Die Ausbreitung des Corona-Virus verändert derzeit große Teile unseres öffentlichen und privaten Lebens. Daran, wie eine Gesellschaft mit einer Krise umgeht, lässt sich ablesen, wie eine Gesellschaft tickt. Hier sind sechs Thesen, was die Corona-Krise über unser Zusammenleben sagt – und darüber, dass das Virus auch eine Chance bietet, dieses künftig solidarischer, nachhaltiger und gerechter zu gestalten.
1. Die wahren Leistungsträgerinnen und -träger
In diesen Tagen wird viel von systemrelevanten Berufen und kritischer Infrastruktur gesprochen. Dazu zählen nicht nur Ärztinnen und Krankenpfleger, Mitarbeiter der Müllabfuhr und Postbedienstete, sondern auch Busfahrer, Kassiererinnen sowie Sozial- und Pflegearbeiterinnen – also überwiegend Berufe, die von Frauen ausgeübt werden. Von denen, die gemeinhin als „Leistungsträger“ betitelt werden, vulgo Vorstandschefs und Manager, ist in diesen Tagen wenig zu hören – und zu erwarten. Bleibt zu fragen, wieso ausgerechnet Letztere im Vergleich zu Ersteren ein Dutzendfaches mehr Einkommen beziehen. Hinzu kommt, dass es ausgerechnet die unteren Einkommensschichten sind, die von der Pandemie am stärksten betroffen sind.
2. Die Ratlosigkeit der Populisten
Die Corona-Pandemie ist der Albtraum vieler populistischer Demagogen wie Donald Trump oder Boris Johnson. Das gilt auch für Populisten hierzulande. Komplexe Probleme, die sich nicht mit vermeintlich einfachen Lösungen beheben lassen, legen offen, wie wenig Konstruktives derlei Akteure zum öffentlichen Leben beitragen. Ein Virus lässt sich nicht aufhalten, indem man mit dem Finger auf andere zeigt. Ein Virus lässt sich weder mit einer Mauer stoppen noch durch ein Kopftuchverbot oder verpflichtende Wertekurse.
3. Die Frage nach der Notwenigkeit
Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges steht nicht die Frage nach der Möglichkeit, sondern die nach der Notwendigkeit im Vordergrund. Trotz zahlreicher Positivbeispiele, die zeigen, wie eine Gesellschaft in so einer Krise enger zusammenrücken kann, fällt uns das in unserer individualisierten Gesellschaft offenbar schwer. Denn es ist zu einer Art Lebensstil geworden, beständig mehr zu fordern, und einen Anspruch darauf zu erheben, das Geforderte auch zu bekommen. Jede Beschränkung ist eine Zumutung. Das zeigt sich anhand von Berichten über Menschen, die Mundschutzmasken stehlen, Desinfektionsmittel aus den Spendern reißen, oder vorsorglich acht Packungen Klopapier hamstern. Als Gesellschaft zusammenzustehen, solidarisch zu handeln, das Wohl der Allgemeinheit als Norm – all das passt nicht in eine Gesellschaft, in der sich deren Mitglieder vor allem als Individuen begreifen und von Kindesbeinen an dazu erzogen werden, für sich selbst nach dem Besten, also dem Meisten zu streben.
4. Die Fragilität unseres Wohlstandes
Die Erfahrung, vor leeren Supermarktregalen zu stehen, ist eine zutiefst beunruhigende, weil kaum jemand von uns diese Erfahrung je gemacht hat. Prall gefüllte Regale mit acht verschiedenen Sorten Nudeln – jeweils in der Ausführung bio, vegan, Fair Trade, glutenfrei und lokal produziert – sind eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Seit dem Ausbruch der Corona-Krise wird uns allen (hoffentlich) erstmals bewusst, dass unser Wohlstand auf globalen Wertschöpfungsketten basiert – und dass das, was wir täglich einfach so in den Regalen finden, auch irgendwo, von irgendwem, an ganz bestimmten Orten, von ganz bestimmten Menschen, produziert wird.
