Blaibach. Manche Menschen erwecken den Eindruck, als ob sie schon drei Leben gelebt – und sich dabei immer wieder auch neu erfunden hätten. So eine Frau ist Gudrun Linn aus Blaibach im Landkreis Cham. Museumseigentümerin, Schriftstellerin, Theaterregisseurin, Kultur- und Gästeführerin, literarische Wanderführerin, Pensionsbetreiberin, Sammlerin, Reisende und in einem früheren Leben war sie auch Sonderpädagogin. „Es gibt so viel Interessantes zu entdecken und zu tun – und dabei ist so wenig Zeit“, lautet ihre Erkenntnis. Wie recht sie doch hat…
Gudrun Linn ist gebürtige Bad Tölzerin und kam einst zum Studieren nach München. Ihren Weg in den Woid beschreibt sie wie folgt: „Ich wollte mein Leben nach Scheidung und Krankheit total verändern, weg aus der Landeshauptstadt – und so bin ich schlichtweg dem Preisgefälle folgend Richtung Bayerischer Wald unterwegs gewesen. Ein Wohlfühlort sollte es sein – und ein eigenes Haus“, erinnert sie sich.
Auf zu neuen Ufern beziehungsweise Bergen
So landete sie schließlich im Lamer Winkel. Das war 1995. „Über ein paar Ecken bin ich auf eine Pension in Engelshütt aufmerksam geworden, die zum Verkauf stand. Bei der Hausbesichtigung stand ich auf dem Balkon und sah Wald und Berge und wusste, das ist es. Hier gehör‘ ich her, denn schon als Kind habe ich genau dieses Bild gemalt, das sich jetzt vor meinem Auge ausbreitete“. So kaufte die Ex-Münchnerin also die Frühstückspension mit 25 Betten, betrieb sie zwölf Jahre lang und verlieh der Immobilie sowie jedem einzelnen Zimmer ihren individuellen, liebevollen Touch.
Wichtig war es der umtriebigen Allrounderin dabei stets die Region zu erkunden, zu lernen und aktiv mitzugestalten. Da sie schon länger Theaterstücke schrieb, gründete sie eine Theatergruppe, die heute noch unter dem Namen „d’Lamerer“ existiert. Das selbst geschriebene Stück „Turandl, der Glashüttengeist oder wie Engelshütt zu seinem Namen hätte kommen können“ wurde 1999 mit dem dritten Preis des Glasstraßenfestivals ausgezeichnet. Auch die Weihnachtslegende in Lam oder das Märchentheater in Lambach sind ihrer Feder entsprungen.
Im Februar 2012 schließlich sollte sich ein lange gehegter Lebenstraum erfüllen: Gudrun Linn fand Heimat für ihre umfangreiche Sammlung zum Frauenleben der Jahrhundertwende. Endlich konnten die Schätze, die sie seit 50 Jahren zusammengetragen hat, der Öffentlichkeit präsentiert werden – in einem ehemaligen Hotel in Blaibach, das sie ersteigerte. Nach zweijährigen Renovierungsarbeiten wurde ihr „Baby“ schließlich aus der Taufe gehoben und Museum „Frauen-Fleiss – Frauenleben anno dazumal“ genannt. Frei nach ihrem Credo: Träume soll man nie begraben. Es kann gut möglich sein, dass sie doch noch wahr werden…
„Es gab praktisch kein weibliches Wesen ohne Schürze“
„Seit meinem Studium bin ich leidenschaftliche Sammlerin – und habe schon immer die Idee in mir getragen, meine Stücke irgendwann einmal in einem Museum auszustellen“, verrät die pensionierte Lehrerin. „Anfangs taten es mir Handarbeiten und Textilien aus der Zeit der bürgerlichen Mittelschicht von 1880 bis 1948 an. Doch bald fand ich auch großes Interesse an Geschirr, Möbeln, Mode und Dekoartikeln aus dieser Zeit – kurzum an allem, was das damalige Frauenleben prägte.“
Alles, was mit Schule zu tun hat, sammelt sie seit ihrem Pädagogik-Studium. Allein die Schulbuchsammlung ist hochinteressant und spricht Bände über den einstigen Zeitgeist. „Das damalige Frauenbild wurde in Wort und Bild vermittelt. Die Mädchen halfen der Mutter im Haus und bei Handarbeiten. Die Mutter kochte und putzte, die Großmutter strickte. Es gab praktisch kein weibliches Wesen ohne Schürze“, stellt Gudrun Linn fest.
