Graz/Finsterau. Hektik, Stress, Druck und Dauerbelastung – alles immer schneller, immer besser, immer mehr. Wir sind vom analogen ins digitale Zeitalter hinübergeschwappt (worden), die Momente des Luftholens, des sich Besinnens auf das Wesentliche – sie werden immer weniger, wenn man nicht aufpasst und sich nicht selbst von Zeit zu Zeit in die Gegenwart, ins Hier und Jetzt, zurückholt und innehält. Sei es mit einer kurzen Meditation, mit einer Atemübung – oder einem Sparziergang durch die Natur.
Die Natur des Bayerischen Waldes war es auch, die Ulrich Bänsch, Autor der Hog’n-Serie „Finsterau – meine Jugendliebe“ immer wieder fasziniert und ihm viele unbeschwerte Momente der Gegenwärtigkeit und Achtsamkeit beschert hat, wie er im folgenden vierten Teil berichtet.
Ein Ort, wo die Sehnsucht ist
In Mauth gibt es (auch heute noch) eine Metzgerei, die für ihre Wurst- und Fleischwaren über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Wurstwaren von solch erlesener Güte, Qualität und Genussintensität, von so etwas konnten wir Städter einst nur träumen. Das Schwarzgeräucherte: So etwas hatte ich damals noch nie gegessen – und bis heute habe ich nirgends eine Metzgerei außerhalb von Mauth mit so hoher Qualität gefunden. Das ist auch der Grund dafür, weshalb ich mir immer wieder einen Schnitzen Schwarzgeräuchertes schicken lasse. Wenn das Paket geliefert wird, ist Genusszeit angesagt – und dem kulinarischen Vergnügen mit herrlichen Gaumenfreuden steht nichts mehr im Wege. Ein frisches Bauernbrot, das muss dann einfach dazu. In solchen Momenten kommt es einem vor, als wäre man wieder im Woid. Die Erinnerungen werden wach und das Kopfkino spielt seinen ganz eigenen, persönlichen Film ab. Erinnerungen an einen Ort, wo die Sehnsucht ist.
Mit etwa 15 Jahren durfte ich auf dem vom Forsthaus gegenüberliegenden Fußballplatz mit Papas Audi 100 meine ersten Fahrversuche unternehmen. Ein Fußballplatz, so wie wir ihn kannten, war dies nicht – es war kein grüner Rasen, sondern ein Sandplatz mit diversen Unregelmäßigkeiten. Auf dieser ehemaligen Sportstätte hatten bis vor Kurzem noch die Audi-Quattro-Liebhaber ihr alljährliches Treffen abgehalten, bei dem sich die Allradler stimmgewaltig austoben durften. Mein absolutes Highlight war jedoch, als der Förster, sein Sohn und ich auf die Jagd gingen – zur Steinfleckhütte mitten im Nationalpark.
Denn der Förster war einer der privilegierten Heger, der sein Revier mitten im Nationalpark Bayerischer Wald hatte, entstammte er doch einer Försterdynastie, deren Vorfahren diesseits und jenseits der Grenze für die Pflege des Waldes und die Hege des Wildes seit Generationen verantwortlich zeichneten. Ich werde sie nie vergessen, die Steinfleckhütte, und auch nicht die wundervollen Stunden dort.
Irgendetwas Magisches – vielleicht ein Kraftort?
Am nächsten Morgen bin ich mit dem Förstersohn auf die „Jagd“ gegangen. Natürlich nicht – wie die Waidmänner – mit dem Gewehr, sondern mit einem Fernglas „bewaffnet“. Niemals wieder bin ich mit offenem Mund durch solch einen einzigartigen und wunderbaren Wald gegangen. Ein Hochwald mit riesigen, uralten Nadelbäume, bei denen nur die obersten Stämme mit Ästen und Nadeln besetzt waren. Es war wie in einer riesigen Kathedrale.
