Spiegelau. Linda Stoib ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und lebt glücklich verheiratet mit ihrem Mann in Spiegelau im Bayerischen Wald. Als Mediatorin und anerkannte Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation bietet sie seit 15 Jahren im deutschsprachigen Raum Übungsgruppen, Seminare, Ausbildungen und Fortbildungen in Einrichtungen und Betrieben an.
In Corona-Zeiten scheinen sich die Menschen immer weniger miteinander austauschen zu können, ohne sich dabei gegenseitig zu beleidigen, zu diffamieren oder zu stigmatisieren. Wir wollten daher von der 62-jährigen Expertin, die nach ihrer Heilpraktiker-Ausbildung im Jemen sowie verschiedenen Begegnungen und Erfahrungen mit spirituellen Lehrern in Indien seit 2008 die Gewaltfreie Kommunikation an ihre Klienten weitergibt, unter anderem wissen, wie sich aus ihrer Sicht das Kommunikationsverhalten der Menschen seit Corona verändert hat – und ob die Spaltung der Gesellschaft noch aufhaltbar bzw. umkehrbar ist.
„Vier Schritte, an denen wir uns ausrichten“
Frau Stoib: Generell gefragt: Was steht hinter dem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation?
Die Bezeichnung „gewaltfrei“ ist vielleicht erstmal etwas irreführend. Im Grunde geht es dabei um einen wertschätzenden, einfühlsamen, aber auch aufrichtigen und authentischen Umgang mit uns selbst und anderen. Es würde kaum jemand von sich sagen, dass er oder sie gewaltvoll kommuniziert. Ob wir allerdings empathisch und authentisch im Dialog sind, ist etwas anderes. Solange alles gut läuft in unseren Beziehungen machen wir uns dazu auch nicht viele Gedanken. Aber wer Kinder hat, im Team arbeitet, in einer Partnerschaft lebt oder ein Unternehmen leitet, weiß, wie belastend Konflikte sein können.
Das Konzept ist einfach. Egal, ob wir nein sagen wollen, eine Wertschätzung ausdrücken, uns selbst authentisch mitteilen möchten oder einem anderen empathisch zuhören, es sind immer vier Schritte, an denen wir uns ausrichten können.
1. Die Beobachtung, auf die wir uns beziehen,
2. die Gefühle und Gedanken, die die Beobachtung in uns auslöst,
3. das dahinterliegende Bedürfnis und
4. eine konkret ausgedrückte Bitte.
Das klingt einfach, braucht aber erfahrungsgemäß viel Übung. Die innere Haltung einer wertschätzenden und aufrichtigen Kommunikation zu entwickeln ist eine Aufgabe, der wir uns Tag für Tag wieder neu stellen können.
„Darauf war man nicht vorbereitet“
Wie sind Sie persönlich zur Gewaltfreien Kommunikation gekommen?
Meine erste Begegnung mit der Gewaltfreien Kommunikation war 2004. Eine Freundin hatte mich zu einem Seminar mitgenommen. Ich muss gestehen, dass ich dem Ganzen erstmals sehr kritisch begegnete. Zu dieser Zeit war ich alleinerziehend mit drei pubertierenden Kindern und konnte mir nicht wirklich vorstellen, mit dieser Kommunikation meine Alltagsprobleme besser bewältigen zu können.
Der entscheidende Aha-Moment kam, als ich Marshall Rosenberg, dem Begründer der GFK, als der Gewaltfreien Kommunikation, begegnete und erleben konnte, wie er arbeitete. Dieser Mann hatte selbst viel erlebt, wusste, wovon er sprach und lebte es auch. Er war über Jahrzehnte weltweit unterwegs, leitete Konfliktgespräche und Mediationen in Kriegs- und Krisengebieten und lehrte die GFK in Unternehmen, Schulen, Familien, sozialen Einrichtungen etc.
Wenn Sie das Kommunikationsverhalten der Menschen vor der Corona-Pandemie mit demjenigen vergleichen, wie es in diesen Zeiten zu Tage tritt – welche generellen Unterschiede können Sie feststellen?