Dasselbe gilt für die Sicherheit von Arbeitsplätzen, die viele in diesen Tagen verlieren, ohne dass sie selbst schuld daran wären. Die Betroffenen sind weder schuld am Virus noch an der Talfahrt der Börse oder daran, dass unser Wirtschaftssystem nur dann funktioniert, wenn es beständig über sich hinauswächst.
5. Die negativen Folgen der Globalisierung
Nicht nur die unmittelbaren Folgen der (wirtschaftlichen) Hyperglobalisierung – v.a. in Form von Schadstoffemissionen – machen unserer Umwelt zu schaffen. Das massive Artensterben der vergangenen Jahrzehnte, zerstörte Ökosysteme, Monokulturen, industrielle Fleischproduktion und der Raubbau an der Natur begünstigen die Ausbreitung eines Virus‘ massiv. Das ist auch der Grund dafür, wieso sich derlei Pandemien in letzter Zeit häufen. Mittlerweile müssen wir uns fragen, inwiefern die positiven Folgen der Globalisierung die negativen tatsächlich noch aufwiegen.
6. Was nicht alles geht, wenn es muss
Immer dasselbe Argument, wenn Menschen in Not geraten, Schulen, Krankenhäuser, Straßen, Renten- und Sozialsysteme unter der chronischen Unterfinanzierung des öffentlichen Betriebs leiden oder es um die Bearbeitung der ökologischen Krise geht: Mehr Ausgaben würden „die Wirtschaft“ oder „die Märkte“ zu sehr belasten. In Gesetzesform schreiben die sog. Schuldenbremse bzw. die EU-Budgetregeln vor, dass ein Staat gefälligst nicht mehr ausgeben soll, als er einnimmt. Doch es geht offenbar auch anders: Innerhalb kürzester Zeit schnürten die EU und deren Mitgliedsstaaten nicht nur milliardenschwere Kreditpakete, sondern es wird aktuell sogar über Verstaatlichungen diskutiert (ohne, dass dabei ein Jusos-Chef ans mediale Kreuz genagelt wird).
Die Krise als Chance
Die Corona-Krise ist die massivste Störung des öffentlichen Lebens der vergangenen Jahrzehnte. Trotz all der Herausforderungen, die die Pandemie mit sich bringt, bietet sie auch eine Chance: darüber nachzudenken, ob so, wie wir derzeit unser Zusammenleben gestalten, wirklich der beste aller denkbaren Wege ist. Ob Menschen wirklich das Einkommen bekommen, was sie verdienen. Ob ein Immer-Mehr wirklich der Schlüssel zum Glück ist. Ob das Wohlergehen der Märkte tatsächlich mehr wiegt als das einzelner Menschen. Und ob es uns allen wirklichen besser geht, wenn jede und jeder nur auf sich selbst schaut.
Auch, wenn wir uns selbst gerne als frei und souverän begreifen, zeigt die Krise, dass wir so frei und souverän doch nicht sind, sondern oftmals nur Spielball fremder Märkte und Mächte. Viel freier und souveräner sind wir als solidarische Gemeinschaft!
Johannes Greß
Super geschrieben!
Wieder geht mein Glückwunsch, meine große Anerkennung und sehr viel mehr an den Hog’n und Johannes Gress für diese klaren Worte – und wie bereits an anderen Stellen … auch diesmal verbunden mit der Hoffnung, dass diese sich bietende, einzigartige Chance mit dem breiten Wunsch, dem unmissverständlichen Willen, der ungebremsten Tat-Kraft, dem unmittelbaren Handeln ALLER zu einem längst überfälligen Wandel einer WELT-Gesellschaft führt, einer Gesellschaft, die menschliches Leben in allen ihren Ausprägungen achtet.
Ergänzend mit dem Hinweis, mehr noch der dringenden Leseempfehlung, zu einem Text von Matthias Horx: „Im Rausch des Positiven: Die Welt nach Corona“ – direkt verlinkt auf der Startseite von https://ois.gmachtin.bayern/ – wünsche ich uns ALLEN ein freudvolles Erwachen aus einem ansonsten meist sinnlosen Tiefschlaf.
In einer zweiten Ergänzung … auch wenn Sie versucht sind mir diesen Satz um die Ohren zu hauen:
WIR SCHAFFEN DAS
Peter