Passau. Eine ihrer ersten Erinnerungen an Passau kreist bei Lydia Geißler um den „Kaba“, den sie sich als Vierjährige im Krankenhaus gerne bestellt hatte. Und dass immer alle „unglaublich nett“ zu ihr waren, immer jemand Milch brachte, wenn sie auf den roten Knopf über ihrem Bett drückte. Was eigentlich passiert war – und warum das passiert war -, darauf konnte sie sich damals keinen Reim machen, erzählt die heute 34-Jährige. Hals über Kopf verließen ihre Eltern mitsamt den drei Kindern im September 1989 ihre Heimatstadt Leipzig, auf der Suche nach einem Leben in Freiheit. Lydia und ihren beiden Geschwistern (damals fünf und sieben Jahre) hatten sie erzählt, sie gingen „auf Reisen“.
Erst als sie zu Schulzeiten am Satzende kein „Ne“ mehr anfügte, verlor sie bei ihren Passauer Schulkollegen ihren Status als „Preiss“. Doch „das hat eine Weile gedauert“. Dabei verbrachte Lydia Geißler nahezu ihre gesamte Kindheit in der Dreiflüssestadt. An ihren Geburtsort Leipzig könne sie sich kaum mehr erinnern, sagt sie. Höchsten bruchstückhaft, als sie mit ihren Geschwistern am Hof spielte zum Beispiel. Und als ihre Eltern damals meinten, sie solle das Nötigste in einen Rucksack packen – und sich bei dieser „Reise“ möglichst leise verhalten. Für die Vierjährige Lydia klang das damals nach „Abenteuer“ – womit sie gar nicht so falsch lag…
Definitiv kein „Kurztrip“
Dass nur zwei Monate später, am 9. November 1989, die Mauer fallen sollte – daran hätte damals keiner geglaubt, auch ihre Eltern nicht. Also fuhr Familie Geißler im September im Auto eines Freundes in die Tschechoslowakei. Trotz des repressiven DDR-Regimes waren zu jener Zeit Kurztrips in sozialistische Nachbarstaaten in manchen Fällen gestattet. Doch einen „Kurztrip“ hatten die Eltern nicht im Sinn.
Wie lange sie wirklich unterwegs waren, kann Lydia Geißler heute nicht mehr genau sagen. Sie weiß noch, dass sie in Flüchtlingslagern untergekommen sind oder in fremden Wohnungen geschlafen haben. Dass ihre Mutter sie auf dem Arm trug, während sie bei Nacht durch ein nebliges Sumpfgebiet wateten. Und dass ihre Eltern in der ständigen Angst lebten, aufzufliegen.
Ihr Ziel war Ungarn, was damals eine Art Nadelöhr in den Westen darstellte. Immer wieder öffneten die Ungarn im Verlauf der 1980er ihre Grenze zu Österreich, was das Land für Ausreisewillige sehr attraktiv machte. Ein derartiges Zeitfenster versuchte auch Lydias Familie zu erwischen – und zu nutzen.
„Meine Eltern wollten damals einfach frei sein“
„Meine Eltern wollten damals einfach frei sein“, erzählt sie. Sie selbst habe dieses Gefühl des Eingesperrtseins nie wirklich erlebt, zumindest nicht bewusst wahrgenommen. Aber für ihre Eltern war eine Zukunft in der DDR schlichtweg nicht mehr vorstellbar – „sie wollten reisen!“ Heute spricht Lydia Geißler mit ihren Großeltern, die die ganze Zeit über in Leipzig blieben, über die DDR-Jahre. Erst im Laufe ihrer Jugend wurde ihr nach und nach klar, was damals eigentlich geschehen war. Unter anderem, dass der „Drang nach Freiheit“ ihrer Eltern in einer Hollywood-reifen Flucht endete – und für deren Tochter sehr, sehr glimpflich ausging.
„Heute kann ich darüber lachen“, meint die 34-Jährige. Selbst über die Geschichte, als sie während ihrer Flucht in Ungarn aus dem fahrenden Zug gefallen war. Auf dem Weg zur Toilette probierte die Vierjährige, ob die Zugtür auch tatsächlich verschlossen war und drückte die Klinke nach unten. Die Tür gab – wohl eher unerwartet – nach, Lydia kippte nach vorne und wurde bei voller Fahrt aus dem Zug geschleudert. Auch wenn ihr Vater sofort die Notbremse zog, dauerte es mehrere Stunden, bis man sie mit Hilfe von Spürhunden auffand. Sie müsse irgendwo im Gestrüpp gelandet sein und es war furchtbar kalt. Weiter reichen ihre Erinnerungen nicht.
