(…) Vorsichtig entfernte Wigg ein dickes Moospolster, das sich zwischen zwei Steinriefen des felsigen Bodens ausbreitete. Unter dem Moos kam weicher, von kleinen Kieseln durchsetzter Humus zum Vorschein, und als der Archäologe ungefähr eine Handbreit dieser dunklen Erdschicht entfernt hatte, gewahrte er einen schmalen, scharfen Metallgrat. Ein Dolch!, durchzuckte es Wigg. Oder sogar ein Schwert! Ein weiterer Blick in den neuen Roman „Das uralte Geflecht“ von Manfred Böckl.
Tief atmete er durch; dann legte er behutsam, sich mit einem kleinen Holzspatel Zentimeter um Zentimeter vorarbeitend, mehr von dem metallenen Gegenstand frei. Rostflecken unterhalb des scharfkantigen Grates zeigten ihm an, dass es sich um ein eisernes Objekt handelte; neuerlich dachte er an eine keltische Klinge – schließlich jedoch, als er das eine Ende des Eisenobjekts gänzlich vom Erdreich befreit hatte, kam die bittere Ernüchterung.
…dann packte ihn das wissenschaftliche Jagdfieber erneut
Denn die runde kräftige Metallöse mit einer maschinellen Punze, die er jetzt vor Augen hatte, gehörte ganz eindeutig der Moderne an, und nachdem Wigg seinen Fund nun rasch völlig freigelegt hatte, bewahrheitete sich die Vermutung, die er ohnehin schon gehabt hatte: Bei der vermeintlichen Keltenklinge handelte es sich realiter um ein abgebrochenes Sensenblatt, das höchstens einige Jahrzehnte alt war und aus irgendeinem Grund hier oben auf dem Frauenstein unter die Erdoberfläche geraten war.
Enttäuscht warf der Archäologe das wertlose Stück Schrott beiseite und brachte das Moospolster wieder an seinen alten Platz. Danach ging er zum Jeep, um etwas zu trinken und sich kurz auszuruhen. Doch kaum hatte er sich im Wagen niedergelassen, packte ihn das wissenschaftliche Jagdfieber erneut. Forschend ließ er den Blick über das Festungsareal gleiten; mit zusammengekniffenen Augen musterte er noch einmal die Stelle, wo er vorhin den Misserfolg gehabt hatte – und auf einmal gewahrte er zwischen diesem Platz und dem Jeep einen kaum kenntlichen, wie verschliffen wirkenden länglichen Erdbuckel.
Wahrscheinlich nur eine natürliche Bodenfalte, ging es ihm durch den Kopf. Schon wollte er den Blick wieder abwenden – plötzlich aber entschied er sich, einem unbestimmten Gefühl folgend, anders. Fast hastig stieg er aus dem Wagen, griff nach dem Detektor, der an einem Kotflügel des Jeeps lehnte, und ging mit raschen Schritten zu dem schütter mit Gras bewachsenen Buckel.
Drei-, viermal führte Wigg die Sonde über das eine Ende des Erdbuckels, ohne dass etwas geschah – dann ertönte unvermittelt ein heftiges, fast stakkatoartiges Piepsen. Beinahe erschrocken wich der junge Archäologe einen Schritt zurück; zugleich wurde ihm bewusst: Unter dem langgestreckten Buckel musste außergewöhnlich viel Metall im Boden liegen.
Befanden sich hier tatsächlich bedeutsame historische Objekte?
Im ersten Augenblick war Wigg versucht, sofort nachzugraben. Aber er beherrschte sich und arbeitete zunächst mit dem Detektor weiter. Und während er den Erdbuckel nun über dessen ganze Länge hinweg untersuchte, hörte er immer wieder starke Sondensignale, was ihm anzeigte, dass der Erdboden eine ganze Reihe von Metallgegenständen von auffallend hoher Dichte verbarg.
Die Frage war nur: Handelte es sich neuerlich bloß um Metallschrott wie zum Beispiel um irgendwelche moderne Stahlstücke – oder befanden sich hier tatsächlich bedeutsame historische Objekte in der Erde? Und um das herauszufinden, ohne womöglich brisante Geschichtszeugnisse zu beschädigen oder gar zu zerstören, gab es nur einen Weg: Wigg schaltete den Detektor ab und legte ihn beiseite; dann begann er damit, vorsichtig die mageren Grasbüschel zu entfernen, die auf dem Buckel wuchsen.
