Mauth/Freyung. Wenn man einen geliebten Menschen verliert, so hat dies meist tiefe Trauer und manchmal auch Verzweiflung zur Folge. Franz Staller, dem fast vergessenen Kunstmaler aus Mauth, ist es nach dem Tod seiner schwer erkrankten Frau Sophia nicht viel anders ergangen, wie die ebenfalls bereits verschiedene Zeitzeugin Inge Poxleitner (geborene Lenz) in ihren Aufzeichnungen schildert. Ein Dokument, das der Freyunger Heimatforscher Max Raab analysierte und für historisch wertvoll betrachtet. Auch im sechsten Teil unserer Serie über Franz Staller geben wir die Erinnerungen der damals Heranwachsenden wortgetreu wieder.
Das Mauth-Haus war schon etwas Besonderes. Es war das erste errichtete Haus am Goldenen Steig in unserem Ort, die Wurzel und der Beginn unseres Dorfes. Für mich war der spätere Abriss dieses Denkmals eine sehr traurige Angelegenheit.
Der Schwarztee ersetzte Arzt und Ofen
Der Hausflur, das Flöz, war mit großen Steinplatten belegt. Eine alte, ausgetretene Holztreppe führte in das obere Stockwerk. Im Erdgeschoss befand sich im hinteren Teil des Hauses das sogenannte Plumpsklo mit dem an einem Nagel hängenden Zeitungspapier. Es war ein kleines, stilles Örtchen, aus Brettern zusammengenagelt, ohne Licht. Für Sophia Staller sicher eine schwierige Sache. Im Obergeschoss gab es an der Vorderseite ein verschlossenes Kämmerlein. Es war gefüllt mit allerlei herrlichem Gerümpel, eine Freude für alle Dachboden-Stöberer der heutigen Zeit.
Im hinteren Teil des oberen Stockwerks befand sich das Zimmer der Stallers. Im Gang herrschte völlige Dunkelheit, es gab kein Fenster. Die Eingangstüre fand man nicht, ohne vorherige Kenntnisse der Türlage zu haben. Im Zimmer selbst gab es zwei Fenster an der Südseite. Die Fenster waren noch aus der Entstehungszeit des Hauses und dementsprechend alt und zugig. Da brauchte es keine Durchlüftung, der Wind blies von ganz alleine durch den Raum. Für das Ehepaar Staller war der kalte Winter ein Martyrium. Sehr viel zu leiden unter der Winterskälte hatte Sophia Staller. Sie war ja ein ziemlich feines, kleines Persönchen. Sie fror und fror im Winter. Erschwerend hinzu kam die unzureichende Nahrung.
Einen Arzt kannte die Familie Staller nicht. Ich habe zumindest nie erlebt, dass sie einen Arztbesuch hatten. Die Folgen der Entbehrungen, häufige Krankheiten, setzten Sophia Staller stark zu. Das einzige Mittel gegen Krankheit und Kälte war der schwarze Tee: Er ersetzte Arzt und Ofen. Meine Mutter kannte ihre Situation gut und gab ihnen immer Schwarztee.
Sie nannte mich immer ihre liebe Freundin
Sophia Staller verließ nie ihren Wohnbereich. Nur an schönen, warmen Tagen ging sie die Dorfstraße entlang spazieren. Ich begegnete ihr oft. Sie freute sich immer sehr über eine kurze Plauderei mit mir. Vieles habe ich nicht behalten, was sie erzählte. Sie nannte mich immer ihre liebe Freundin. Diese Freundschaft hat Frau Staller mir in meinem Poesiealbum mit einem Gedicht bestätigt. Es lautet wie folgt:
Du bist wie eine Blume
so hold, so schön, so rein
Ich sehe dich an und Wehmut
schlich mir ins Herz hinein.
Mir ist’s als ob ich die Hände
aufs Herz dir legen sollt,
Betend, dass Gott dich erhalte,
so rein, so schön, so hold.
