Haidmühle. „Sie dürfen ab morgen die Straße nicht mehr befahren, es wird Haftkleber aufgebracht.“ Straßensperre wegen Baumaßnahmen, direkt vor der eigenen Haustüre. Ein idealer Anlass für ein „Ausprobiat„. Die Frage, die dabei im Fokus steht: Wie abhängig sind wir hier, tief drinnen im Woid, vom Auto? Hog’n-Autorin Sabine Simon berichtet.
40 Häuser, verstreut entlang der Staatsstraße zwischen Altreichenau und Haidmühle: Das ist die „Streusiedlung“ Frauenberg, wie es Geographen betiteln. Die Staatsstraße ist wie eine Lebensader für die hier wohnenden Menschen. Ohne sie funktioniert nicht viel. Alternative Strecken, um zum Einkaufen, zum Arzt oder in die Arbeit zu kommen, gibt es kaum oder gar nicht – je nachdem, auf welcher Seite der Straße man wohnt.
Was wäre wenn… wir mal ganz ohne Auto leben müssten?
Nun war die Straße in den Augen des Staatlichen Bauamts Passau so sanierungsbedürftig, dass man knapp drei Millionen Euro in die Hand nimmt, um sie auf fünf Kilometern Länge komplett neu zu asphaltieren. Vier Wochen halbseitige Sperrungen sowie vier Wochen Komplettsperrung werden im Vorfeld der Maßnahme angekündigt.
Die Anwohner beruhigt man: Sie dürfen die Baustelle auch während der Vollsperrung befahren, man könne sie ja schließlich nicht einsperren. Die Anwohner sollten die Fahrten durch die Baustelle aber auf ein Minimum reduzieren.
Wir, Familie Simon aus Frauenberg, stellen uns die Frage: Kommen wir ein paar Wochen ohne Auto aus? Wir besitzen zwei Fahrzeuge: Eines davon stellen wir bei Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab, um in Richtung Haidmühle weg zu kommen, sollte es nötig sein. Das andere dürfen wir in Altreichenau bei Bekannten parken, um von dort aus Richtung Waldkirchen mobil zu sein. Wenn möglich, sollen die Autos aber stehen bleiben.
Schulbus fällt einfach aus
Freitag vor der Vollsperrung. Erster Rückschlag. Die Schule meldet sich und gibt Bescheid: Der Schulbus wird – wie alle anderen Linienbusse – die Haltestellen im Baustellenbereich nicht anfahren. Wir sollen die Kinder selbst zur Schule bringen. Sie müssen dorthin – ob nun ein Bus fährt oder nicht.
Zum Glück besitzen wir einen Siebensitzer. Zum Glück parkt er außerhalb der Baustelle. Zum Glück kann ich meine Arbeitszeit flexibel einteilen und es ist mir möglich, morgens sechs Kinder aus dem Dorf in mein Auto zu setzen (die passenden Sitzerhöhungen und Kindersitze habe ich glücklicherweise auch) und Privat-Bus-Betreiber über eine Nebenstraße zu spielen. Inzwischen hat sich das Landratsamt Freyung-Grafenau offiziell dafür entschuldigt, dass wir diese Lösung so kurzfristig selbst organisieren mussten. Denn eigentlich gibt es eine Beförderungspflicht seitens der Behörde. Erstes Fazit: Auto ist unverzichtbar, wenn neben Straßensperre auch ÖPNV-Haltestellen ersatzlos gestrichen werden.
In Frauenberg sind aber nicht nur Schulkinder auf den ÖPNV angewiesen: Es gibt auch Menschen, die keinen Führerschein besitzen. Es gibt Flüchtlinge, die in der ehemaligen Jugendherberge einquartiert sind. Sie haben es um einiges schwerer: Sie müssen fast zwei Kilometer Fußweg zur nächsten Haltestelle in Kauf nehmen, die zudem nur noch wenige Male am Tag von Bussen angefahren wird. Mit der Linie 606 sind sie über die weiträumige Umleitungsstrecke nach Waldkirchen eine Stunde und acht Minuten unterwegs.
Mobilitätsmix aus Rad, Auto und Bus auf dem Weg zur Arbeit
Mittwoch. Ich muss ins Büro. Nach Passau. Das funktioniert heute so: Ich setze mich erstmal aufs Rad und fahre fünf Kilometer nach Altreichenau. Hier steht, wie berichtet, unser zweites Auto. Ich brauche es, um die 15 Kilometer nach Waldkirchen zurückzulegen. Der Bus ist auch in diese Richtung keine Alternative: Ich müsste 50 Minuten früher das Haus verlassen. Mit dem Radl sieht es zeitlich ähnlich aus – und ein weiteres Manko kommt noch dazu: Ich kann das Fahrrad in Waldkirchen nirgendwo den ganzen Tag über sicher abstellen. Schön wäre es, wenn man absperrbare Bikeboxen mieten könnte und keine Angst vor Diebstahl haben müsste.
