Cham. Es kommt durchaus vor, dass manche Menschen erst im Erwachsenenalter erfahren, dass sie nicht diejenigen sind, für die sie sich immer hielten. Sie erfahren von ihren eigentlichen Wurzeln, erleben in der Folge so manchen Aha-Moment – und zuvor sperrige Puzzleteile fügen sich mühelos zusammen. Manches ergibt endlich den lang ersehnten Sinn. So erging es auch David ben Abraham. Er lebt im Landkreis Cham und möchte seinen säkularen Namen nicht nennen. Denn David heißt nicht schon immer so. Erst seit seiner formalen Konversion zum Judentum im Jahr 2018.
Doch zunächst zurück auf Anfang. David wuchs mit Mutter, Vater und älterem Bruder in der Nähe von Cham auf. Die Eltern betrieben eine Hühnerfarm mit 30.000 Tieren und dazu ein Gasthaus am Sendlinger Tor in München. Viel Arbeit, ein großer Betrieb, eine glückliche, erfüllte Kindheit.
Vom Bayerischen Wald in den hohen Norden
„Ich wurde katholisch erzogen, war Ministrant und spielte sogar mit dem Gedanken, später Priester zu werden“, blickt der Chamer heute zurück. Als Jugendlicher reiste er nach Taizé (Sitz einer ökumenischen Bewegung nahe dem ostfranzösischen Cluny) – ein Ort, der ihn begeisterte und nachhaltig beeinflusste. Ebenso engagierte sich der junge Mann in der Jugendarbeit beim BDKJ und leitete Tage der Orientierung im Kloster Windberg im Landkreis Straubing-Bogen. Auch in der Behinderteneinrichtung St. Gunther in Cham war er aktiv.
Aufgrund seiner stark ausgeprägten sozialen Ader beschloss er, das Studium der Sozialpädagogik aufzunehmen. Weit weg vom Bayerischen Wald zog es ihn in den hohen Norden an die Fachhochschule in Emden. Dort blieb er auch nach dem Abschluss wohnhaft und arbeitete als Bildungsreferent mit großem Etat, um zukunftsweisende Projekte zu realisieren. Der berufliche Werdegang, wie auch später der persönliche, ging schließlich einen komplett anderen Weg. David stieg in das Familienunternehmen ein, das inzwischen ebenfalls einen großen Wandel durchlaufen hatte und sich komplett neu erfand. Dort ist er seit mehr als 20 Jahren Geschäftsführer und fusioniert mittlerweile erfolgreich mit israelischen Unternehmen.
Plötzlich ist so vieles anders
Als junger Erwachsener änderte sich sein Leben jedoch schlagartig. Weniger äußerlich. „Ich erfuhr von meinen Eltern, dass mein Papa nicht mein biologischer Vater ist. Mein wirklicher Papa war ein israelischer Pilot, der sich kurzzeitig in München aufhielt und den meine Mutter dort kennenlernte. Aus dieser Verbindung entstand dann der kleine David“, resümiert er augenzwinkernd. Das war Anfang der Sechziger Jahre.
„Obwohl ich ernsthaft überlegte, Priester zu werden, sagte mir bereits ein deutscher Priester in Taizé, dass ich niemals einer werden würde. Ich fragte mich damals schon, wie er das wissen wolle“, erzählt er. Wie passend, dass sein leiblicher Vater ein Cohen (sprich: ko-HEN) ist. Cohen ist der jüdische Priesterstamm und darüber hinaus ein weltweit stark verbreiteter jüdischer Familienname. Plötzlich fügen sich Puzzleteile zusammen und vieles macht für David Sinn. „Ich habe irgendwie immer gespürt, dass ich anders als die anderen bin. Das heißt aber nicht, dass ich ein Sonderling oder Außenseiter war, überhaupt nicht – eben anders“, sagt er.
Mit 18 Jahren trat er dann seine erste Israelreise an. Als er aus dem Flugzeug stieg, wusste er sofort: „Das ist meins, das ist meine Heimat“, erinnert er sich zurück, als wäre es erst gestern gewesen. Das so genannte Gelobte Land. Das sollte es auch für David ben Abraham immer mehr werden.