Nur mussten wir bei aller Begeisterung aufpassen, dass wir uns nicht auf östliches Territorium verirrten. Denn solche unbeabsichtigten Grenzübertritte in damals feindliches Terrain, die von den Massenmedien immer gerne ausgeschlachtet wurden, zumal sie meist mit diplomatischen Verwicklungen einhergingen, waren damals, zu Zeiten des Kalten Krieges, nicht ohne. Der Nationalpark grenzte unmittelbar an die Tschechoslowakei, da war als Westbürger Vorsicht geboten…
Die Erinnerung an die Steinfleckhütte, jener Ort der Ursprünglichkeit fernab jeder Zivilisation, hatte mich in manch unruhigen Nächten immer wieder zum Einschlafen gebracht. Dort, wo damals nur alle Schaltjahre eine Zollpatrouille vorbeikam, befand sich mein ultimativer Traum-Rückzugsort. Nie wieder erlebte ich solch nachhaltige Eindrücke wie an jenem Steinfleckberg. Es muss schon irgendetwas Magisches haben – vielleicht ein Kraftort? Ich weiß es nicht, vorstellbar wäre es aber schon…
Und dann trug sich eine ganz besondere Episode zu, die ich nicht vorenthalten möchte: Des Försters Sohn und ich stromerten durch das dem Forsthaus angrenzende Wäldchen. Die zwei Jagdhunde durfte ich an der Leine führen. Und urplötzlich blieb der Sohn stehen, zeigte nach vorne auf den Weg und rief: „Da, schau! Ein Fuchs!“ Die zwei Dachsbracken witterten jetzt auch das Wild und schossen – wie ein geölter Blitz – sie ab.
Ich, damals noch von schmächtigem Wuchs, war darauf nicht vorbereitet, fiel der Länge nach auf den Bauch, was die zwei Hundedamen aber überhaupt nicht interessierte. Und so zogen sie mich bäuchlings über den Waldweg. Die Leinen hab ich nicht losgelassen. Auch die Rufe des Förstersohnes interessierten die Jagdgenossen einen feuchten Kehricht. Der Fuchs war verschwunden und hatte sich über diesen skurrilen Anblick sicherlich einen Ast gelacht. Das waren Erlebnisse!
In den folgenden Jahren sind meine Eltern mit mir nochmals zur Steinfleckhütte gewandert – nur schwer war der Aufstieg dorthin zu finden, es führte nur ein unmarkierter Jägersteig zu diesem Ort voller Magie und Träume.
Meine erste Zwickmühle
Und so kam es, wie es kommen musste: Ich wollte den Beruf des Försters ergreifen. Wieder daheim in Stuttgart, kaufte ich in einer darauf spezialisierten Fachbuchhandlung von meinem ersparten Taschengeld in den folgenden Monaten alle erdenklichen Fachbücher über Forstwissenschaften und die Jagd. Hin und her gerissen war ich zwischen meiner absoluten Leidenschaft für Automobile und die Försterei. Das ergab in meinem Leben die erste Zwickmühle, in der ich mich befand. Letztendlich siegte jedoch Ersteres, die Leidenschaft für die Automobile, da ich ein recht fauler Mensch war, stets orientiert auf der Suche nach praktischen Lösungen.
Um den Beruf des Försters ergreifen zu können, hätte ich mein mir doch sehr ans Herz gewachsenes Stuttgart zum Studium verlassen müssen. Zudem gab es für diesen Studiengang einen Numerus Clausus, den ich mit meiner mir innewohnenden schulischen Faulheit nie und nimmer würde erreichen können. So erledigen sich manche Probleme und Herausforderungen wie von selbst. Eigentlich schade, im Nachhinein betrachtet. Möglicherweise wären manche Dinge in meinem Leben doch ganz anders verlaufen…
Wanderlust, Wirtshausflair und Pilzgenuss
Nur wenige Menschen wanderten durch den Wald. Man begegnete kaum einem. Und je weiter wir ins Gehölz vordrangen, desto seltener wurden Begegnungen menschlicher Art. Auf dem Weg von der Reschbachklause zur Schwarzbachklause – dort stand auch eine Diensthütte unseres Försters – war man meist mutterseelenallein unterwegs. Und Heidelbeeren gab es da! Einesteils sehr zu meinem Leidwesen, anderenteils zum Verspeisen ein Hochgenuss – doch das mühselige Pflücken, es war schon eine arge Plackerei. Den Eltern, war es Erholung und Genuss zugleich. Wir stammen halt doch von Jägern und Sammler ab. Das wurde mir damals zum ersten Mal so richtig bewusst, als ich meine Mutter und meinen Vater in gebückter Haltung pflücken sah. Wenn ich heute nur daran denke, bekomme ich furchtbare Kreuzschmerzen…
Was ich jedoch auch von meinen Eltern gelernt habe, ist die heilsame Wirkung des Arnikas, denn dieser wächst auch in den Hochlagen des Bayerischen Waldes. Heute eine streng geschützte Pflanze, entfaltet sie in Alkohol eingelegt ihre wohltuende Wirkung nach wenigen Tagen und Wochen. Der kleine Vorrat meiner Mama, er erzeugte Labsal, wenn wir ein Zipperlein hatten.
