Passau. Chancen Gestalten. Seit 2015 ist dieser Name Programm, wenn es um die Inhalte der Studenten-Initiative geht. Heuer wurde der Verein nahezu zeitgleich in Heidelberg, Passau und weiteren Städten gegründet. Mit der damals hochaktuellen Thematik der Flüchtlingswelle sollte ein Projekt erschaffen werden, das Geflüchteten den Start in Deutschland erleichtert. Die Idee eines Mentoringprogramms diente dabei als Grundlage. Anders als bei einmaligen Beratungen wollten die Menschen dahinter jedoch etwas Nachhaltiges schaffen.
„Mentoring klingt für viele erstmal nach einer Berater-Beziehung“, meint Fabia Willi. Die 22-Jährige ist seit 2019 Vorstandsvorsitzende der Passauer Hochschulgruppe „Changes“. Willi: „Meine Mitbewohnerin Victoria und ich wollten uns sozial engagieren und besuchten deshalb den Hochschulgruppen-Nachmittag der Universität Passau.“
Eine Beziehung auf Augenhöhe
Die beiden Kulturwirtschaftsstudentinnen waren sogleich begeistert von der Gruppe „Chancen Gestalten“. Das Besondere daran: Es handelt sich sowohl um eine Hochschulgruppe als auch um einen gemeinnützigen Verein. „Wir arbeiten eng mit dem Standort Heidelberg zusammen, sind aber trotzdem autonom“, erklärt Victoria Nehm. Die heute 26-Jährige bildet seit 2019 gemeinsam mit Fabia Willi (und Schatzmeister Simon Harst) den Vorstand. 2018 übernahmen die Freundinnen erstmals die Rolle einer Mentorin. Doch anders als der Name vermuten lässt, bedeutet diese Aufgabe nicht (nur) die Beratung Geflüchteter. Vielmehr gehe es um eine Beziehung auf Augenhöhe: „Das hat mich von vornherein überzeugt“, erinnert sich Fabia.
Damit’s passt: die Ausbildung der Mentorinnen und Mentoren
Und dafür müssen auch die Mentorinnen und Mentoren erstmal einiges lernen. Sie werden deshalb ausgebildet, bevor sie mit ihrer Arbeit beginnen. „Wir haben zur Vorbereitung ein Team, das die Mentoren vor der jeweiligen Kohorte coacht.“ Das Programm arbeitet in sog. Kohorten, die klassischerweise je ein Jahr dauern. Der Begriff bezeichnet demnach die Länge der Mentor-Beziehung. „Natürlich ist nach einem Jahr nicht zwingend Schluss“, ergänzt Victoria. Im Gegenteil: Oft ergeben sich Freundschaften und langanhaltende Kontakte. Pro Kohorte gibt es im Schnitt bis zu 20 Mentoring-Pärchen.
Anfangs ging es vor allem darum, Geflüchtete in der Ausbildung, beim Erlernen der Sprache und bei der Überwindung kultureller Hürden zu begleiten. Um diese Aufgaben bestmöglich übernehmen zu können, werden auch die Mentorinnen ausgebildet: „Neben Grundlagenseminaren spielt auch die Kultursensibilisierung eine wichtige Rolle“, schildert Fabia. Je nach Herkunftsland der „Mentees“, wie die Schützlinge genannt werden, gebe es Unterschiede zur deutschen Kultur. Deshalb sei das Wissen über den Umgang mit kulturellen Unterschieden elementar für eine gute Beziehungsgrundlage zwischen Mentor und Mentee.
Eine weitere Rolle spielen Fragen zum Asylrecht, zu Dokumenten oder Anträgen. „Wir arbeiten eng mit der Passauer Refugee Law Clinic zusammen – gerade gab es wieder einen Vortrag über Asylrecht“, berichtet Victoria. Dabei gehe es jedoch eher darum, den Geflüchteten Beistand zu leisten als Anträge auszufüllen. „Die rechtlichen Inhalte sind nicht unsere primäre Aufgabe“, weiß Fabia, „doch es ist trotzdem wichtig, mit dem Vokabular vertraut zu sein, um erklären zu können, worum es in einem Schreiben geht und den Mentees so auch die Angst zu nehmen, die durch Unverständnis oft verstärkt wird.“
Aktiv und verknüpft trotz Corona
Nach der Ausbildung folgt die Matching-Phase: Das so genannte Meko-Team (Mentoring-Koordination) wertet die Fragebögen aller Teilnehmer der jeweiligen Kohorte aus, um beiden Seiten den am besten passenden Partner zuteilen zu können. Gemeinsame Interessen, Hobbys oder berufliche Ziele sollen hierfür die Grundlage bieten. Meist findet das erste Treffen, organisiert vom sog. Event-Team, im Dezember statt. Hier lernen sich die Pärchen zum ersten Mal kennen. Damit beginnt auch die jeweilige Kohorte, sprich: das Mentoring-Jahr. Damit beide Seiten sich wohl und sicher fühlen, stehen den Teilnehmern über den gesamten Zeitraum hinweg Koordinatoren zur Verfügung. Sollte es zu Fragen, Unsicherheiten oder – wie in seltenen Fällen – zu Problemen kommen, können sich die Mentees und Mentorinnen jederzeit an ihren oder seinen „Meko“ wenden. Alle zwei Wochen trifft sich das komplette Organisationsteam zum Austausch, die Treffen finden derzeit online statt.
Die Corona-Pandemie und die mit ihr verbundenen Beschränkungen und Maßnahmen erfordern auch für den Verein „Chancen Gestalten“ die Entwicklung neuer Konzepte und Ideen. „Normalerweise sind wir als Hochschulgruppe sehr aktiv an der Uni, veranstalten Themen- oder Infoabende, versuchen Interessierte zu erreichen und die Gemeinschaft der Mitglieder zu stärken“, berichtet Victoria. Trotz des universitären Kontexts sei das Angebot jedoch nicht nur für Studierende – jeder könne Mentor werden.