Nach einer Stunde hatte der Archäologe nicht nur den Grasbewuchs des Erdbuckels beseitigt, sondern auch eine Humusschicht von ungefähr zehn Zentimetern Dicke abgetragen. Er legte eine kurze Pause ein, um erneut etwas zu trinken; danach arbeitete er sich langsam und jetzt unter Einsatz eines Spachtels durch Lehm, der da und dort durch Sandeinschüsse aufgelockert war.
In der Vormittagsmitte sodann fand er ziemlich am Rand des nun schon deutlich zusammengeschrumpften Buckels eine Patronenhülse aus Messing, die wahrscheinlich aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert stammte. Wigg grinste, denn er wusste, dass zu jener Zeit im Bayerischen Wald häufig gewildert worden war. Nachdem er die Hülse notdürftig gereinigt und sie in seiner Umhängetasche verstaut hatte, machte er mit der Spachtelarbeit weiter – und kaum fünf Minuten später stieß er direkt am Buckelrand auf zwei hart nebeneinander liegende Steinquader, die eindeutig grob behauen worden waren.
„Wahnsinn! Es ist eine Grabumrandung“
Die Hoffnung des jungen Archäologen auf einen bedeutenden Fund stieg, und bis zum Mittag hatte er ein komplettes Steinoval von etwa zwei Metern Länge freigelegt, welches den Buckel vollständig umschloss. Damit lag eine ganz bestimmte Vermutung nahe, und Wigg sprach sie flüsternd aus: „Wahnsinn! Es ist eine Grabumrandung!“
Dies war tatsächlich der Fall. Und das Grab war auch nicht leer, wie sich im Verlauf der folgenden Stunden herausstellte. Denn während die Nachmittagssonne langsam über die Forste und Bergkuppen des Bayerwaldes wanderte, befreite der Archäologe nach und nach den Schädel und einen großen Teil vom Oberkörper eines menschlichen Skeletts von Lehm und Sand. Der Boden auf dem Frauenstein hatte die Gebeine recht gut erhalten; auch die Zähne im Totenschädel waren noch weitgehend intakt, und angesichts dieser Umstände konnte Wigg Geschlecht und Alter des hier bestatteten Individuums grob einschätzen: Es handelte sich um einen Mann, der mit ca. fünfzig Jahren verstorben war.
Wiederum eine Stunde später vermochte der Archäologe zudem die Frage zu klären, aus welcher historischen Epoche das Skelett stammte. Denn beim behutsamen Weitergraben fand Wigg zwischen linkem Schlüsselbein und Schulterblatt des Gerippes eine keltische Gewandfibel aus Bronze, die sich aufgrund ihrer speziellen Ornamentik in die Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts datieren ließ: in eine Zeit, da das Römische Imperium seine Nordgrenze bis an die Donau vorgeschoben hatte, während nördlich des Stromes, im Schutz der tiefen Wälder, noch freie Siedlungen existiert hatten, wo Keltensippen vom Stamm der Boier lebten.
Womöglich war der Tote ein herausragender Krieger
Einer dieser keltischen Sippenverbände hatte wohl die Bergfestung auf dem Gipfel des Kaltenberges errichtet – und der Mann, der vor beinahe zwei Jahrtausenden hier oben bestattet worden war, hatte mutmaßlich in irgendeiner besonderen Verbindung zu der Festung gestanden. Womöglich war er ein herausragender Krieger und gehörte damit dem Boier-Adel an, überlegte Wigg.
Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, strich ein kühler Luftzug über ihn und das Grab hin; als der Archäologe unwillkürlich aufblickte, sah er, dass die Sonne bereits hinter den Baumkronen eines hochgelegenen Bergwaldes im Westen verschwand. Im selben Moment spürte Wigg, wie müde und hungrig er war; den ganzen Tag über hatte er fast pausenlos gearbeitet und angesichts seiner faszinierenden Entdeckung sogar auf den kalten Imbiss verzichtet, den er sonst mittags immer zu sich genommen hatte.