Und dann gab es in Finsterau den Gasthof „Bayerwald“ mit einem schon recht merkwürdigen aber auch liebenswürdigen Kauz als Wirt. Dort aßen meine Eltern und ich des Öfteren zu Abend. Eine richtig urige Dorfwirtschaft, wie man sie heute wohl nur noch selten zu Gesicht bekommt. Das Gasthaus existiert heute nicht mehr. Es war noch von jener Qualität, als es noch keine profitorientierten, professionellen Abfütterungsstationen gab, wie es heutzutage in touristischen Hochburgen häufig Usus ist.
Das höchste der Gefühle für meine Mama war stets, wenn sie Pilze gefunden hatte. Die Försterfrau hatte dazu absolute Geheimtipps auf Lager – auch hinsichtlich der Frage, wo es die besten Heidelbeersträucher mit den größten Beeren zu finden gab. Solch geschmackliche Brillanz, wie sie von den dort gefundenen Pilzen damals ausging, konnte ich niemals wieder in solch exquisiten Geschmacksnuancen verkosten. In Butter wurden sie angebraten, soviel ist mir noch im Gedächtnis geblieben…
Manche Bilder sind wie Kraftfelder
Mein Papa hatte seinen Fotoapparat – eine Zeiss Ikon Contina II – auf unseren Streifzügen meistens mit dabei, um wichtige und schöne Momente auf Zelluloid zu verewigen. In den Wintermonaten wurden diese Lichtbilder schließlich auf Dia-Abenden der Familie oder Bekannten präsentiert. Dann sind wir weggetaucht und die schönste Zeit des Jahres erschien nicht nur vor unserem geistigen Auge wieder, sondern als Abbild eines Lichtbildes auf der Leinwand. Es war für mich wie das Zurückholen jener Urlaubstage.
Früher wurden bei der Verewigung und dem Festhalten von Zeitdokumenten noch keine massenhaften Fotoarien bei den Aufnahmen vollzogen, sondern die Fotos wurden ausgewählt und mit Bedacht wurde der Auslöser der Kamera betätigt. Meist reichten zwei Filme für einen ganzen Urlaub – es wurde nicht wahllos alles fotografiert, sondern ein Lichtbild wurde sorgfältig komponiert.
Wenn wir heute alte Lichtbilder anschauen, ist es wie ein gedanklicher Spaziergang, auf dem der Betrachter fast schon entrückt lustwandelt. Die Zeit kommt auf einer Fotografie zum Stillstand. Manche Bilder lösen beim Betrachter eine Faszination, ein Wohlbefinden und eine Anziehungskraft aus – eigentlich wie Kraftfelder. Solche Bildwerke haben sich nach Jahrzehnten bereits zu historischen Zeitdokumenten entwickelt, denn vieles, das ehedem auf Zelluloid festgehalten wurde, existiert heute nicht mehr.
Wir wussten noch nichts vom Leben
Und dann durfte ich meinen 15. Geburtstag in dem Försterhaus erleben. Von der Hausherrin bekam ich das Buch „Der Goldene Steig“ – mit einer Widmung versehen – geschenkt. Dieses Buch habe ich heute noch, es hat diverse Entrümpelungen überstanden und ich werde es wohl nie hergeben.
Am Nachmittag gab es für uns Kinder Würstel, eines meiner Lieblingsessen an solch einem Tag. Verköstigt haben wir es an dem großen Tisch in der riesigen Küche – ich denke immer noch mit großer Wehmut an diese Zeit zurück. An das Försterhaus mit seinen Menschen. Damals war alles für uns Heranwachsende unbeschwert, leicht und glücklich. Wenn wir damals schon gewusst hätten, was für Prüfungen uns das Leben noch auferlegen wird, hätten wir die Zeit vermutlich nicht so genießen können. Die Sorgen und Nöte, sie kamen dann meist schneller als uns lieb war. Wir Kinder, wir wussten noch nichts vom Leben. Wir waren damals im Hier und Jetzt.
Ulrich Bänsch
Im fünften Teil der Serie „Finsterau – meine Jugendliebe“ erklärt Autor Ulrich Bänsch, warum Finsterau eine Oase der Ruhe ist, er berichtet von der Faszination Zündapp, von automobilen Wanderungen, von der Schönheit von Lusen und Rachel sowie seiner „Flucht in ein Stück Jugend“…