Passau. Die Lage ist vertrackt. Die Gräben sind tiefer als je zuvor, scheinen schier unüberwindbar. Auf der einen Seite stehen die Impfgegner, die Pandemie-Skeptiker – diejenigen, die sich von den Corona-Beschränkungen gegängelt und bevormundet fühlen. Und die ihr Verständnis von Freiheit nicht mehr länger von Seiten der Politik repräsentiert sehen. Auf der anderen stehen die Impfbefürworter, die Solidarischen – diejenigen, die den Erkenntnissen der Wissenschaft vertrauen und den gemeinsamen Kraftakt zur Überwindung der seit fast zwei Jahren vorherrschenden Situation als unabdingbar betrachten. Die, die ihre Freiheit von den Skeptikern als bedroht erachten.
Die eine Seite der Gesellschaft spricht nicht mehr mit der anderen. Stigmatisierung und Diffamierung sind anstelle einer vernunftbasierten Diskussion getreten. Ein Miteinander ist abhanden gekommen. Wir haben uns mit Prof. Dr. Ralf Hohlfeld, Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Passau, über die zerfahrene Konstellation unterhalten – und haben ihn gefragt, ob denn noch Hoffnung besteht, dass sich die Wogen wieder glätten lassen.
„Harter Kern der Impfgegner verfolgt andere Absichten“
Herr Hohlfeld: Die Corona-Pandemie hat einen kommunikativen Keil in diese Gesellschaft getrieben. Die Gräben zwischen Geimpften und Ungeimpften scheinen tiefer zu sein denn je. Ganze Familien drohen sich zu entzweien. Wie empfinden Sie die momentane Situation aus Sicht des Kommunikationswissenschaftlers? Welche Beobachtungen können Sie feststellen?
Auch ohne Kommunikationswissenschaftler zu sein, kann man die jetzt stark aufgebrochenen Gräben in unserer Gesellschaft schon seit Jahren beobachten. Es sind mehrerer Gräben, die entlang der Linien „Stadt vs. Land“, „Wissenschaft vs. Bauchgefühl“, „Schulmedizin vs. Naturheilverfahren“, „Klassische Nachrichtenmedien vs. Alternativmedien“, „Egoismus vs. Altruismus“ und schließlich auch „Willkommenskultur vs. Fremdenfeindlichkeit“ verlaufen. Diese vielen kleineren Gräben vereinigen sich derzeit zu einem Grand Canyon, einer riesigen Schlucht, die uns in der Pandemie als gespaltene Gesellschaft entgegentritt. Und in der Frage der Immunisierung gegen das Sars-COV-2-Virus und dessen Varianten wird die Gesellschaft gerade einer Zerreißprobe unterzogen.
Natürlich finden wir die genannten Gegenüberstellungen auf der persönlichen Ebene auch in abgeschwächter alltäglicher Form vor; aber das reicht derzeit, um Freundschaften zu zerstören und Familien zu entzweien. Wichtig ist aber, dass der gerade sichtbare Kulturkampf nicht zentral von der Frage „Impfen oder Nicht-Impfen?“ getriggert wird, sondern dass der harte Kern der Impfgegner vollständig andere Absichten verfolgt, die auf eine Schwächung bzw. Abschaffung der Demokratie und ihrer Institutionen zielt. Die Impfungen sind hier ein Katalysator, der genutzt wird, um die „normalen“ Impfskeptiker mit in diesen Kulturkampf hineinzuziehen, indem man ihnen vorgaukelt, dass eine Impfdiktatur errichtet wird, in der ihnen die „Ausrottung“ droht.
Generell gefragt: Haben wir verlernt vernünftig miteinander zu reden?
Ich bezweifle, dass es je möglich war, vernünftig miteinander zu reden – jedenfalls im großen Maßstab der Gesamtgesellschaft. Aber es haben sich in den vergangenen Jahren viele Dinge im Bereich der öffentlichen Kommunikation verändert und es wird offenbar, dass – wenn auf einmal alle gleichzeitig zu reden und zu schreien beginnen – keine vernünftige Moderation mehr stattfinden kann. Es muss zwar nicht mehr jeder Konflikt kommunikativ austariert und geschlichtet werden, aber die klassischen Nachrichtenmedien haben es vor dem Aufkommen der Sozialen Medien geschafft, die gesellschaftlichen Positionen in ihrem Breitenspektrum darzustellen. Damals haben sich die meisten Menschen darin vertreten gesehen. Die wenigen, bei denen das nicht der Fall war, haben dann an den Stammtischen dagegen gewettert – und gut war es.
