Cham. Wie lebt man mit zwei Vätern, von denen der eine als Kriegsheld gefeiert wird und der andere einen Weltkrieg als Zivilist überstanden hat? Was macht das Leben aus einem Menschen, der überzeugter Christ war und Pfarrer werden wollte, sich aber nun für das Judentum entschieden hat? Wie verbringt man ein Leben zwischen dem ruhigen Ostbayern und einem ruhelosen, aufregenden, umkämpften Israel?
Ein verregneter Winternachmittag Nähe Cham. Wilhelm Dietl, Journalist, Verleger und ehemaliger Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes, sitzt gemeinsam mit Manfred Sturz in dessen Wohnküche. Die beiden sprechen über die jüngst erschienene Autobiografie mit dem Titel „Eine Zeitreise. 60 Jahre und so weiter“, die als Co-Produktion der beiden Freunde entstand und den Lebensweg von Manfred Sturz alias David ben Abraham nachzeichnet. Hog’n-Autorin Melanie Zitzelsberger hat sich mit den beiden darüber unterhalten:
„Von geradlinig kann keine Rede sein“
Manfred, Wilhelm: Woher kennt ihr euch – und wie kam eure literarische Kooperation zustande?
Wilhelm Dietl: Der Kontakt entstand 2012 über Manfreds Bruder. Der wiederum kannte jemanden, der mich kannte – und so fragte Manfred bei mir an, ob ich ihm in punkto Israel und der Suche nach seinem Vater dort behilflich sein könnte. Ich organisierte außerdem eine Reise nach Georgien, an der Manfred teilnahm. Dabei konnten wir uns näher austauschen.
Manfred Sturz: Ich wollte schon lange meine Autobiografie schreiben – und habe seit ich denken kann Aufzeichnungen geführt und Fotos gesammelt. Es war also keine spontane Idee, sondern eher ein lange gehegter Wunsch.
Wieso eine Autobiografie?
Manfred Sturz: Mein Leben hat sehr interessante Wege eingeschlagen. Von geradlinig kann keine Rede sein (lacht).
Wir bitten um eine kurze Zusammenfassung.
Manfred Sturz: Das wird schwierig – mit der Zusammenfassung mein ich… (lacht) … aber ich will’s probieren: Ich wurde in eine Unternehmerfamilie hineingeboren. Meine Eltern betrieben eine Hühnerfarm in Katzbach bei Cham sowie ein Gasthaus in München. Meine Mutter verkaufte außerdem noch Möbel. Ich habe einen Bruder, bin gut katholisch erzogen worden, war in Cham auf der Realschule und hatte schon immer eine ausgeprägte soziale Ader. Das führte mich nach der FOS zum Studium der Sozialpädagogik nach Emden. Dort habe ich viele Jahre als Bildungsreferent mit meiner ersten Frau verbracht.
Irgendwann kam der Ruf der Heimat und die Firma sollte in die Hände der nächsten Generation übergeben werden. Da sich mein Bruder beruflich komplett anders orientiert hatte, stieg ich in das Geschäft ein. Aus der Hühnerfarm war mittlerweile die Grillmanufaktur KSF Grillgeräte mit Firmensitz in Schorndorf im Landkreis Cham geworden.
„Der Mann, dem ich gegenübersaß, war mein Vater“
Es gab aber noch ein anderes, einschneidendes Ereignis in Deinem frühen Erwachsenenalter.
Manfred Sturz: Ja, genau. Als ich 18 Jahre alt wurde, eröffnete mir meine Mama Anni, dass mein leiblicher Vater nicht Papa Siegfried ist, sondern ein Israeli, der kurz in München war, wo sie ihn näher kennenlernte. Als ich das erfuhr, gingen mir endlich einige Lichter auf. Schon immer fühlte ich mich irgendwie fremd und als Außenseiter. Wegen meiner dunklen Haare und Hautfarbe wurde ich auch manchmal Neger genannt. Nun hatte ich endlich eine Erklärung dafür, was die Ursache für mein Anderssein war. Das war jetzt die wohl kürzeste Kurzfassung… (lacht).
Du bist dann recht bald nach Israel, das Heimatland Deines leiblichen Vaters, gereist.
