FRG. Die Corona-Zahlen im Landkreis Freyung-Grafenau hielten sich lange Zeit in Grenzen. Mitte Oktober überschritt man dann erstmals den Frühwarnwert von 35 bei der 7-Tage-Inzidenz. Mitte November lag man plötzlich mit einem Wert von über 400 bundesweit an der Spitze, da sich das Infektionsgeschehen „rapide, diffus und flächendeckend“ entwickelte. Landrat Sebastian Gruber appellierte an die „Vernunft, Disziplin und Zuversicht“ der Bevölkerung – und reagierte in den Augen vieler mit Besonnenheit und Umsicht. Schulen und Betriebe sollten weiter offen bleiben. Doch es gab (und gibt) auch kritische Stimmen.
Den FRG-Weg will Gruber auch weiterhin beschreiten, wie im folgenden Interview mit dem Onlinemagazin da Hog’n klar wird. Wie verschiedene Medien berichten, wird es im Laufe dieser Woche zu weiteren, verbindlichen Regeln seitens des Bundes und der Länder kommen. Ministerpräsident Markus Söder verlautbarte dazu, dass der Teil Lockdown im Dezember „verlängert und auch weiter vertieft“ werden müsse. Gruber ist dennoch überzeugt: „Wir müssen uns Handlungsoptionen offen halten und dürfen keine emotionalen Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen.“
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Herr Gruber: Hatten Sie vor der Pressekonferenz am vorvergangenen Sonntag (15. November) bzw. danach Kontakt zu Ministerpräsident Markus Söder?
Vor der Pressekonferenz gab es keinen Kontakt zwischen dem Ministerpräsidenten und mir in dieser Sache. In den vergangenen Wochen gab es zahlreiche Gespräche mit der Regierung von Niederbayern, dem Gesundheitsministerium sowie dem LGL. Im Laufe vergangener Woche hatte ich darüber hinaus auch Kontakt mit Herrn Staatssekretär Klaus Holetschek und Ministerpräsident Söder. Es ging dabei um die Lage im Landkreis und deren Bewertung.
„Leider sind aber manche uneinsichtig“
Vergangene Woche einigten sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten vorerst auf gewisse Appelle an die Bevölkerung – u.a. wurden die Bürger dazu aufgefordert ihre Kontakte deutlich zu reduzieren. Was halten Sie von den Appellen?
Wenn die Bürgerinnen und Bürger die Inhalte der Appelle umfänglich unterstützen und sich in ihrem persönlichen Verhalten größtenteils auch daran orientieren, dann können hierdurch spürbare positive Effekte im Infektionsgeschehen die Folge sein. Eigenverantwortung ist nach wie vor wichtig und ein wesentlicher Beitrag zu einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung durch jeden Einzelnen. Leider sind aber manche uneinsichtig oder einfach nur stark nachlässig bei der Beachtung der Schutzmaßnahmen.
Schulen und Kitas im Landkreis bleiben weiterhin geöffnet: Wann sehen Sie den Punkt gekommen, diese Einrichtungen zu schließen, wie bereits jetzt nicht wenige Landkreis-Bürger fordern?
Beschulung und Betreuung von Kindern in Einrichtungen hat zurecht und aus verschiedenen Gründen eine sehr hohe Priorität. Jegliche Umstellung an den Schulen verursacht Betreuungsbedarf, der in vielen Fällen durch Großeltern oder Nachbarschaftshilfe gedeckt werden muss – und damit zu einem Anstieg der „Nicht-AHA-Kontakte“ führt. Die Lehren aus dem Frühjahr sind, dass man differenzierter, spezifischer und lokaler agiert. In den Schulen im Landkreis ist derzeit kein verstärktes Infektionsgeschehen festzustellen und somit nach wie vor kein Cluster. Das Infektionsgeschehen sinkt dort eher in den letzten Tagen, was aber nur eine Momentaufnahme ist – und jeden Tag neu bewertet werden muss. Die Zahlen zwingen uns noch nicht in einen Wechselbetrieb einzusteigen. Das zeigt uns im Übrigen, dass die Hygienekonzepte der Schulen und Kindertageseinrichtungen funktionieren.
Wir stimmen uns sehr regelmäßig im Rahmen von Videokonferenzen mit den Vertretern des Gesundheitsamtes, des Schulamts, der Gymnasien, Realschulen, FOS/BOS und Berufsschulen ab, so dass wir ggf. kurzfristig tätig werden können. Wenn Infektionsfälle in Schulen bekannt werden, reagieren wir – in enger Abstimmung mit den Schulleitungen – mit klassenweisen Reihentestungen und Quarantänemaßnahmen. Wir halten ein sehr spezifisches und differenziertes Vorgehen nach wie vor für angemessen. Heißt konkret: Wir prüfen täglich und legen fest, welche Maßnahmen wir für einzelne Schulen als sinnvoll erachten. Damit setzen wir auch die vom LGL für ganz Bayern vorgegebene Vorgehensweise um.
FRG und der „Fluch der kleinen Zahl“
Stichwort Verantwortung/Entscheidungsmacht: Ist es Ihnen in Ihrer Position als Landrat angenehmer, wenn gewisse Corona-Vorgaben bzgl. Maßnahmen, Beschränkungen etc. von „oben herab“, sprich: Bundes- und Länderebene, entschieden werden? Oder behalten Sie das Heft lieber in der eigenen Hand?