In Israel – Hier bin ich daheim
Da jüdische Religion und Kultur aufs Engste mit Israel verbunden sind, fing David an, das Land zu bereisen und sich regelmäßig dort aufzuhalten. Er absolvierte Praktika, knüpfte mehr und mehr Kontakte zu Einheimischen, schloss Freundschaften, die bis heute andauern. David lernte auch die arabische Lebenssituation in Israel kennen, als er sechs Wochen in einer Behindertenwerkstätte in Tamra, einer arabischen Stadt im Norden des Landes, arbeitete. Er sieht das Land, seine Geschichte und die Lebensumstände der verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit ihren ureigenen Problemen sehr differenziert – und er weiß definitiv, wovon er spricht.
Auf die Frage, ob David je seinen leiblichen Vater kennenlernte, antwortet er: „Ja, wir haben uns kennengelernt. Ich konnte ihn ausfindig machen und es gab ein Treffen, aber wir haben unsere Beziehung nicht vertieft.“ Sein Vater ist eine hochrangige Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Israel. Ob es schmerzhaft für ihn sei? „Nein, gar nicht. Ich hatte ja immer einen lieben Papa und eine liebe Mama. Mir fehlte und fehlt es an nichts“, zieht er sein Fazit. Völlig aufgeräumt. Durch seinen leiblichen Vater ist er dem Judentum auf die Spur gekommen, das nun einen großen Anteil seiner Identität ausmacht.
Die immer weitere Hinwendung zum Judentum
Durch die genetischen Wurzeln und das große Eigeninteresse erfolgte im Laufe der Jahre eine immer größer werdende Hinwendung zum Judentum. Die vielen Reisen nach Israel und die sich mehrenden Kontakte trugen maßgeblich dazu bei. David begann, sich intensiv mit der Religion auseinanderzusetzen, studierte die Tora, lernte Ge- und Verbote, die Gott den Juden auferlegte. Er lernte die Segensgebete und die koscheren Speisegesetze kennen.
Hinzu kommt selbstverständlich das Erlernen der hebräischen Sprache. Allein das stellt eine immense Herausforderung dar. Hebräisch gehört sicherlich zu den sehr schwierigen Sprachen. Er selbst kann sich darin ausdrücken und wird verstanden, sagt er und ergänzt mit einem Lachen: „Ich kann mich unterhalten, aber in Israel bevorzuge ich Englisch, was so gut wie jeder dort spricht.“ Dort komme man völlig problemlos ohne Hebräisch aus.
Demnächst steht die Einbürgerung an. Jeder Jude, wohnortunabhängig, hat die staatliche Legitimation, israelischer Staatsbürger zu werden. Und das möchte David auf jeden Fall. „Vor fünf Jahren hatte ich meine Gijur, den offiziellen Übertritt zum Judentum“, sagt David ben Abraham. Zu diesem Anlass erhielt er auch seinen (neuen) Namen: David, Sohn des Abraham. Drei Jahre musste er dafür büffeln und besuchte den Unterricht bei einem Rabbiner in München. Die Konversion zum Judentum verlangt dem Übertrittswilligen einiges ab: Hebräisch lernen, umfangreiche Kenntnisse der Heiligen Bücher und deren Auslegung, Speisegesetze, 613 Ge- und Verbote, Feiertage und und und.
Allein an dieser Tatsache wird überdeutlich, dass das Judentum im Gegensatz zu Christentum und Islam keine missionarische Religion ist. Man wirbt nicht um Mitglieder. Wer zum Judentum gehören möchte, muss große Hürden überwinden und viel Arbeit auf sich nehmen. Nur dann steckt eine ernst zu nehmende Absicht dahinter.
Nach der erfolgreich absolvierten Prüfung gehört man als „vollständiger“ Jude bzw. Jüdin mit dazu. Mit zur jüdischen Gemeinschaft, die weltweit nur um die 15 Millionen Gläubige zählt. Die meisten Juden leben nach Israel in den USA, bevorzugt in New York City, das auch das Wohnzimmer Israels genannt wird. Da macht es keinen Unterschied, ob die Mutter Katholikin war. Kleine Anmerkung: Wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde, gilt automatisch als Jude – und bleibt es lebenslang.