Im vergangenen Jahr war das fünfköpfige Team für Öffentlichkeitsarbeit besonders gefragt: auf Social-Media-Kanälen wie Instagram und Facebook sowie auf der Website des Vereins werden regelmäßig Beiträge, Informationen und Neuigkeiten gepostet. Neben einem Online-Interview mit dem Integrationsbeauftragten der Stadt Passau, Tobias Schmidt, fanden kürzlich auch Kooperationen mit dem Refugee Programme und dem Verein „Gemeinsam Leben und Lernen in Europa e.V.“ statt. Denn den Vorsitzenden ist wichtig: „Die Pandemie sollte keinen Einfluss auf die Integration nehmen!“
Die Gemeinschaft in der Gruppe: ein Geben und Nehmen
Aus diesem Grund arbeitet das Team für politische Bildung (PoBi-Team), das primär für die externe Vereinsarbeit zuständig ist, trotz neuer Strukturen weiter. Als dies noch möglich war, wurden auch Workshops an Schulen durchgeführt, derzeit versuchen die sechs Mitglieder mithilfe ihrer Online-Ressourcen über Vorurteile, Rassismus und den richtigen Umgang mit diesen Themen aufzuklären. Zusammen mit Amnesty International Passau, UNICEF Passau, Seebrücke Passau und der Refugee Law Clinic organisierte das Team im Januar 2021 das „Human Rights Festival“, eine Onlineveranstaltungsreihe für mehr globale Verantwortung.
Neben der externen Vereinsarbeit liegt den Mitgliedern die Gemeinschaft innerhalb der Gruppe sehr am Herzen: „Wir veranstalten jedes Jahr ein Sommer- und ein Weihnachtsfest, zu dem auch immer viele Ehemalige kommen“, erzählt Fabia. „Auch bei diesen Feiern merkt man, wie sehr man voneinander lernen kann“
Es sei ein Geben und Nehmen, wodurch sich die jeweiligen Kulturen annähern und besser kennenlernen können. „Mein Mentee hat bereits mehrmals afghanisch für uns gekocht – das ist jedes Mal so lecker“, schwärmt Victoria. Neben kulinarischen Erlebnissen gibt es eine Menge weiteren Input: „Es ist super interessant, neue Begriffe der jeweiligen Sprache zu lernen oder beigebracht zu bekommen, wie man beispielsweise den eigenen Namen auf Arabisch schreibt.“
Lauftreff sorgt für den Safeplace
Gemeinsam statt einsam – vor allem in Coronazeiten ist dieses Motto ein wichtiger Leitsatz. Denn Verständnisprobleme oder kulturelle Unterschiede machen auch in der Pandemie keine Pause. Geflüchtete benötigen oftmals gerade jetzt einen Ansprechpartner. Der Passauer Women’s Run, den Sportstudentin Elena im April 2020 ins Leben rief, ist ein weiteres Beispiel für gemeinsame Aktivitäten. Die Intention, einen sog. Safeplace für weibliche Mentees zu schaffen, traf laut Fabia sogleich auf Zustimmung: „Elena hat von Anfang an ordentlich Werbung gemacht und Plakate aufgehängt, damit interessierte Frauen vom wöchentlichen Lauftreff Wind bekommen.“
Immer freitags haben sich Frauen jeden Alters aus unterschiedlichsten Ländern getroffen, um gemeinsam laufen zu gehen. Dabei sei es egal, ob man Lauf-Anfängerin sei oder Fortgeschrittene. „Elena kam durch den Film ‚Willkommen bei den Hartmanns‚ auf die Idee“, erzählt Fabia und schmunzelt. „Da geht es ja auch um die Gemeinschaft und nicht um Ausdauer oder sportliche Konkurrenz.“ Durch die zwischenzeitlich geltenden strengeren Kontaktbeschränkungen mussten die regelmäßigen Treffen gestoppt werden. Trotzdem sei die intergenerationale Gruppe stetig gewachsen und immer gut vernetzt: „Alle sind sehr aktiv in der WhatsApp-Gruppe, freitags gibt es immer eine andere Aktion – vom gemeinsamen, virtuellen
„Jede Mentoring-Beziehung ist anders“
Der Verein „Chancen Gestalten“ ist ebenso vielseitig wie seine Mitglieder. Durch die verschiedenen Teams und Zuständigkeiten sollen allen Beteiligten bestmögliche Mentoring-Beziehungen geboten werden. Darüber hinaus legen die Vorsitzenden großen Wert auf Gemeinschaft, Bildung, beidseitige Aufklärung – und Spaß. Eine Kombination, die Wirkung zeigt, wie das Interesse am Programm beweist.
Während 2015 (bedingt durch die politische Lage) hauptsächlich junge Männer syrischer und afghanischer Herkunft das Angebot in Anspruch nahmen, sind heute Männer und Frauen aus verschiedensten Kulturen und Ländern an Bord, etwa aus Somalia oder Mali. Für die Vorstandsvorsitzenden Victoria und Fabia macht genau diese Vielfalt ihre Arbeit sehr spannend. „Wir lernen so viele interessante Menschen mit großartigen Persönlichkeiten kennen. Jede Mentoring-Beziehung ist anders und individuell, genauso wie die jeweiligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer.“
Malin Schmidt-Ott
Der Verein freut sich immer über motivierte und interessierte Menschen, die sich jederzeit über die gegebenen Social-Media-Kanäle oder per E-Mail (passau@chancengestalten.org) an das Team wenden können. Motto: „Lasst uns gemeinsam Chancen gestalten!“