Manfred Sturz: Richtig. Mit 18 war ich zum ersten Mal dort. Und als ich aus dem Flieger stieg, wusste ich: Hier bin ich daheim. Ich bin dann sehr oft nach Israel gereist und habe das Land in all seiner konfliktreichen Vielfältigkeit kennengelernt. Einher ging damit das Interesse fürs Judentum, das sich immer mehr verfestigte, bis ich schließlich vor ein paar Jahren meine Giur hatte. Giur bedeutet, dass man seinen Status als Jude bestätigt. Das, was schon immer in einem gewohnt hat, wird bestätigt. Eine klassische Konversion zum Judentum gibt es nicht.
Du beschreibst die Suche nach Deinem leiblichen Vater im Buch detailliert. Du hast ihn schließlich gefunden. Das war sicherlich ein sehr emotionaler Moment für Dich.
Manfred Sturz: Allerdings (lacht). Eliezer Cohen, so sein Name – „Cheetah“ sein Spitzname – lebt mittlerweile in Tel Aviv. Ich suchte ihn unter der Prämisse auf, ob er mir bei der Suche nach meinem Vater weiterhelfen könne. Er war 1963 in Italien, um Hubschrauber für Israel einzukaufen. Im Zuge dieses Aufenthalts unternahm er mit ein paar Leuten einen Ausflug nach München. Dort traf er dann meine Mama Anni. Ein Mann dieser Gruppe war meiner Mutter zufolge mein Vater. Genauso habe ich es ihm gesagt. Er wollte nähere Infos und Fotos von ihr. Diese schickte ich ihm dann nach unserem Treffen per Mail, es kam jedoch nichts mehr zurück. Totale Funkstille.
Dann arbeitete ich parallel mit einer israelischen TV-Journalistin zusammen, in deren Sendung vermisste Verwandte ausfindig gemacht wurden. Ich sollte mit meiner Geschichte im israelischen Fernsehen auftreten, doch kurz davor bekam ich vom Sender die Nachricht, dass der Auftritt von höchster Stelle aus abgesagt werden musste. Dann war mir klar, dass Eliezer „Cheetah“ Cohen mein Vater ist. Der Mann, dem ich gegenübersaß.
„Ich kann nichts machen, es ist seine Entscheidung“
Es war also ein längerer Prozess, in dem die Autobiografie entstand.
Manfred Sturz: Wie gesagt: Ich sammle ja bereits mein Leben lang Material über mich, meine Familie und das Zeitgeschehen dazu. Anfang 2022 verfestigte sich schließlich der Gedanke mit der Autobiografie.
Wilhelm Dietl: Wir führten viele Gespräche mit und ohne Material. Ich war beispielsweise im Bundesarchiv in Freiburg und habe zu den Waffenlieferungen an Israel unter Strauß recherchiert. Es steckt ja einiges an Fakten im Buch. Die müssen natürlich stimmen. Außerdem war ich zweimal in Israel. Einmal mit Manfred in seiner Wohnung im Juli 2022, das zweite Mal im September desselben Jahres, als ich Cheetah traf.
Was hast Du von dem Treffen mitgenommen?
Wilhelm Dietl: Ich habe Cheetah getroffen, weil ich mit ihm als Journalist über sein Buch Dies ist mein Land und sein Leben sprechen wollte, was wir dann auch getan haben. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland haben wir gemeinsam überlegt, wie wir sein Buch in deutscher Sprache veröffentlichen könnten. Eine Übersetzung erwies sich als sehr teuer, aber mittlerweile gibt es gute Software, die das kann. Ich habe ihm die verschiedenen Möglichkeiten aufgezeigt und ihn um die schriftliche Erlaubnis gebeten – um den Rest hätte ich mich dann gekümmert. Er hat nicht mehr geantwortet und blieb über sämtliche Kanäle unerreichbar. Wie vom Erdboden verschwunden. Jeglicher Kontakt zu ihm war gekappt.
Was könnte der Grund dafür gewesen sein?
Wilhelm Dietl: Vielleicht habe ich den Namen „München“ ein paar Mal zu oft erwähnt beziehungsweise ihn überhaupt erwähnt. Und möglicherweise stellte er dann eine Verbindung zwischen mir und Manfred her. Ich kenne den tatsächlichen Grund nicht, aber das erscheint mir am plausibelsten.
Manfred, wie hast Du diese Nachricht aufgenommen?