Die Zeit des „annodazumaligen“ Frauenlebens lässt sich grob in die Jahrzehnte von 1880 bis 1920 einordnen. Die Frau wird dabei in all ihren natürlichen Lebensräumen gezeigt: in der Küche, der Waschküche, im Wohnzimmer und Schlafzimmer, im Kinderzimmer, in der Kapelle, im Kurzwarenladen, in der Schneiderei, in der Schule und sogar im Büro. Ja, die Frauen damals durften auch arbeiten – jedoch nur bis sie in den Ehestand eingetreten waren. Danach gab es nur noch „Homeoffice“, denn schließlich wurde aus dem Fräulein dann eine (richtige) Frau.
Außer das Fräulein Lehrerin. Sie arbeitete oft bis zur Pensionierung, falls sie das Lebensziel „Heirat“ nicht realisieren konnte. Die so genannte alte Jungfer. Ansonsten war weibliche Erwerbstätigkeit undenkbar, schließlich waren die Rollen unverrückbar festgelegt. Der Mann verdiente die Brötchen und die Ehefrau hielt sich vor allem im Haus auf und erblühte zwischen Hausarbeit und Kindererziehung. Nicht zu vergessen die liebevolle Umsorgung des Ehemannes, wenn er abends müde und geschafft Feierabend hielt. Wie treffend ist dies doch auf einem Sticktuch im Museum unverwüstlich verewigt: „Das höchste Glück für einen Mann ist eine Frau, die kochen kann.“
Harte, langwierige, körperliche Arbeit
„Wichtig waren und sind mir immer die Geschichten hinter den Gegenständen. Wie sah der Alltag der Frauen und Mädchen aus, welches Leben führten sie“, erzählt Gudrun Linn. Wie fleißig diese Frauen waren, lassen allein all die aufwändigen Hand- und Näharbeiten erkennen, die allesamt aussehen, als ob sie maschinenproduziert wären. Diese Stücke wurden vor allem in den Abendstunden angefertigt, wenn der Haushalt bewältigt war und die Kinder selig in ihrer bestickten Bettwäsche schlummerten.
Ein Lebensstil, den man als Frau der Jetztzeit schwer nachvollziehen kann. Ein Lebensstil, bei dem sich schnell das Gefühl der Hochachtung vor der Leistung dieser Frauen einstellt. Und sie mussten natürlich ohne die Errungenschaften der Technik zurechtkommen, die heutzutage den Haushalt erleichtern. Allein der Waschtag war mit harter, langwieriger, körperlicher Arbeit verbunden. Selbstverständlich ohne vollautomatische Waschmaschine, die in Deutschland erst 1951 auf den Markt kam. Unzählige, teilweise recht schweißtreibende Arbeitsschritte lagen zwischen dem Auskochen der Wäsche und dem gestärkten, gebügelten und gefalteten Wäschestapel im Schrank.
Die Omi hat ihren besonderen Platz
Eine Vitrine im Museum ist Gudrun Linns Großmutter gewidmet, die in der Ukraine geboren und im Zaren-Russland in der Nähe von St. Petersburg aufgewachsen ist. In dem Dorf Zarskoje Selo (heute Puschkin), ca. 25 Kilometer von St. Petersburg entfernt, hielt sich die Zarenfamilie die meiste Zeit im Katharinen-Palast auf. Die Großmutter spielte sogar mit den Kindern von Nikolaus II., da ihr Vater am Hof Deutsch unterrichtete. „Omi“, wie Gudrun Linn sie liebevoll nannte, sprach fünf Sprachen fließend und schloss das Lyceum, (Mädchengymnasium) als Schulbeste ab – im Jahre 1910.
Als Auszeichnung für diese Leistung erhielt sie vom Zaren einen Goldring, den man unter anderem in Blaibach bestaunen kann. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs flüchtete die Familie zu den Großeltern ins Baltikum. Längerer Wohnort sollte dann das deutsche Breslau sein – und als die Tochter (also Linns Mutter) heiratete, siedelte Omi ebenfalls nach Bad Tölz über. Viele Jahre lebte sie dann bei Gudrun Linn in München. Doch selbst sie sollte noch den letzten Abschnitt ihres Lebens im Bayerischen Wald verbringen, als sie 1997 in ihrem 100. Lebensjahr in Engelshütt ansässig wurde und dort bis zu ihrem 103. Geburtstag bei gewohnt scharfem Verstande lebte.
Es ist kaum zu glauben, was Gudrun Linn über ihre Omi alles zu berichten weiß. Potenzial für spannendes Filmmaterial. Doch kein Film, sondern ein Buch soll ein weiteres Projekt werden, das sie unbedingt realisieren möchte. Die Großmutter schrieb ihr aufregend dramatisches Leben bereits als Biografie in Romanform maschinengetippt nieder. Dies möchte die Enkelin gerne veröffentlichen.