Durch den Sturz hatte sie sich ihr Bein mehrfach gebrochen, der Knochen war zersplittert. Im ungarischen Dombóvár kam sie zur Erstversorgung ins Krankenhaus. Nicht nur, dass die Vierjährige in Anbetracht der Umstände relativ gut davon gekommen war – ihr Unfall eröffnete ihrer Familie auch eine einmalige Gelegenheit. Ihr Vater hatte bereits die Deutsche Botschaft verständigt, die Grenze nach Österreich war zu dieser Zeit offen. Aus Angst, die Behörden könnten es sich anders überlegen, fuhren sie mit einem Krankenwagen, den die Botschaft extra aus München herbei schaffen ließ, von Dombóvár nonstop bis zur ersten Stadt hinter der deutschen Grenze: Passau.
Ohne „Ne“ und ohne „Preiss’n“
Während Lydia noch im Krankenhaus lag, machte ihre Geschichte bereits die Runde, auch die Lokalzeitung berichtete von dem spektakulären Vorfall. Für die Neuankömmlinge vereinfachte das die Situation erheblich. Noch während sie im Krankenhaus lag, wurde ihrer Familie bereits eine Unterkunft angeboten, die ihr Vater und ihre Geschwister sofort bezogen – während viele andere Migranten in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nibelungenhalle ausharrten. Ihre Mutter blieb noch ein paar Tage bei ihrer Tochter im Krankenhaus. Bereits kurz nach ihrer Ankunft fand ihr Vater eine Anstellung als Schreiner.
Heute lebt Lydia Geißler immer noch in Bayern – gerade noch so: In Neu-Ulm, direkt an der Grenze zu Baden-Württemberg. Nach ihrer Schulzeit in Passau machte sie eine Ausbildung zur Friseurin und am Passauer Stadttheater erste Erfahrungen als Maskenbildnerin. Heute ist sie selbstständig, arbeitet vor allem bei Film- und Fernsehproduktionen als Maskenbildnerin. Oder für Brautpaare – „die glücklichsten Kunden der Welt“, wie sie sagt.
Das typisch sächsische „Ne“ am Satzende hat sich die 34-Jährige schon lange abgewöhnt. Da sind die bayerischen Spracheinflüsse mittlerweile um einiges deutlicher wahrzunehmen. Aber – da hat Passau wohl seine Spuren hinterlassen – von „Preiss‘n“ spricht sie trotzdem nicht – mittlerweile weniger aus persönlicher Betroffenheit, sondern aus Prinzip.
Johannes Greß
Zum Thema:
- MDR-Videobeitrag „GrenzenLos“ – Spurensuche mit Wolfgang Stumph“ (ab Minute 59:10 geht’s dabei auch um die Geschichte der Geißlers).
für die ehemaligen Mächtigen der DDR wohl ein später Triumph, nämlich ein Leben in Wohlstand wie man es aus Serien der 80 Jahren kannte haben sich ihre ehemaligen Untertanen erhofft, mit Bananen und Begrüßungsgeld wurden sie angelockt und ihnen der Versand geraubt, das Ergebnis war für viele ein Leben schlechter als vorher, als unter ihrer Regierung, haben sie erhalten, d.h. Hartz4-Armut, bunte Schaufenster, aufgedunsene von Tränensäcken und Sorgenfalten zerfurchte leere Gesichter, erfrorene Obdachlose, eine Medien-Struktur die dem DDR Fernsehen in nicht nachsteht, die kapitalistische Ellenbogengesellschaft, ein Leben am wirtschaftlichen und sozialen Abgrund, von Existenzangst getriebene, eine Politik die durch Statistiken ihr Versagen und ihre Gleichgültigkeit zu vertuschen versucht, siehe manipulierte und schöngerechnete Arbeitslosenstatistik, politische Korruption- und Finanzterrorismus, siehe diverse schwarze Koffer Lügenbolde, Landesbankskandale und verschwundene Festplatten, hübsche Fassaden die sich der Normalo nicht mehr leisten kann und nicht mehr leisten soll, durch skrupelloseste politische Parteibuch-, Klüngel- und Vetternwirtschaft zeichnet sich das Nachwende-Deutschland aus. Und durch maßlose Überfremdung und Neubesiedelung in einem maßlos überbevölkerten Land wie Deutschland, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Frankreich und Polen und anderer, soll durch Diversifizierung der Bevölkerung das eigene politische System und Pfründe erhalten werden.