Diese Pandemie ist eine weltweite Herausforderung für die gesamte Menschheit. Je abgestimmter und koordinierter deren Bekämpfung organisiert wird, desto effektiver werden wir sein. Somit bedarf es einer Abstimmung aller Maßnahmen auf internationaler, nationaler und auch regionaler Ebene. Die Arbeit der Landratsämter/Gesundheitsämter vor Ort ist aber auch den regionalen Gegebenheiten anzupassen. Deshalb sind Regelungen sowohl auf Bundes- und Landesebene, als auch regionaler Ebene notwendig. Insgesamt sind in der aktuellen Situation gesamtstaatliche Leitplanken wichtig, genauso wie eine lokale Analyse und Bewertung der Lage.
Generell: Halten Sie die Inzidenzwertberechnung für den Flächen-Landkreis Freyung-Grafenau für sinnvoll?
Der Inzidenzwert einer Region ist nicht alleine ausschlaggebend, um das regionale Infektionsgeschehen umfassend zu bewerten. Wir müssen dabei auch auf die regionale Konzentration von Infektionen in einzelnen Orten oder Gebieten achten. In unserem Landkreis spüren wir in diesem Zusammenhang auch den sog. „Fluch der kleinen Zahl“ – will heißen, dass sich aufgrund der geringen Einwohnerzahl bereits ein Ausbruchsgeschehen mit wenigen Infizierten sehr stark auf den regionalen oder altersspezifischen Gesamtwert auswirkt. Und neben dem Inzidenzwert ist die Altersverteilung der Infizierten ein sehr aussagekräftiger Indikator zur umfassenden Bewertung des regionalen Infektionsgeschehens. Bei unserer täglichen Lagebeurteilung schauen wir aber auch sehr genau auf die Belastung der Intensiv- und Beatmungskapazitäten in unseren Kliniken.
„Dürfen keine emotionalen Entscheidungen treffen“
Viele Gastronomen und weitere von Schließungen betroffene Betriebe beklagen, dass sie trotz zahlreicher in den vergangenen Monaten aufgestellter Hygienemaßnahmen und -konzepte neuerlich zusperren mussten. Können Sie einerseits diese Maßnahme nachvollziehen – und andererseits die Bedenken der Gastronomen?
Ich kann sowohl die getroffenen Maßnahmen, als auch die Bedenken der Betroffenen nachvollziehen. Wirtschaft, Industrie und Handel sowie Schule haben oberste Priorität, um ein möglichst geregeltes Leben in unserem Land aufrecht zu erhalten. Um ein exponentielles Wachstum der Infiziertenzahlen und damit eine Überlastung unserer Kliniken zu vermeiden, müssen wir aber gleichzeitig die Summe aller direkten menschlichen Kontakte um idealerweise 75 Prozent reduzieren. Diese, in der jetzigen Situation lebenswichtige Kontaktreduzierung ist aber nur mit Priorisierung und Festlegung kontaktintensiver Bereiche – wie Freizeit, Gastronomie, Urlaub, usw. – realistisch umsetzbar. Wenn die Einschränkungen in diesen Bereichen aber zum Schutz unserer Bevölkerung jetzt notwendig sind, dann hat die Gesellschaft und somit der Staat auch die Verpflichtung zur Entschädigung und Kompensation dieser Bereiche.
Kritische Stimmen behaupten: „Dieses Nichthandeln wird uns in ein bis zwei Monaten auf die Füße fallen“ – was entgegnen Sie diesen?
Ich nehme diese Stimmen durchaus ernst und reflektiere unsere Entscheidungen auch stets unter diesem Blickwinkel. Aber in der „Position des Entscheiders“ kann man nicht zuwarten, sonst schließt sich ein Zeitfenster dauerhaft. Wir müssen uns Handlungsoptionen offen halten und dürfen keine emotionalen Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen. Die Corona-Koordinierungsgruppe im Landkreis Freyung-Grafenau ist in ihrer Arbeitsweise sehr effektiv und überlegt. Sie wägt ab, bespricht und berät sich, analysiert Zahlen, Daten, Fakten und entscheidet wohl überlegt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Wir prüfen und bewerten täglich das aktuelle Infektionsgeschehen und sind auch in der Lage kurzfristig entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
„Vor Ort sind uns kaum fehlerhafte Tests bekannt“
Auch die Test-Strategie mit sog. PCR-Testungen wird immer wieder kritisch betrachtet. Diese Tests seien nicht aussagekräftig bzw. würden zu fehlerhaften Ergebnissen führen. Wie betrachten Sie diese Aussagen?
Wir haben in den vergangen Wochen seit Inbetriebnahme unserer Testzentren über 20.000 Testungen vorgenommen. Vor Ort sind uns kaum fehlerhafte Tests bekannt. Jedes der heute bekannten SARS-CoV-2-Testverfahren ist nicht zu 100 Prozent fehlerfrei. Die Testergebnisse leisten aber einen entscheidenden Beitrag zum frühzeitigen Erkennen von Infektionsfällen und ermöglichen daher erst eine Kontaktverfolgung bei asymtomatischen Personen. Leistungsfähigere andere Optionen stehen uns aktuell auch nicht zur Verfügung.
Vielen Dank, dass Sie sich für die Beantwortung unserer Fragen Zeit genommen haben.
die Fragen stellte: Stephan Hörhammer