„Wirf weg, kauf neu“ existierte de facto nicht
Jährlich zeigt Gudrun Linn in ihrem Museum eine Sonderausstellung zu einem bestimmten Bereich: die Schule, die Mode der 1880er bis 1940er Jahre, der Kurzwarenladen oder etwa zum Thema „Verliebt, Verlobt, Verheiratet“. Hier staunt der Besucher unter anderem über ganz spezielle Exponate zur Verhütung, etwa ein in einer Zigarette zusammengerolltes Kondom als unauffälliger Begleiter. Oder die dicke Stoffdamenbinde samt Halterung. Oder alles rund um die Hochzeitsnacht und das Wochenbett. Dass diese Ausstellung gut frequentiert war, braucht nicht näher geschildert zu werden…
Im vergangenen Winter wurde eine Sonderausstellung zur Heimarbeit der Frau lanciert. Den Impuls dazu gab ein Webstuhl, den eine Bad Kötztinger Familie dem Museum vermachte. Besonders die Nachhaltigkeit liegt Gudrun Linn dabei am Herzen. Denn die Frauen damals lebten dieses Konzept Tag für Tag. „Wirf weg, kauf neu“ existierte de facto nicht. Alles Stoffliche – Kleidung, Wäsche, Tücher, Bettwäsche – wurde so lange ausgebessert, bis es nicht mehr zu verwenden war. Völlig undenkbar war ebenso Lebensmittel wegzuwerfen. Nur die echten Abfälle landeten auch im Müll. „Zu diesem Thema möchte ich unbedingt noch etwas schreiben, da es sehr aktuell ist und zeigt, dass uns die Frauen der Jahrhundertwende in diesem Punkt weit überlegen waren. Das würde ich gerne bewusst machen“, sagt sie.
Im Fokus der nächsten Sonderausstellung, die im Frühling starten soll, stehen Post- und Ansichtskarten. Das Zusammentragen dieser Karten stellte übrigens ein typisches Hobby der bürgerlichen Frau der Jahrhundertwende dar. Natürlich ist auch diese Sammlung so umfangreich, dass nur eine exklusive Auswahl präsentiert werden kann. Die älteste Postkarte stammt dabei aus dem Jahr 1885. Das thematische Interesse der Exemplare galt wiederum dem Frauenbild: Gerne wurde die strickende, nähende oder stickende Dame lächelnd abgebildet – vom Mädchen bis hin zur Großmutter. Im besten Fall saß der schmachtende Gatte noch daneben. Ach, wie schön und heil doch diese Welt war! Die Frau zu Hause beim kochen, putzen, wachen – und abends, wenn alle Lieben versorgt waren, strickte und stickte sie noch munter weiter. Mehr „Idylle“ geht fast nicht…
„Bewahre dir deine Unabhängigkeit“
All die Eindrücke und spannenden Geschichten, die Gudrun Linn bei der Führung durch ihr Museum unterhaltsam und anekdotenreich erzählt, kann man am besten bei Kaffee und leckerem Kuchen im dazugehörigen Café „Annodazumal“ sacken lassen. Auch hier staunt man erst einmal, bevor man Platz nimmt. Eine weitere Reise mit der Zeitmaschine. Das Mobiliar im Wiener Kaffeehausstil könnte nicht besser passen, um den Museumsbesuch authentisch abzurunden.
Es wird klar: Gudrun Linn legt großen Wert darauf, dass jene Zeit nicht verherrlicht, sondern die Veränderung und der Kontrast zur Gegenwart aufgezeigt wird. Die Botschaft: Wie gut es doch den Frauen heute geht. „Ich bin eine Feministin und kämpfte bereits in den 70er Jahren für Gleichberechtigung und Gleichstellung. Wir sind auf einem guten Weg, aber noch nicht am Ziel“, lautet ihr Fazit. Das Frauenthema stellt seit jeher einen Schwerpunkt in ihrem Leben dar; sie möchte anhand ihrer eigenen Vita veranschaulichen, dass es auch einer alleinstehenden Frau möglich ist, ein großes Projekt auf die Beine zu stellen – auch noch jenseits der 70. „Höre nie auf anzufangen und fange nie an aufzuhören“, lautet ihr Motto.
Zum Schluss fügt sie noch den Rat ihrer Omi hinzu, die sie mit über 100 Jahren fragte: „Würdest du nochmal heiraten?“ Auf ihr Verneinen hin nickte sie zustimmend und meinte: „Bewahre dir deine Unabhängigkeit“. So feiert dieses außergewöhnliche Haus in diesem Jahr den zehnten Geburtstag und freut sich auf viele Besucher, wenn an Ostern die Türen hoffentlich wieder ganz weit geöffnet werden dürfen…
Melanie Zitzelsberger