Das alles verzierte sie am Schluss mit einer schönen Blumenmalerei und endete mit den Worten:
Deine mütterliche Freundin, Sophia Staller, Kunstmalersgattin, Bergdorf Mauth 1941
Daneben hatte mir auch ihr Ehemann eine Seite gewidmet mit folgendem Text:
Zur freundlichen Erinnerung an Franz Staller, Kunstmaler im Kriegsjahr 1941
Dazu malte er mir eine sehr schöne Landschaft mit einem kleinen Häuschen, umgeben von Berg und Wald. Darunter setzte er den dazu passenden Spruch:
Leise zittert der Rauch – bergauf
du knorrige Welt
von Bergen umstellt
Häuslein klein
kannst ruhig sein
Diese Widmung ist für mich eine schöne Erinnerung an meine Jugendzeit, mit der lebenslangen Erinnerung an die faszinierenden, unbekannten, großartigen Künstleroriginale Sophia und Franz Staller. Beide tief gottgläubige Menschen im Inneren ihrer Herzen.
Sophia Staller und ihre Katzen
Wenn Sophia Staller Geburtstag hatte, ging sie durch das Dorf, gekleidet wie ein junges Mädchen. Ihr langes, graues Haar flocht sie zu zwei Zöpfen, welche sie mit Schleifen verzierte. Sie freute sich sehr, wenn man ihr gratulierte. Niemand jedoch erfuhr, wie alt sie war. Geschenke gab es keine.
Ich erinnere mich nur, eine Nachbarsfrau, Berta Kandlbinder, brachte den Stallers manchmal eine Schwammerlsuppe zum Mittagstisch. Auch mich schickte meine Mutter manchmal zu den Stallers mit etwas Essbaren. Ängstlich tastete ich mich durch den dunklen Flur zur Wohnungstür, legte das Essen vor den Eingang und verließ fluchtartig den unheimlichen Zugang zu Stallers Gruselkabinett – so empfand ich es zumindest zu dieser Zeit. Es war ja bekannt, dass niemand den Wohnraum der Stallers betreten durfte und konnte. Auch meine Mutter scheute manchmal den näheren Umgang mit Franz Staller. Der Grund dieser Scheu war seine hypnotisierende Ausstrahlung in Verbindung mit seiner Kleidung und seinem Äußeren.
Solange ich die Stallerleute kannte, hatten sie Katzen. Es waren Sophia Stallers Lieblinge. In ihrem Wohnraum lebten immer mehrere Katzen. Wie viele genau, wusste niemand. Die Katzenmutter, Frau Staller, war viel allein. Franz Staller war ja viel unterwegs. Stundenlang saß sie am Fenster und beobachtete das Dorfleben. Am Fenstersims saßen all ihre Katzen und taten dasselbe. Nie durften die Katzen den Raum verlassen. Sie schliefen mit dem Ehepaar im Bett. Im Winter waren es Wärmespender. Ihre kärgliche Mahlzeit teilten sie mit ihnen. Milch erhielten die Stallers von den Hausbesitzern. Die Blöchls hatten eine Landwirtschaft mit einigen Kühen.
Die Katzen der Stallers waren wohl auch ein Ersatz für ihre fehlenden Kinder. Jede der Katzen hatte ein Schleifchen um den Hals. Wie viele Nachkommen sie in die Welt setzten, weiß ich nicht. Oft bettelte Franz Staller in der Metzgerei Schinabeck um Abfälle für die Tiere. Sicher gab es für sie auch Hungertage. Zuwachs gab es aber sicher in den beengten Wohnverhältnissen. Die Kinder im Dorf zählten oft die Anzahl der am Fenstersims sitzenden Katzen.
Ein Chaos – Künstler brauchen das wohl
Wie mir noch in Erinnerung ist, wurde Franz Staller oft gehänselt und ausgelacht von den Dorfkindern – und doch hatten sie Angst und gingen ihm aus dem Weg. Von meiner Mutter hörte ich oft die Worte, wenn er im Laden war und wieder kein Geld bzw. keine Lebensmittelmarken mehr hatte: „Nein Herr Staller, ich will Ihre Bilder nicht mehr. Ich habe schon so viele davon. Behalten Sie sie, was soll ich damit.“
Er fragte mich oft, ob er mich malen dürfte. Niemals habe ich zugesagt. Diese Vorstellung war schrecklich für mich. Diesen Mann vor mir zu haben, sein Gesicht anzusehen, seinen Blicken ausgesetzt zu sein – Todesängste wären das für mich gewesen. Doch Franz Staller hatte es nur gut gemeint – und er hätte Arbeit gehabt und einen Verdienst in bescheidenem Masse. Heute bedauere ich es sehr, dass vom Kunstmaler Staller und seiner Frau kein einziges Bild erhalten ist, auch keine Fotografie.