„Genug für heute, morgen ist auch noch ein Tag“, murmelte er. Mit dem nächsten Atemzug wurde ihm bewusst, dass das Wochenende vor der Tür stand; gleichzeitig kam ihm seine Freundin Simone in den Sinn, und sein Gesicht verspannte sich.
Er sah sie beinahe wie eine Bedrohung vor sich
Mit rascher, beinahe heftiger Bewegung griff er nach dem Detektor, um das Gerät wieder im Jeep zu verstauen. Doch dann entschied er sich anders. Er schaltete die Sonde noch einmal an und ließ sie ein weiteres Mal über der Grabstätte hin und her schwingen. Und neuerlich hörte er das heftige, fast stakkatoartige Piepsen, das ihm anzeigte, dass sich in der Erde des Keltengrabes sehr viel und vielleicht auch sehr wertvolles Metall verbarg.
Sinnend schaute Wigg noch ein paar Minuten auf das Grab; sodann deckte er die Ausgrabungsstätte provisorisch mit einer Plane ab, brachte seine Utensilien zum Wagen und fuhr nach Ringelai zurück. In der Hotelgastwirtschaft gönnte er sich einen Schweinebraten mit Knödeln und zwei Glas Bier; sein Mobiltelefon hatte er gleich beim Betreten der Wirtsstube vorsorglich abgeschaltet.
Schließlich aber, als er sein Essen bezahlte, wurde ihm klar, dass er einem Telefonat mit Simone nicht länger aus dem Weg gehen konnte. Erneut mit verspannter Miene ging er auf sein Zimmer und aktivierte sein Telefon wieder. Kaum hatte das Display aufgeleuchtet, kam ein Anruf; Wigg erblickte den Namen seiner Regensburger Freundin und sah sie beinahe wie eine Bedrohung vor sich: eine durchaus attraktive Endzwanzigerin mit verführerischem Körper und raffiniert gestylten rötlich-braunen Afrolocken – doch in ihren blassgrünen Augen lag etwas Kühles, fast Kaltes, das Wigg schon seit Monaten wie eine Kluft zwischen Simone und sich empfand.
Unmittelbar darauf beendete sie das Telefonat…
Mit gepresster Stimme meldete er sich: „Grüß dich. Wollte dich auch gerade anrufen.“
„Tatsächlich?! Ich versuche seit einer Stunde, dich zu erreichen.“ In ihren Worten schwang ein aggressiver Unterton mit.
„Bitte entschuldige. Ich hatte wohl vergessen, das Handy …“ Er schämte sich wegen seiner Lüge und fuhr fort: „Aber was ich dir sagen muss. Meine Ausgrabung hat sich plötzlich …“
„Wann kommst du endlich zurück?!“, unterbrach sie ihn. „Andere Leute gehen am Freitagmittag ins Weekend. Und du … Ich hoffe, du sitzt wenigstens schon im Auto!“
„Tut mir leid …“ Seine Hand umkrampfte das Telefon. „Aber ich sagte dir ja gerade, dass die Grabung …“
„Bist du etwa noch immer in Ringelai?! In diesem blöden Hinterwäldlerkaff?!“, fauchte sie.
„Jawohl!“, stieß er, wütend nun, hervor. „Und ich werde auch das Wochenende über hierbleiben. Weil ich nämlich einen wissenschaftlich hochinteressanten Fund gemacht habe. Einen Fund aus der späten Keltenzeit, der möglicherweise sogar …“
„Steck dir deinen Scheißfund sonst wo rein!“, schrie Simone – und unmittelbar darauf beendete sie das Telefonat.
Fortsetzung folgt…
Wigg seufzte resigniert; dann schlug seine Stimmung jäh um, und er fühlte sich beinahe erleichtert. An die Streitereien mit Simone hatte er sich in letzter Zeit ohnehin fast schon gewöhnen müssen, weshalb sie ihm nicht mehr sonderlich nahegingen. Außerdem würde die neuerliche Auseinandersetzung vermutlich den Effekt haben, dass seine problematische Freundin so schnell nicht noch einmal anrufen würde – und dies wiederum bedeutete: Mit einigem Glück konnte er sich über das Wochenende ungestört seiner Ausgrabung auf dem Frauenstein widmen…
Manfred Böckl/da Hog’n
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