Aus meiner Sicht hat sich das „Kommunikationsverhalten“ nicht wirklich verändert. Die gebräuchlichste Umgangsweise mit Konflikten ist es, ihnen aus dem Weg zu gehen. Schon deshalb, weil wir oft nicht wissen, wie wir konstruktiv damit umgehen können. Bestimmte Themen vermeidet man einfach im Alltag, weil man schon weiß, dass es zu Problemen führen könnte. Oder aber man gehört zu den Menschen, die eher in die Konfrontation gehen und unter dem Motto „Ich bin ehrlich, ich sage was ich denke“ anderen Menschen ungebeten mitteilen, was sie über sie denken und dabei vermeiden, von sich selbst zu sprechen. Wir sind in unserem Umgang mit Konflikten immer noch sehr von unserem Stammhirn und unserem limbischen System gesteuert. Angriff, Flucht oder Totstellen.
Am Anfang der Pandemie sind viele Menschen noch ins Gespräch gegangen. Als sich abzeichnete, dass Menschen, von denen man glaubte, sie zu kennen und mit ihnen einer Meinung zu sein, plötzlich eine ganz andere Haltung vertraten, war erstmal Erstaunen bis hin zur Fassungslosigkeit. Darauf war man nicht vorbereitet. Viele Klärungsversuche sind gescheitert, die Hilflosigkeit wurde spätestens dann deutlich, als die Dialoge emotional wurden, weil elementare Bedürfnisse von Menschen plötzlich als bedroht wahrgenommen wurden. Ich spreche hier von Bedürfnissen wie Selbstbestimmung, Freiheit, Schutz, Miteinander, Mobilität, Autonomie usw.
Wenn wir nicht weiter wissen, neigen wir dazu, Menschen zu etikettieren. Da gibt es „die Geimpften“ und „die Ungeimpften“, „die Mitläufer“ und „die Verweigerer“ usw. Das sind Versuche, eine gewisse Ordnung in das Chaos zu bringen, die es allerdings nur noch schwieriger werden lassen, aufeinander zuzugehen. Gibt es diese Zuschreibungen erstmal, sind sie schwer wieder auszuräumen.
„Wer trägt Maske, wer nicht“
Was glauben Sie: Welche Ursachen liegen dieser Entwicklung zu Grunde? Warum (bzw. wie) ist es soweit gekommen?
Wir waren darauf nicht vorbereitet und erst mal überfordert. Zuvor konnte man mit unterschiedlichen Haltungen und Meinungen irgendwie noch umgehen. Man musste ja nicht unbedingt über Politik, Flüchtlinge, Religion oder andere sensible Themen reden, wenn man schon ahnte, dass der Andere hier eine ganz andere Meinung vertritt. Schließlich sind es Nachbarn, Freunde, Verwandte – und man will das gute Verhältnis nicht stören. Das Bedürfnis nach Ruhe und Harmonie war vielleicht wichtiger als Verstehen wollen, Offenheit, Authentizität. Es gab genug andere Themen, über die man reden konnte.
Das funktioniert jetzt nicht mehr. Selbst wenn nicht darüber gesprochen wird, die Haltung des Einzelnen drückt sich deutlich sichtbar in seinen Handlungen aus. Wer trägt Maske, wer nicht. Wer kommt noch ins Wirtshaus und wer feiert daheim. Wer muss sich für die Arbeit zweimal in der Woche testen lassen? Wer ist schon zum dritten Mal in Quarantäne und fällt für die Arbeit aus?
Wir erleben, wie nah wir alle miteinander verbunden sind und dass das Verhalten von jedem einzelnen Auswirkungen auf andere hat. Vieles, das wir in unserem Leben sicher glaubten, ist ins Wanken geraten. Das fördert Ängste – und wenn wir nicht wissen, wie wir damit umgehen können, kann es passieren, dass uns die Ängste und Emotionen überwältigen. Als Menschen wollen wir gehört, verstanden und akzeptiert werden, so wie wir sind, und haben ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Sicherheit.
Haben die Menschen generell verlernt miteinander zu kommunizieren?
Nein. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten mehr mit Kommunikation beschäftigt als je zuvor. Mit der Entwicklung von Handys und Computern hat sich unsere Art zu kommunizieren grundlegend verändert. Heute ist für viele nahezu undenkbar, ohne Handy aus dem Haus zu gehen oder über mehrere Stunden nicht erreichbar zu sein. Das zeigt, wie wichtig für uns Verbindung und Zughörigkeit ist.
Allerdings sagt die Häufigkeit der Kontakte nichts über die Qualität aus. Allmählich dämmert uns, dass diese Art von Kontakten unsere Bedürfnisse nach Nähe, Verständnis, Vertrauen nicht so erfüllen können, wie wir es uns wünschen. Selbst wenn wir uns im Internet einer Gruppe Gleichgesinnter anschließen und auch wenn in einer Zoom-Sitzung sehr viel Empathie erleben können, brauchen wir im Alltag noch die direkte berührende Begegnung, um das Leben mit all seinen Herausforderungen bewältigen und uns in unserer Ganzheit entfalten zu können.
