Sechs Thesen, wieso die Corona-Krise eine Chance sein kann, hatte ich an dieser Stelle im März 2020 formuliert. Zu einer Zeit, in der viele von uns erstmals die Erfahrung machen mussten, vor leeren Supermarktregalen zu stehen. In einer Zeit gesamtgesellschaftlicher Paralyse. Rückblickend wirken meine sechs Thesen nahezu naiv. Ein Versuch der Aktualisierung.
Krisen sind stets auch Chancen. Inmitten solcher Krisen wird vormals Unsagbares sagbar, wird Unhinterfragbares hinterfragbar; wird das, was vielfach als (wirtschaftliche) „Notwendigkeit“ kommuniziert wird, ihres ideologischen Charakters entlarvt. Selbstverständlich bieten Krisen nicht nur Chancen für progressive, emanzipatorische Kräfte. Was nach der Krise kommt, ist Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses. „Die Frage, wer nach der Krise die Kosten trägt, wird entlang bestehender Ungleichheiten und Machtverhältnisse beantwortet werden – falls nicht politisch aktiv gegengesteuert wird“, schreibt der Politikwissenschafter Ulrich Brand (Universität Wien) in seiner Analyse zur Corona-Krise.
Chancen auf eine bessere Zukunft
Aus progressiver Sicht ist die Bearbeitung der Corona-Krise bisher eine Geschichte verpasster Chancen. Es gab im März – möglicherweise noch im April – ein Zeitfenster, in welchem fortschrittliche Ideen zu den entscheidenden Fragen unserer Zeit lebendig und offen diskutiert wurden: eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit, eine Regionalisierung der Wirtschaft, ein Bedingungsloses Grundeinkommen, eine Abkehr vom Konsumismus (angesichts des Lockdowns in Verbindung mit der Frage „Was brauche ich wirklich?“).
Innerhalb dieses Zeitfensters, als klar wurde, dass es massive staatliche Eingriffe braucht, um die Wirtschaft am Leben zu erhalten, wären die Chancen zahlreich gewesen: etwa um staatliche Hilfszahlungen an ökologische Auflagen zu koppeln; in einen nachhaltigen Umbau von Wirtschaft und Verkehr zu investieren; über eine (finanzielle) Neubewertung von „Leistung“ und über Sinn und Unsinn der Hyperglobalisierung nachzudenken.
Ein historisch schlechter Tag für Europa
So schnell sich dieses Zeitfenster auftat, so schnell war es wieder geschlossen: Seither dominiert die Frage, wie wir wieder zurück zum „Normalzustand“ kommen. Nicht wissen wollend, dass genau der „Normalzustand“ das Problem, die eigentliche Krise ist. Antworten auf zukunftsweisende Fragen gehen unter im Gebrüll darüber, ob eine Maskenpflicht medizinisch notwendig und/oder moralisch richtig ist. Und welche Urlaubsländer die Deutschen diesen Sommer „beglücken“ dürfen.
An einem „historischen Tag für Europa“ (Emmanuel Macron) und unter großem medialen Applaus einigten sich die Staatschefs der EU-Mitgliedsstaaten Mitte Juli auf ein Krisenpaket im Umfang von 1,8 Billionen Euro. Laut Angela Merkel ein wichtiger Schritt für Deutschland, um „Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern“. Ein Satz, wie er so oder so ähnlich schon hunderte, tausende Male in eine Kamera gesprochen wurde. Nämlich immer dann, wenn irgendeine wirtschaftspolitische Maßnahme verabschiedet wurde. Merkel hätte auch sagen können: „Wir machen einfach das, was wir immer schon machen und hoffen, dass es auch dieses Mal zumindest nicht viel schlimmer als vorher wird“.
„Schock-Strategie“ und „Corona-Kapitalismus“
Dass es im EU-Budget zu erheblichen Einschnitten bei den Themen Klima, Gesundheit, Forschung und Migration kam, ging im Freudentaumel ob dieses „historischen Tags“ leider unter. Ob es Sarkasmus, Boshaftigkeit oder einfach politische Orientierungslosigkeit ist, ein solches Paket auch noch „Next Generation EU“ zu nennen, sollen andere beurteilen. Aber was, wenn nicht Klima, Gesundheit, Forschung und Migration sind die großen Zukunftsthemen dieser „Next Generation“? Mit mehr Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und mehr Arbeitsplätzen werden sich diese Probleme nicht lösen lassen – sie sind vielmehr deren Ursache.
In ihrem Buch „Die Schock-Strategie“ beschreibt die kanadische Journalistin Naomi Klein, wie tiefe, gesellschaftliche Krisen und Traumata – Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen, Kriege – von mächtigen Kapitalfraktionen und Regierungen genutzt werden, um Profitinteressen durchzusetzen. Etwa um inmitten dieses gesellschaftlichen „Schocks“ öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren und um Sozialleistungen abzubauen. Bereits am 16. März warnte Klein vor einem „Corona-Kapitalismus“ – eine Krisenbearbeitung ganz im Sinne der Reichen, eine weitere Umverteilung von unten nach oben, eine Machtverschiebung zugunsten der Herrschenden unter dem Deckmantel des „Krisenmanagements“.
Diese „neue Normalität“ ist weder „neu“ noch „normal“
Klein bezieht sich in ihrer Analyse auf Nordamerika, doch auch innerhalb der EU wurden und werden die meines Erachtens wichtigsten Lehren aus der Corona-Krise konstant ignoriert: Es kann nicht das Ziel sein, zurück zur „Normalität“ zu gelangen. Wie gesagt: Genau diese „Normalität“ war es, die die drängenden Fragen unbeantwortet ließ, die die „multiplen Krisen“ (Alex Demirović) im neoliberalen Kapitalismus überhaupt erst hervorbrachte.
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz – Personifizierung und Kristallisationspunkt dieser „multiplen Krisen“ – spricht in diesem Zusammenhang gerne von einer anzustrebenden „neuen Normalität“. Diese sieht derzeit so aus, dass laut darüber nachgedacht wird, klimapolitische Ziele auszusetzen, um die Konjunktur wieder zu beleben; sich Manager und Aktionäre üppige Sümmchen auszahlen lassen, während die eigene Belegschaft – auf Kosten der Allgemeinheit – zur Kurzarbeit angemeldet wird; und jene, die noch im Frühling als die wahren Leistungsträgerinnen und -träger eifrig von den Fenstern aus beklatscht wurden, mit ein paar läppischen Boni abgespeist werden. Zeit, politisch aktiv gegenzusteuern!
Kommentar: Johannes Greß