Manfred Sturz: Anders wär’s mir natürlich lieber gewesen: Dass er am Kontakt zu mir interessiert ist. Aber ich kann nichts machen. Es ist seine Entscheidung, obwohl es jetzt – in seinem hohen Alter und mit der verstorbenen Ehefrau – kein Problem wäre, mit mir in Verbindung zu treten.
Morddrohung per Brief bekommen – inklusive Pulver
Welche Bedeutung hat Israel für euch?
Manfred Sturz: Israel ist meine zweite Heimat. Ich fühle mich sehr wohl dort. Ich mag die offene, fröhliche, lebensbejahende Mentalität der Menschen und die Natur. Ich fühle mich in dieser Multikulti-Gesellschaft viel freier als hier. Die Menschen sind lockerer.
Wilhelm Dietl: Ich sehe Israel eher aus der politischen Warte. Es ist Schnittstelle für alles, was im Nahen Osten passiert. Ein politisch aufgeladenes, höchst explosives Land, wie wir gerade jetzt leider wieder miterleben (Wilhelm Dietl verbrachte in seiner Zeit als aktiver Journalist viele Jahre im Nahen Osten und hat eine umfangreiche Expertise über diesen Landstrich erworben – Anm. der Red.).
Zurück zum Buch: Wie reagierte Dein familiäres Umfeld darauf? Du berichtest unter anderem sehr offen über Deine Familie.
Manfred Sturz: Ich hab bisher positive Resonanz bekommen. Meine Eltern leben ja nicht mehr, doch mein Bruder hat es sehr gut aufgenommen. Einer meiner Mitarbeiter sagte mir, dass er das Buch in nur fünf Stunden durchgelesen hat und ganz begeistert war davon. Ansonsten hab ich noch nicht allzu viel Rückmeldung erhalten, da das Buch ja erst vor Kurzem erschienen ist.
Machst Du Dir Sorgen um deine Sicherheit als Jude in Deutschland?
Manfred Sturz: Nein, eigentlich nicht. Ich fühle mich sicher – oder besser gesagt: fühlte mich sicher. Ende 2023 hab ich jedoch eine Morddrohung per Brief bekommen: „Eure Zeit wird noch kommen. Nur ein toter Jude ist ein guter Jude“ lautete der Text. Ein Pulver war auch im Briefumschlag enthalten. Das sollte wohl die Asche eines verbrannten Juden symbolisieren – ein krasses Erlebnis.
Würdest du in der Öffentlichkeit die Kippa tragen?
Nein, nicht mehr. Früher ja, aber heute nicht mehr.
„Versuche stets, mein Judentum auszuleben“
Du hast dich kürzlich aus dem operativen Geschäft Deines Unternehmens zurückgezogen. Welche Zukunftspläne hast Du?
Wir – meine Frau Cordula, mein Sohn und ich – haben aus meiner Belegschaft einen Geschäftsführer bestellt, der die Firma nach unseren Vorstellungen führt. Cordula und ich sind nun viel auf Reisen und akquirieren beziehungsweise besuchen Kunden. Ich lasse mittlerweile auch von einer sehr renommierten Firma in Israel Grills fertigen.
Außerdem engagiere ich mich weiterhin sehr bei Meet a Jew. (ein Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei dem Nicht-Juden Juden begegnen und ihnen Fragen stellen dürfen, wodurch antisemitische Vorurteile abgebaut und Infos über Juden und ihr Leben in Deutschland vermittelt werden sollen – Anm. d. Red.). Ansonsten versuche ich stets, mein Judentum auszuleben, gerne auch interreligiös.
Ist deine Frau auch Jüdin?
Nein, noch nicht (lacht). Wir haben nach jüdischem Ritual geheiratet und sie ist dem Judentum sehr zugewandt. Vielleicht macht sie auch in naher Zukunft ihre Giur.
Wilhelm, welche Projekte verfolgst Du momentan?
Mein Memoir-Verlag erfordert natürlich meinen Einsatz. Ich arbeite gerade an mehreren interessanten Buchprojekten. Außerdem bin ich bei den Rotariern sehr engagiert und organisiere Vorträge und Reisen. Es gibt also immer viel zu tun (lacht)…
Vielen herzlichen Dank euch beiden für das interessante und aufschlussreiche Gespräch. Alles Gute für die Zukunft!
Interview: Melanie Zitzelsberger