„Eine Kunst, die nur wenige Menschen vermögen“
Die Spaltung der Gesellschaft aufgrund der Corona-Pandemie bzw. der damit verbundenen Impffrage schreitet in nahezu allen Lebensbereichen voran. Inwiefern kann Gewaltfreie Kommunikation hilfreich sein, um gewisse Wogen wieder zu glätten?
Je mehr wir von Spaltung sprechen, umso mehr manifestieren wir sie. Deshalb würde ich lieber über das sprechen, was in der jetzigen Situation hilfreich ist. Was Konflikte betrifft, kenne ich nichts Hilfreicheres als die Gewaltfreie Kommunikation.
Zum einen erfahren wir, wie wir offen und authentisch ansprechen können, wie es uns mit dem Verhalten einer anderen Person geht, was wir brauchen und wie wir Bitten so ausdrücken können, dass sie auch gerne erfüllt werden. Wir lernen, die Botschaft hinter Vorwürfen und Kritik zu hören, aufrichtig nein zu sagen und Wertschätzung auszudrücken. Wir kommen in Verbindung mit unseren eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Werten und finden Möglichkeiten, Konflikte so zu lösen, dass sich dabei die Bedürfnisse beider Seiten erfüllen können. Und vor allem anderen, dass wir wieder lernen zuzuhören – und das ist wirklich eine Kunst, die nur wenige Menschen vermögen.
Welche Voraussetzungen müssen zwischen den Kommunizierenden gegeben sein, damit Gewaltfreie Kommunikation in dieser überaus schwierigen Corona-Lage gelingen kann?
Es braucht Zeit, einen geschützten Rahmen, in dem sich beide Gesprächspartner ungestört und sicher fühlen können, und die Bereitschaft, miteinander ins Gespräch zu gehen. Die gute Nachricht ist: Es reicht, wenn eine Person die Gewaltfreie Kommunikation kennt.
Ist Gewaltfreie Kommunikation etwas, das nur im realen Leben funktioniert? Oder kann sie auch in den Sozialen Medien klappen?
Grundsätzlich funktioniert die GFK überall dort, wo Menschen offen und aneinander interessiert miteinander kommunizieren. Es ist eine Prozesssprache, die sehr stark von der Interaktion der Beteiligten lebt. Daher klappt das auch am besten im persönlichen Gespräch, im Videogespräch und bestenfalls noch am Telefon. Wenn wir unseren Gesprächspartner sehen und aufmerksam hinhören, können wir Irritationen an der Reaktion des Gesprächspartners erkennen und nachfragen, was bei der anderen Person angekommen ist. In der schriftlichen Kommunikation wird es schon komplizierter, weil selbst kleinste Unschärfen in der Formulierung zu Missverständnissen führen können – und diese sind in der Regel nur sehr schwer wieder einzufangen.
„Niemand kann für sich allein existieren“
Haben die Anfragen für Ihre GFK-Seminare in den vergangenen beiden Corona-Jahren zugenommen?
Grundsätzlich ja. Menschen leiden und suchen nach einem Ausweg. Präsenzseminare konnten häufig nicht stattfinden. Dagegen hat das Interesse an Online-Seminaren zugenommen. Auf diesem Weg ist es leicht, sich regelmäßig zu treffen, sich auszutauschen und miteinander zu üben.
Was können die Teilnehmer in ihren GFK-Kursen erlernen?
Erst einmal biete ich die Möglichkeit, eine gewaltfreie Sprache in Theorie und Praxis kennenzulernen und im sicheren Rahmen zu üben. Dabei können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfahren, wie es sich anfühlt, wenn ein Dialog gelingt und zu einer guten Lösung kommt, die beiden Seiten gerecht wird. Ein gewaltfrei gelöster Konflikt führt in der Regel zu einer tieferen Verbindung, mehr Verständnis und gegenseitigem Vertrauen. Es sind immer wieder zutiefst berührende Momente, wenn sich Menschen empathisch und aufrichtig begegnen.
Abschließend: Was wünschen Sie sich, was die künftige Kommunikation zwischen Menschen anbelangt?
Ich wünsche mir, dass wir wieder den Mut finden, aufeinander zuzugehen. Wir brauchen einander, denn niemand kann für sich allein existieren.
die Fragen stellte: Stephan Hörhammer