Freyung. Es ist der 29. April des Jahres 1945. Der Zweite Weltkrieg geht seinem Ende entgegen. Eine Hundertschaft junger Soldaten, in schwarze Mäntel gekleidet, mit Rucksäcken bepackt, vielleicht 14, 15 Jahre alt, marschiert unter den Augen amerikanischer GIs im Gleichschritt durch ein Tor in den Innenhof der Brauerei Lang in Freyung. Zu hören ist der feste Tritt der Jungsoldaten sowie die Stimme des Truppführers, der das Marschkommando in einer fremden Sprache wiedergibt. Es sind Ungarn.
Im Vordergrund die marschierenden Kindersoldaten, im Hintergrund das Brauereigebäude mit der klar zu lesenden Aufschrift: „Lang Bräu“:
Zu sehen ist diese Szenerie in einem gut zweiminütigen Filmausschnitt der Video- und Bilddatenbank „Critical Past“ (zu deutsch: „Kritische Vergangenheit“). Der Beitext in englischer Sprache dazu lautet:
„Youth cadets from the Royal Hungarian High School march into a U.S. 11th Armored Division Prisoner of War enclosure at Freyung, Germany, during final days of World War 2, in Europe. Several takes of the young boy students, with packs and in soldier uniforms, marching through a gateway into the enclosure, as U.S. soldiers watch them.”
Ein Leser hatte die Hog’n-Redaktion auf das Videomaterial aufmerksam gemacht mit den Worten: „Mich würde interessieren, was aus diesen jungen Ungarn geworden ist und wie sie nach Freyung gekommen sind.“
Zwei Tage nach der Einnahme Freyungs durch die Amerikaner
Angefragt bei Gerhard Ruhland, seit 2014 Kreisheimatpfleger des Landkreises Freyung-Grafenau und selbst seit vielen Jahrzehnten in Freyung wohnhaft, konnte dieser dazu einiges Wissenswerte in Erfahrung bringen – „wobei ich bei einigen Behauptungen keine konkreten Belege habe, aber zumindest schlüssige Indizien“, wie der ehemalige Gymnasiallehrer für Geschichte und Deutsch mitteilt.
Ruhland informiert, dass es sich bei der Örtlichkeit, in die die ungarischen Kindersoldaten einmarschieren, zweifelsfrei um den Innenhof des Lang Bräu handelt. Das Datum sei, wie auf der Filmklappe zu Beginn des Videos zusehen, gesichert: 29. April 1945, sprich: zwei Tage nach der Einnahme Freyungs durch die Amerikaner.
Aufnahmen ungarischer „Schoolboys“, Mitglieder der „Royal Hungarian High School“, die in der Brauerei Lang von amerikanischen Soldaten der 11. Division befragt werden:
Die jungen Soldaten sind Zöglinge der „Royal Hungarian High School„, der königlich-ungarischen Verteidigungsakademie Ludovica, die Offizierskadetten ausbildete. „Es war also eine Nachwuchsschule für angehende Offiziere. Es war ein Eliteinstitut, in dem die angehenden Offziere nicht nur militärisch geschult, sondern auch in verschiedenen Fächern unterrichtet wurden – zum Teil in deutscher Sprache“, gibt der Kreisheimatpfleger Auskunft. Das Alter der Jungsoldaten lag im Allgemeinen zwischen 14 und 17 Jahren.
Wie kamen diese jungen Soldaten nach Niederbayern?
Ruhlands Recherchen zufolge setzten sich am Ende des Zweiten Welkrieges ca. 100.000 Ungarn nach Bayern ab. Ungarn hatte bekanntlich die Deutsche Wehrmacht unterstützt. In der Karwoche 1945 ließ sich das ungarische Verteidigungsministerium schließlich mit seinem ganzen Tross im Kloster Metten nieder.
Am 8. April befahl das ungarische Verteidigungsministerium, alle ungarischen Einheiten und Militärschulen, die sich in Niederbayern befanden, in Metten zusammenzuziehen. Mit zahlreichen Lastwagen wurde der Transport bewerkstelligt (siehe dazu: Geschichtsblätter des „Geschichtsverein Deggendorf“). In Metten dürfte sich nach Ansicht Ruhlands auch die Einheit der „Royal Hungarian High School“ aufgehalten haben.
Wie kamen diese Soldaten nach Freyung?
Der NSDAP-Kreisleiter Franz Mannhart, der seinen Sitz in Freyung hatte, wollte laut Ruhland Freyung mit allen Mitteln gegen die Amerikaner verteidigen. „Dazu wollte er die Freyunger Hitlerjugend und den Volkssturm einsetzen. Aber nicht nur das, er rekrutierte auch Verstärkung von außen, die bei der Verteidigung helfen sollte.“ In den Quellen heißt es, Mannhart habe eine „Deggendorfer Unteroffiziersschule“ rekrutiert. „Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um die ungarische Einheit der Militärakademie“, vermutet der Kreisheimatpfleger. Andere Hinweise auf eine „Deggendorfer Unteroffiziersschule“ habe er nicht gefunden.

So sieht das Einfahrtstor der Brauerei Lang, durch das die ungarischen Jungsoldaten vor 75 Jahren geschritten sind. Foto: Hog’n-Archiv
In Kampfhandlungen seien die ungarischen Kindersoldaten nicht verwickelt worden. „Offensichtlich hatten die Freyunger Aktionisten, die sich für eine kampflose Übergabe Freyungs einsetzten, die jungen Ungarn mit Fake-Ordern aus dem Ort hinausgelotst. Die Einheit bildete also keine Gefahr für die kampflose Übergabe – wobei sich diese durchaus spektakulär gestaltete“, so der ehemalige Geschichtslehrer.
Was passierte mit den jungen Soldaten?
„Im Video werden die jungen Ungarn in die Gefangenschaft überführt – wobei es mehrere Varianten gibt, was dann mit ihnen weiter passiert sein könnte“, informiert Gerhard Ruhland weiter. Vielleicht wurden sie in das Kriegsgefangenenlager Sonndorf, das sich u.a. auf dem heutigen Werksgelände der Firma „Aptar“ (ehemals Löffler) befand, abkommandiert. Oder sie wurden wieder nach Metten gebracht. „Wobei dann viele Ungarn von dort auch in das Ungarn-Lager in Plattling überführt wurden. Aber das sind Spekulationen.“ Über das weitere Schicksal der ungarischen Kindersoldaten könne er daher nichts Bestimmtes sagen.
Stephan Hörhammer