Keinerlei Gewissenskonflikt
Obwohl er mehr und mehr in die neue Religion und Kultur hineinwuchs, war es für David ben Abraham nicht ganz einfach, das Christentum wie eine Schlangenhaut abzustreifen, da es tief in ihm seit seiner frühen Kindheit verankert war und er den Katholizismus gerne praktizierte. „Heute sehe ich es so: Jesus war ein charismatischer Rabbiner und die enge Verbindung zwischen Judentum und Christentum steht ja ohnehin.“ Er geriet somit in keinerlei Gewissenskonflikt.
Mit seinen zahlreichen Facebook-Posts versucht David die Tora zu erklären, in unsere Sprache und unser Denken zu übersetzen. Er legt sie aus. Er gibt Denkanstöße. Eine seit jeher zutiefst jüdische Herangehensweise an die heiligen Schriften. Auslegen, deuten und darüber debattieren. So entsteht (noch größere) Nähe zu Gott.
Ganz neu engagiert sich David bei „Meet a Jew„, einer Initiative des Zentralrats der Juden in Deutschland. Ein Begegnungsprojekt. Er besucht dabei Schulen, Vereine oder öffentliche Institutionen. Er berichtet und erzählt aus erster Hand. Er macht das vielen immer noch so fremde Judentum erfahrbar, erlebbar. Der Austausch, der Dialog steht im Vordergrund.
Jude sein im Alltag: allein auf den weiten Fluren des Bayerwaldes
Wie praktiziert David das Judentum in seinem alltäglichen Leben? „Ich fahre so oft es geht zum Gottesdienst in die Gemeinde nach München, auf jeden Fall zum Familiengottesdienst. Ich engagiere mich sehr im Gemeindeleben“, erzählt er. David ist Mitglied in der liberalen Münchner Gemeinde Beth Shalom, die ca. 650 Mitglieder zählt und eine von den vier Israelitischen Kultusgemeinden in der Landeshauptstadt ist. Seit neuestem gehört er auch zum Vorstand.
In Cham leben nur noch wenige Jüdinnen und Juden. Knapp 20 an der Zahl. David kennt sie alle. Bis 1948 gab es eine aktive Israelitische Kultusgemeinde in Cham, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den sog. Displaced Persons formiert wurde, mit Betsaal und Friedhof. Die Menschen machten dort jedoch nur Zwischenstation vor der Auswanderung nach Israel oder in die USA. Danach wurde es sehr still um die jüdischen Mitbürger im Landkreis Cham. Aktuell sind es zu wenige, um eine aktive Gemeinde aufzubauen. So gehen sie ihre getrennten Wege nach Straubing, Regensburg oder München.
Antisemitismus – Wirklich spürbar unter uns?
„Ich persönlich war noch nie antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Vielleicht ist es diesbezüglich sogar vorteilhaft, auf dem Land zu leben“, mutmaßt der viel beschäftigte Unternehmer. Seit dem Anschlag von Halle im Oktober 2019 habe er dennoch so seine Bedenken.
„Wirklich sicher fühle ich mich nur in Israel, obwohl ich dort auch schon Raketenangriffe miterlebt habe“, stellt er fest. Teilweise kommt er sich hierzulande wie ein Exot vor. Kürzlich war er auf einer Beerdigung und trug in der Kirche seine Kippa. Im Judentum bedecken Männer und Jungen ihr Haupt in der Synagoge. Aus Ehrfurcht vor Gott. „Dann mach ich das auch in einer Kirche“, sagt er.
2021 war ein großes Jubiläumsjahr: 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Es ist erfreulich, dass jüdisches Leben hier wieder zu neuer Blüte gekommen ist, dass es zahlreiche lebendige Gemeinden gibt, die einen Platz in der Gesellschaft haben. David ben Abraham trägt dazu bei. Indem er sein persönliches Judentum lebt, es live bei „Meet a Jew“ erlebbar macht, indem er den Menschen seine Geschichte erzählt.
Melanie Zitzelsberger