Nur zu gerne hätten die Dorfbewohner aus Neugier den Wohnraum der beiden Stallers gesehen. Gerüchte gab es genug darüber. Nur einmal konnte ich das Zimmer betreten. Nicht viele Erinnerungen blieben mir davon: Da stand ich wieder mal vor der dunklen Wohnungstür um etwas abzulegen. Zu schnell ging die Tür auf und er stand vor mir. Plötzlich stand ich im Zimmer, wusste kaum, wie mir geschah. Schnell nahm ich das Umfeld in mir auf. Es herrschte gedämpftes Tageslicht. Die Wände und Decken waren schon verrußt und dunkel, das Paar wohnte bereits Jahrzehnte in diesem Raum. Es herrschte eine völlige Unordnung, ich konnte das Mobiliar kaum erkennen. Ein alter Eisenofen stand auf einer Seite, Töpfe standen umher. Ein wenig Holz lag am Boden. Zwischen den beiden Fenstern stand Franz Stallers Staffelei. Ein alter Tisch war da, darauf standen Farbtöpfe und allerlei Malutensilien – ein Chaos. Künstler brauchen das wohl. Es gab viel Papier, teils zum Heizen, teils zum Malen. Halbfertige Bilder lagen umher.
Wir hatten ihn noch nie so traurig gesehen
Letztlich freute sich Franz Staller über meinen Besuch. Er redete mit mir, vor Angst verstand ich aber nichts. Mein Blick hing an der Tür – mein Fluchtweg. Das Zimmer war groß, aber es herrschte ein unglaubliches Wohndurcheinander. In dieser chaotischen Unordnung, auf allen Sachen, saßen die Katzen. Eilig und verängstigt schaute ich rechts zur Türe, wo ein Eisenbettgestell stand. Darin sah ich Frau Staller liegen. Das Bett und das, was wie Bettzeug aussah, war in erbärmlichem Zustand. Auch der Zustand von Sophia Staller war so erbarmungswürdig, dass ich erschrak. Sie begrüßte mich erfreut mit leiser Stimme. Diese Bild des Elends sehe ich heute noch vor meinen Augen. Sie war schon längere Zeit krank und konnte den Raum nicht verlassen. Doch niemand fragte nach ihrem Befinden. Es gab weder einen Arzt noch Medikamente. Traurig, wenn ich nun darüber schreibe. Traurig verließ ich auch den Wohnraum der Eheleute.
Sophia Staller habe ich dann nicht mehr gesehen. Sie hatte soviel gelitten. Sie war eine feine, gebildete Dame – auch in dieser Zeit (und an diesem Ort). Franz Staller pflegte sie bis zu ihrem Tode. Sie starb völlig entkräftet durch Hunger und Kälte. Über den tragischen Todesverlauf waren meine Mutter und ich sowie viele Dorfbewohner zutiefst erschrocken und traurig. Sie starb am 30. August 1948 und wurde 82 Jahre alt. Für Franz Staller war es ein schwerer Verlust (nach 40 Jahren Ehe) – und wir hatten ihn noch nie so traurig gesehen. Ein tiefer Schmerz ruhte in seiner, uns verschlossenen Seele.
Die Stallers waren katholisch, genauer gesagt: er katholisch, sie evangelisch. Jetzt begannen die Jahre des Alleinseins für den Kunstmaler. Sophia Stallers Grabstätte müsste im Friedhof Mauth sein. Doch es gibt jetzt keine Hinweise mehr dazu. Der Mantel des Vergessens deckte sie zu…
Max Raab/ da Hog’n
Im siebten Teil unserer Staller-Serie berichtet Inge Poxleitner darüber, wie Franz Staller nach dem Tod seiner Frau Auftragsarbeiten erhielt, wie er sich selbst sah – und was sie so erschüttert machte, wenn sie an ihn zurückdenkt…