Philippsreut. Im November des Jahres 1923 litt die Bevölkerung enorm unter der Inflation. Ein Pfund Brot kostete fünf Milliarden Reichsmark, ein Sack Kartoffeln gar 39 Milliarden. Es mangelte an Grundnahrungsmitteln. Das Wenige wurde gehortet, niemand wollte etwas verkaufen. Es herrschte bittere Not. Ein Gastbeitrag von Kreisheimatpfleger Gerhard Ruhland.

Zollpatrouille bei Vorderfirmiansreut: Solche Patrouillen sollten den Schmuggel an der „Grünen Grenze“ eindämmen. Dabei kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen zwischen den Schmugglern und den Vertretern der Staatsgewalt. Fotos: Ernst Dorn
Für die Grenzbevölkerung an der Grenze zur Tschechoslowakei gab es jedoch ein Hintertürchen: Der Tauschhandel mit den benachbarten Tschechen half die Not etwas zu lindern. Für Flachs und selbst gefertigten Holzdraht konnte man jenseits der Grenze Lebensmittel eintauschen. Aber das galt als Schmuggel und war verboten.
„Die Situation drohte zu eskalieren“
Die bayerischen Grenzbeamten in Kleinphilippsreut (das später in Philippsreut umbenannt wurde) und in den anderen Grenzwachtstationen sollten die „Grüne Grenze“ mit aller Schärfe überwachen. Das taten sie – und die einheimische Bevölkerung hegte gegenüber den Grenzaufsehern deshalb eine unverhohlene Abneigung.
Die Vorgeschichte der Revolte
Am 23. November 1923 machten sich gegen Abend etwa 20 Schmuggler aus Annathal auf den Weg zur nahen Grenze. In ihren prall gefüllten Rucksäcken schleppten sie Flachs und Holzdraht. Bei Vorderfirmiansreut stellten zwei Grenzaufseher die Schmuggler. Die Situation drohte zu eskalieren. Partout wollten die Schmuggler der Aufforderung nicht nachkommen, zum Zollamtsgebäude in Kleinphilippsreut mitzukommen.
Sie gingen zum Angriff auf die Zollaufseher über, diese antworteten mit Warnschüssen. Die Schmuggler legten daraufhin die mit Schmuggelgut gefüllten Rucksäcke ab. Aber die Situation blieb brisant. In der Zwischenzeit hatten sich zahlreiche Bewohner von Vorderfirmiansreut am Schauplatz eingefunden. Sie drohten den Beamten, beschimpften sie – und ermunterten die Schmuggler, die Rucksäcke wieder aufzunehmen.
Josef Stadler aus Herzogsreut wurde tödlich getroffen
Ein Vorderfirmiansreuter schoss, die Kugel pfiff haarscharf am Kopf eines der Grenzer vorbei. Daraufhin zogen sich die beiden Aufseher nach Philippsreut zurück, wo sie zwei weitere Beamte als Verstärkung rekrutierten. Man wollte die Schmuggler bei deren Rückkehr unbedingt erwischen. Diese stapften währenddessen mit ihrem Schmuggelgut munter in Richtung Grenze weiter. Die vier Beamten postierten sich in einer Schutzhütte in der Nähe des Friedhofs und lauerten.
Der Todesschuss

Das ehemalige Zollamtsgelände in Philippsreut. Bei der „Revolte“ im Jahr 1923 stand dieses Gebäude im Zentrum des Geschehens.
Die Nacht brach herein. Es war mondhell, leichter Schnee bedeckte das Gelände. Auf einmal tauchten gegen 23.30 Uhr zwei Männer, offensichtlich von der Grenze her kommend, aus einem Waldstück bei Marchhäuser auf. Die auf der Lauer liegenden Grenzer entdeckten sie und riefen: „Halt! Grenzwache!“ Sofort flohen die Schmuggler Hals über Kopf. Reflexartig feuerten die Grenzer den Flüchtenden einige Male hinterher.
Mit fatalen Folgen: Einer der beiden Flüchtigen, der 18-jährige Josef Stadler aus Herzogsreut, brach zusammen. Eine Kugel der Grenzer hatte ihn tödlich am Hinterkopf getroffen. Sein Kompagnon Franz-Xaver Schmeizl ließ den Toten liegen und türmte.
