagartig die Kehle trocken geworden; er schluckte und löste dadurch einen krächzenden Hustenanfall aus. Nachdem sich der Krächzhusten gelegt hatte, griff er nach seiner Wasserflasche und trank; danach wandte er sich wieder dem Bronzeobjekt zu, um es weiter auszugraben – aber im selben Moment summte sein Mobiltelefon.
„Ist das Herumbuddeln wichtiger als ich?“
„Verflucht!“, entfuhr es ihm; nach einem kurzen Blick auf das Display war er versucht, das Gerät abzuschalten, doch dann nahm er den Anruf an: „Ja, was willst du, Simone?“
„Du könntest mich ruhig höflicher begrüßen!“, erwiderte sie schroff.
„Entschuldige“, versetzte er. „Aber ich habe hier an meiner Ausgrabungsstätte gerade …“
„Ist schon klar“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich weiß schließlich, dass dir das Herumbuddeln bei den Hinterwäldlern wichtiger ist als ich. Doch jetzt musst du zur Abwechslung mal wieder ein wenig Rücksicht auf mich nehmen! Du musst so schnell wie möglich zurückkommen. Musst bis spätestens vier Uhr bei mir hier in Regensburg sein.“
„Warum denn? Was ist denn passiert?“, fragte er alles andere als begeistert.
„Passiert – wie du dich wieder ausdrückst!“, schnappte Simone. „Es ist nichts Schlimmes passiert. Ganz im Gegenteil! Für mich und die Boutique hat sich eine Riesenchance ergeben! Ganz kurzfristig habe ich eine Einladung zu einem enorm wichtigen Event gekriegt. Es beginnt schon um fünf Uhr mit einer megaheißen Performance auf dem Haidplatz, und danach geht’s im Thon-Dittmer-Palais weiter. Ach ja – die Einladung kam von der Müller-Schafranitzki. Du weißt schon, das ist die tolle Kulturstadträtin. Und das Event dreht sich um das Containing von Kunst in die Modebranche. Eine total krasse Sache! Besonders auch, weil die Müller-Schafranitzki den Renzoni mitbringt, diesen voll angesagten Couturier aus Mailand, der erst letzte Woche …“
„Und was habe ich mit dem Typ zu tun?“, unterbrach Wigg seine Freundin.
Die Freundin droht: „Wehe, du versetzt mich“
„Na, du musst mich begleiten!“, erwiderte sie. „Ich kann doch nicht solo bei den Promis anrücken. Wo es in der Einladung ganz klar heißt: mit Partner. Und außerdem findet es der Renzoni gewiss cool, einen Wissenschaftler wie dich kennenzulernen. Noch dazu einen, der schon mal in Rom rumgegraben hat.“
„Ich habe dort lediglich zwei Semester studiert, aber nicht archäologisch gearbeitet“, stellte Wigg richtig.
„Ist doch egal“, wischte sie seinen Einwand beiseite. „Also, du bist spätestens um vier Uhr bei mir. Ich verlasse mich auf dich!“
„Das kann ich dir nicht versprechen“, murmelte Wigg. „Ich könnte höchstens versuchen …“
„Nicht versuchen!“, kam es schroff von Simone. „Sondern tun! Und wehe, du versetzt mich!“
Damit beendete sie das Telefonat – und ließ ihren Freund einigermaßen ratlos zurück. Einerseits wusste er, wie engagiert sie sich um das Marketing für die kleine Boutique kümmerte, die sie zusammen mit ihrer Geschäftspartnerin Ilona betrieb, und deshalb verstand er durchaus, warum sie ihn mit seinem interessanten Beruf während des Mode-Events bei sich haben wollte. Andererseits jedoch war er, wie er mit großer Sicherheit ahnte, kurz davor, einen spektakulären Fund aus der Erde zu holen, und daher wollte er den Grabungsplatz jetzt nicht verlassen.
Weitere Grabeinlage – ein Schwert ist nicht alles
In seiner Ratlosigkeit warf er einen Blick auf die Uhr – es war kurz vor Eins. Wenn ich mir hier eine weitere Stunde gönne, dachte er nach kurzem Überlegen, dann kann ich es, sofern ich schnell fahre, gerade noch rechtzeitig nach Regensburg schaffen. „Jawohl, so mache ich es“, flüsterte er erleichtert im Selbstgespräch – und dann wandte er sich wieder dem bronzenen, an seinem Ende mit dem gedrungenen Stachel versehenen runden Gegenstand neben dem Beckenknochen des Skeletts zu.
Mit einem kleinen Spachtel und einem Bürstchen arbeitete er weiter und legte im Verlauf der folgenden halben Stunde das frei, was er bereits vermutet hatte: den recht gut erhaltenen Bronzegriff eines eindeutig römischen Schwerts.
Nach einiger Zeit sodann kam auch die ebenfalls noch ziemlich intakte Schwertklinge ans Licht; eine breite, schwere Eisenklinge, wie sie typisch für eine Spatha war: das zweischneidige Langschwert der Legionäre des Römischen Imperiums.
Damit aber nicht genug, denn bald nachdem Wigg die Spatha in situ fotografiert und sie danach geborgen und zunächst vorsichtig beiseite gelegt hatte, fand er eine weitere Grabbeigabe. Es handelte sich um einen flachen schwarzen Rundstein von etwa acht Zentimetern Durchmesser, den der Tote bei seiner Bestattung möglicherweise in der linken Faust gehalten hatte. Die völlig regelmäßige Form des Steins wies darauf hin, dass das Kleinod von Menschenhand gestaltet worden war – und als Wigg den Stein mit Wasser säuberte, kamen Buchstaben zum Vorschein, die allerdings da und dort kaum noch lesbar waren. Immerhin jedoch konnte Wigg die vermutlich drei Wörter der Inschrift mit einiger Mühe teilweise entziffern; er las: … MANO …IS … LCO, vermochte sich darauf allerdings keinen Reim zu machen.
„Verdammt! Ich habe Simone vergessen“
Daheim in Regensburg werde ich mehr herausfinden, dachte er, nachdem er sich minutenlang den Kopf zerbrochen hatte. Dort habe ich meine Hilfsmittel. Und im Moment ist es ohnehin wichtiger, nun auch noch die restlichen Teile des Skeletts freizulegen.
Damit machte er sich, nicht ohne die Hoffnung auf eventuelle weitere spannende Funde, von neuem an die Ausgrabungsarbeit. Aber abgesehen von den linken Bein- und Fußknochen des Schwertträgers entdeckte er trotz angestrengter Suche nichts mehr. Doch die guterhaltene römische Klinge und den Inschriftenstein hatte er der Erde entrissen; hatte sie wieder ans Tageslicht gebracht, nachdem sie viele Jahrhunderte in dem Grab auf dem Areal der Keltenfestung verborgen gewesen waren.
Als der junge Archäologe dies dachte, ließ er seinen Blick unwillkürlich über den Gipfelgrat des Frauensteins wandern, der dank seiner Arbeit nun beträchtliche historische Bedeutung gewonnen hatte. Dann auf einmal fiel ihm auf, dass die Sonne bereits tief im Westen stand – und mit dem nächsten Lidschlag wurde ihm klar: Verdammt! Ich hab total auf Simone vergessen! Hab sie sträflich versetzt!
Hastig holte er das Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer. Aber es gelang ihm nicht, mit ihr zu sprechen – sie nahm den Anruf nur an, um ihn demonstrativ sofort wieder zu beenden…
Manfred Böckl/da Hog’n
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