Und wer jetzt sagt: „Mit dem Radl von Altreichenau nach Waldkirchen? Das wäre ja verrückt!“, dem kann ich entgegnen: Es gibt durchaus Leute, die ihren Arbeitsweg von Waldkirchen nach Passau regelmäßig mit dem (ganz normalen) Fahrrad zurücklegen. Und die bei der Aktion „Stadtradeln“, bei der sich auch der Landkreis Freyung-Grafenau samt Landrat Sebastian Gruber beteiligt hat, innerhalb von 14 Tagen mehr als 300 Kilometer mit dem Rad statt dem Auto geschafft haben. Bei mir persönlich waren es nur 60 Kilometer. Der innere Schweinehund siegt leider viel zu oft. Fest steht: Bei jeder längeren Strecke, für die ich aufs Rad statt ins Auto steige, wird mir bewusst, wie groß der Luxus ist, aufs Gaspedal zu drücken und ohne Mühe auch den steilsten Berg empor zu kommen.
Lieber zu Fuß als mit dem Auto durch den Feierabendverkehr
Auf der Strecke Waldkirchen-Passau nutze ich den Bus. Die Schnellbuslinie 100 bringt mich fast auf direktem Weg – mit minimalen Schlenkern über Röhrnbach und Hutthurm – nach Passau. Ich kann die Zeit nutzen, um zu lesen, im Internet zu surfen oder in meinem Fall sogar, um zu arbeiten. Und das mache ich nicht erst seit der Vollsperrung.
Auf dem Rückweg hat der Bus einen klaren Vorteil gegenüber dem Auto: Er steht nicht im Berufsverkehr-Stau quer durch ganz Passau. Ich muss zwar vom Büro einen guten Kilometer bis zur Haltestelle am Schanzl zu Fuß laufen, wenn ich den Bus nutze. Das geht allerdings schneller, als mit dem Auto an den vielen Ampeln zu stehen und zu beobachten, wie ein egoistischer Verkehrsteilnehmer nach dem anderen die Kreuzungen verstopft…
Völlig klar, dass Busfahren nicht für jeden auf dem Weg zur Arbeit in Frage kommt: Wenn ich zu einer festen Zeit ankommen muss und keine Busverbindung mich pünktlich ans Ziel bringt. Wenn ich Handwerker bin und mein Werkzeug mit zur Baustelle transportieren muss. Aber sehr viele könnten darüber nachdenken, zumindest eine Teilstrecke mit dem Bus zurückzulegen. Die Bequemlichkeit zu überwinden. Klar: Der Anreiz dazu ist gering, wenn selbst mit dem Deutschlandticket die wöchentliche Fahrt von Waldkirchen nach Passau genauso viel kostet wie das Benzin für dieselbe Strecke. So lange wir uns den Luxus des Privatautos leisten können, so lange jeder bereit ist, im Laufe seines Lebens sechsstellige Summen für Autos, Versicherung und Kfz-Steuer auszugeben, wird sich wohl am grenzenlosen Individualverkehr nicht viel verändern.
Denken wir Mobilität irgendwann komplett neu?
Montag. Haftkleber und eine Art Netz sind auf die Straße vor unserem Haus aufgebracht worden. Der neue Asphalt noch nicht. Aber er kommt wohl bald, sollte der Regen nicht schlimmer werden. Die Vollsperre wird voraussichtlich kürzer sein als gedacht. Irgendwie schade. Den wenigen Verkehr und diese Ruhe in Frauenberg genieße ich – und macht mich nachdenklich.
Mein persönlicher Wunsch wäre, dass die Ausgaben im dreistelligen Millionenbereich, die allein das Bauamt Passau Jahr für Jahr in Straßen investiert, zumindest zu einem Teil in zukunftsfähigere Mobilität gesteckt werden. Es gibt sicherlich praktikable Wege weg vom Individualverkehr, wenn wir nicht immer alles sofort mit „Das geht ja sowieso nicht, weil zu teuer und zu umständlich“ abtun. Wenn wir alle uns ein klein wenig zurücknehmen und nicht immer auf dem schnellsten Weg von A nach B kommen müssen. Wenn es eine Pro-Kopf-Abgabe für öffentliche Verkehrsmittel gäbe: Wer den ÖPNV nutzt, profitiert, wer ihn nicht nutzt, zahlt trotzdem mit. Wenn wir radikal umdenken würden und Gedanken an völlig neue Verkehrskonzepte zulassen würden.
Mein Sohn meinte vor Kurzem, als wir von der Straßensperre sprachen und davon, dass wir so sehr vom Auto abhängig sind: „Vielleicht gibt es ja irgendwann eine Art Gondelsystem statt Straßen. Wo man auf einen Knopf drücken kann, dann kommt eine Gondel angesaust, man steigt ein und fährt mit.“ Vielleicht denken nachfolgende Generationen Mobilität und Verkehr ja irgendwann einmal ganz anders als wir…
Sabine Simon