Sie wollten den Todesschuss vertuschen
Als die Grenzaufseher den Getroffenen entdeckten, waren sie zutiefst bestürzt. Ein Toter! Hastig montierten sie ein Sitzbrett in der Hütte ab, legten den reglosen Körper darauf und transportierten ihn heimlich in das Zollhaus in Philippsreut.
Als am nächsten Tag der Kommandant der Gendarmerie erschien, begingen die immer noch unter Schock stehenden Grenzer einen verhängnisvollen Fehler. Sie wollten den Todesschuss vertuschen: Den Josef Stadler habe ein Herzschlag dahingerafft. Die kleine Wunde am Kopf sei durch den Nagel verursacht worden, der sich auf dem Brett befand, auf das man den Toten gebettet hatte. Eine Lüge mit üblen Folgen.
Rädelsführer hetzten gegen die Grenzbeamten auf
In der Zwischenzeit hatte nämlich die Bevölkerung von Philippsreut und den benachbarten Dörfern Wind von der Sache bekommen. Sie glaubten den Grenzern nicht, bezweifelten die Todesursache „Herzschlag“. Aufgebrachte Bewohner suchten auf eigene Faust die Unglücksstelle ab. Sie wurden fündig. Blutspuren im Schnee! Und schließlich entdeckten sie auch noch den von einer Kugel durchbohrten Hut von Josef Stadler.
Jetzt braute sich Übles zusammen. Rädelsführer hetzten die Bevölkerung gegen die Grenzbeamten auf.
Die Revolte
Am Sonntag, den 25. November 1923, versammelten sich etwa 300 Personen vor dem Zollamt in Kleinphilippsreut. Es brodelte. Sie wollten die Leiche sehen, notfalls unter Anwendung von Gewalt. Die Verantwortlichen gaben nun die wahre Todesursache bekannt. Das beruhigte die Lage keineswegs. Erzürnte Protestierer bauten sich drohend vor der Privatwohnung des Grenzers auf, den sie als Todesschützen verdächtigten.
Die Diensthütte der Grenzer ging in Flammen auf
Eine Horde Rachsüchtiger stürmte das Haus, durchsuchte jeden Raum. Sie entdeckten den Beamten, der um sein Leben fürchtete. Mit roher Gewalt stürzte man ihn die Treppe hinab, Lynchjustiz drohte. Buchstäblich in letzter Sekunde gelang dem verzweifelten Beamten die Flucht, er rettete sich ins Zollamt. Doch auch dort war er nicht in Sicherheit, der Mob drängte nach.
Todesmutig versuchte der Gendarmerie-Kommandant, mit vorgehaltenem Revolver die Menge an der Stürmung des Zollgebäudes zu hindern. Er riskierte dabei sein Leben. Morddrohungen wurden ausgestoßen, körperliche Angriffe auf Zollbeamte und Gendarmerie folgten, die Diensthütte der Grenzer ging in Flammen auf. Ein gefährlicher Aufstand! Erst als die eilends alarmierten Gendarmeriekräfte und Grenzaufseher der umliegenden Orte eingetroffen waren, wurde man der Lage Herr. Die Landespolizei sorgte dann endgültig für Ruhe.
Prozess in Passau: Die Richter kannten keine Gnade
Die Polizei nahm 29 bewaffnete Personen fest. Im März 1924 begann der Prozess am Volksgericht Passau. Zum einen wurden die Schmuggler aus Annathal angeklagt, aber vor allem sollten die Rädelsführer des Aufstands in Kleinphilippsreut zur Rechenschaft gezogen werden. Hauptanklagepunkt: „Landfriedensbruch“.
Der Prozess erregte enormes Aufsehen. Die Richter kannten keine Gnade. Die verhängten Strafen waren drakonisch. Allein neun der Angeklagten erhielten Gefängnisstrafen von zwei bis drei Jahren. Harte Urteile! Zumal, wenn man bedenkt, dass ein gewisser Adolf Hitler nach seinem staatsgefährdenden Putsch vom 8./9. November 1923 nach gerade mal neun Monaten Haft in Landsberg wieder freikam. Das Klima zwischen der Bevölkerung an der tschechischen Grenze und den Grenzbeamten blieb auf Jahre hinaus vergiftet.
Kreisheimatpfleger Gerhard Ruhland
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Literatur: Walter Wilhelm, Zoll und Grenze. In: Ernst Dorn (Hrsg.), Heimat an der Grenze. Gemeinde Philippsreut. Hg. von der Gemeinde Philippsreut. Dorfmeister Verlag Tittling, 1997.