„Impfwillige repräsentieren riesengroße Mehrheit der Gesellschaft“
Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – gegen die Produkte von Biontech, Moderna & Co. entschieden haben, werden reflexartig in eine Ecke gedrängt: Sie gelten als wirr oder einfach nur dumm, werden pauschal radikal-populistischen Gruppen wie den sog. Querdenkern zugeordnet, werden stigmatisiert. Umgekehrt ist Ähnliches zu beobachten: Ungeimpfte bezeichnen Impfbefürworter als „Schafe“, die nicht hinterfragend und völlig unkritisch all das befolgen, was die Staatsregierung für richtig und wichtig erachtet. Wie können diese beiden Gegenpole Ihrer Meinung nach eine vernünftige Basis finden, um trotz aller Differenzen wieder miteinander in Kommunikation zu treten? Oder ist hier Hopfen und Malz bereits verloren?
Auch hier bin ich leider recht skeptisch, auch wenn Hopfen und Malz noch nicht komplett verloren sind. Die Stigmata sind auf beiden Seiten vorhanden. Aber auch wenn wir nicht vergessen dürfen, dass beide Seiten ein grundsätzliches Recht auf ihre Haltung zur Impf-Frage reklamieren können, darf man nicht so tun, als stünden sich hier zwei gleich große Gruppen gegenüber mit gleicher Legitimität.
Die Gruppe der Impfwilligen repräsentiert eine riesengroße Mehrheit der Gesellschaft: Menschen, die sich in dieser schlimmen Phase einer Pandemie rechtschaffen, redlich, sozial und solidarisch verhalten. Ihnen gegenüber steht eine vergleichsweise kleine Gruppe von maximal 20 Prozent der Gesellschaft, die einem recht verquasten Freiheitsbegriff huldigt. Der Freiheit, sich der Pandemiebekämpfung zu verweigern; der Freiheit, durch sein Verhalten andere Menschen in ihrer körperlichen Unversehrtheit zu gefährden; der Freiheit, durch die potenziell größere Gefahr der Übertragung des Virus andere Menschen in Geiselhaft drastischer Kontaktbeschränkungen zu nehmen usw.
Der Ausgangspunkt der individuellen Überlegung zur Frage nach dem Impfen mag gleichberichtigt legitim sein, aber in einer Pandemie sind die Folgen derart drastisch und betreffen Leib und Leben von so vielen anderen Menschen, dass es inakzeptabel erscheint, beiden Gruppen die gleiche Berechtigung zuzusprechen, das jeweilige Verhalten in aller Deutlichkeit kommunikativ zu rechtfertigen. Wären die gesellschaftlichen Konsequenzen nicht so weitreichend und würde die Impfung gegen das Corona-Virus nicht so weit über den Bereich des Persönlichen hinausragen, herrschte moralisch Waffengleichheit. Und nur das würde es lohnenswert machen, nach einer vernünftigen Basis für eine kommunikative Schlichtung zu suchen. Dem ist aber nicht so.
„Es gilt drei Gruppen von Impfunwilligen zu unterscheiden“
Das heißt, man gibt der Meinung einer Minderheit zu viel Raum?
Ja. Es wäre ein so genanntes „false balancing“ – eine nicht statthafte Ausgewogenheit. Das hat die lange schweigende Mehrheit in den letzten Wochen deutlich gemacht, indem sie kundtat, nicht länger willens zu sein, das Narrativ von der Gleichberechtigung beider Positionen zu akzeptieren. Letztlich waren es die Talkshow-Auftritte der Impfunwilligen-Versteher und Achtsamkeitsfanatiker, die zu einer gewissen Radikalisierung der zuvor stummen Mehrheit geführt haben. Diese wollen sich nicht länger durch den gekaperten und umgedeuteten Freiheitsbegriff der Impfunwilligen drangsalieren lassen. Das erschwert nun die Diskussion zusätzlich.
Da die Gesellschaft in dieser Frage – und nicht nur in dieser – den gemeinsamen Ausgangspunkt verloren hat, wird es schwierig, wieder „erfolgreich“ zu kommunizieren. Oder um mit Jürgen Habermas zu sprechen: Die vier Geltungsansprüche an verständigungsorientiertes kommunikatives Handeln, nämlich Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Verständlichkeit, haben wir verloren – sie werden von beiden Seiten wechselseitig bestritten. Wenn auch – zumindest aus meiner Sicht – mit unterschiedlichem Recht. Denn es dürfte schwierig sein zu ignorieren, dass die rationalen, evidenzbasierten Argumente der Impfbefürworter eine grundsätzliche Geltung haben, wenn wir auf die Ansprüche der Richtigkeit und Wahrheit blicken.
Aber ich möchte an dieser Stelle doch noch ein wenig differenzieren. Die zuvor gestellte Frage impliziert ja, dass nicht alle Impfgegner den populistischen und extremistischen Milieus zuzurechnen sind. Das ist zunächst richtig. Wenn ich eine Einschätzung darüber abgeben darf, wer von diesen Menschen kommunikativ noch erreichbar ist, dann ist es wichtig, drei Gruppen von Impfunwilligen zu unterscheiden: Die Ängstlichen, die Selbstbewussten und die Aggressiven.
„Die Aggressiven haben massive Demokratiedefizite“
Die erste Gruppe, also die Ängstlichen, die oft einfach nur schlecht informiert sind oder emotionale, phobische Hürden gegen das Impfen aufgebaut haben, kann man möglicherweise noch erreichen und mit klaren Informationen im Einzelgespräch mit Vertrauenspersonen überzeugen. Mitglieder dieser Gruppe meiden zwar vermehrt den Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft, wenn es um das Impfthema geht, aber sie lassen sich in der Gesprächssituation prinzipiell auf den Diskurs ein, was die notwendige Voraussetzung für eine Verständigung ist. Der Fall des FC-Bayern-Fußballers Joshua Kimmich mag hier stellvertretend genannt werden.
Zur zweiten Gruppe zählen Menschen aus dem Milieu der Antroposophen, Esoteriker und Naturheilkundler, teilweise auch der Freikirchler, die davon überzeugt sind, das Coronavirus könne ihnen nichts anhaben. Sie halten sich für gesund und stark und glauben, sich des Virus‘ erwehren zu können – mittels gesundem Lebenswandel und Naturheilkunde. Diese Gruppe, die von der Persönlichkeitsstruktur schon immer stolz auf ihre Widerständigkeit gegenüber der Obrigkeit oder dem gesellschaftlichen Mainstream war, repräsentiert das Gründungspersonal der Querdenken-Bewegung.
Das Problem ist derzeit, dass diese Menschen mittlerweile die Straßen fluten und immer weiter in Richtung der dritten Gruppe, der Aggressiven, der Extremisten driften. Diese fanden unsere pluralistische, offene Gesellschaft schon immer übel und haben massive Demokratiedefizite. Sie lieben den Kampf gegen „die da oben“, sie bevorzugen das „Wir gegen die anderen“.
„Versuchen, wenigstens die Ängstlichen noch zu überzeugen“
Ich gehe derzeit nicht davon aus, dass die beiden letztgenannten Gruppen diskursfähig sind und sich noch irgendwie überzeugen lassen. Also kann man versuchen, wenigstens die Minderheit der Ängstlichen und Unterinformierten unter den Impfgegnern noch zu überzeugen. Gelingen kann dies möglicherweise durch gut gemachte Marketing-Kampagnen. Auch „bekehrte“ Menschen wie Joshua Kimmich, der inzwischen seine Meinung geändert hat, können eine Wirkung auf einige Skeptiker haben und einen Teildiskurs in Gang bringen.
die Fragen stellte: Stephan Hörhammer
Im zweiten Teil unseres Interviews mit Prof. Dr. Ralf Hohlfeld geht es unter anderem um die Rolle der Sozialen Medien hinsichtlich der aktuellen Diskussionskultur und die Verantwortung der Medienschaffenden.