Wien. Kleider machen Leute, ganz klar, das weiß jeder. Doch wer macht eigentlich die Kleider? Rund 40 Millionen Menschen weltweit verbringen ihren Lebensalltag mit dem Zusammennähen verschiedenster Stoffteile zu einem Kleidungsstück. Worüber jedoch nur die wenigsten Bescheid wissen, sind die Bedingungen, unter denen das, was wir hierzulande als „Jacke“, „Hose“ oder „Pullover“ bezeichnen, eigentlich produziert wird. So wurden beim Einsturz einer achtstöckigen, längst sanierungsbedürftigen Textilfabrik in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs, im Jahr 2013 mehr als 1.000 Arbeiter unter den Trümmern begraben. Viele der dort produzierten Kleidungsstücke waren für den Export in die USA und nach Europa bestimmt.
Dieses schreckliche Ereignis nahm der US-amerikanische Filmproduzent Andrew Morgan zum Anlass, sich dem Thema Mode – insbesondere der Frage, unter welchen Bedingungen sie produziert wird und welche Auswirkungen dies auf Mensch und Natur hat – etwas genauer zu widmen. Das Ergebnis nach einem „lebensverändernden, zwei Jahre andauernden Prozess“, wie er es nennt, ist ein erschütternder, zum Nachdenken anregender, 92-minütiger Dokumentarfilm mit dem Titel „The True Cost – Der Preis der Mode“. Im Interview mit dem Onlinemagazin „Da Hog’n“ erzählt Morgan über die Gefahren, welche die Unmengen an Billigkleidung mit sich bringen – und darüber, „dass wir es eigentlich viel, viel besser können“.
„Verheerenden Folgen für die Menschen und den Planeten“
Mr. Morgan: In ihrem neuesten Film „The True Cost – Der Preis der Mode“ sprechen Sie von einer „Neuerfindung des Modesystems“. Inwiefern beeinflusst diese Neuerfindung unseren Blick auf Mode und Kleidung? Und inwieweit beeinflusst dies die Produktion?
Morgan: Es geht darum, Kleidung als etwas Wertvolles zu betrachten. Gemacht, um getragen zu werden, geliebt zu werden. Kleidung als etwas zu betrachten, um das man sich kümmert. Wir sollten die Dinge, die wir tragen, lieben – genauso wie ihre Geschichten, aus denen sie entstanden sind. Das ist auch ein Aufruf, sich von unserem derzeitigen ‚Fast-Fashion-Model‘ der endlos billiger werdenden und immer mehr Müll produzierenden Kleidung, welche auf erschütternde Art und Weise auf Kosten von Menschenleben und der Natur im Gesamten gehen, abzuwenden. Stattdessen sollten wir zu einem Weg der Kleidungsherstellung gelangen, der Verantwortung für jede einzelne Hand übernimmt, die das Kleidungsstück entlang der Produktionskette berührt.
Es scheint, als hätte sich unsere Einstellung zur Mode wie über Nacht vollkommen verändert. Innerhalb von nur wenigen Jahren erbten Klamotten den Status eines Wegwerfprodukts – etwas, das man ohne groß nachzudenken in den Müll gibt. Wie ist ein solcher Bewusstseinswandel möglich? Welche Rolle kommt dabei vor allem der Werbung und den Medien zu?
Dieser Wandel vollzog sich äußerst drastisch, denn wir konsumieren aktuell 400 Prozent mehr Kleidung als noch vor zwei Jahrzehnten. Laut einer aktuellen Erhebung bezeichnen Frauen ein Kleidungsstück im Durchschnitt nach nur dreimaligem Tragen bereits als ‚alt und verschlissen‘. Mode hat sich von etwas, das wir wertschätzen und gut behandeln, zu einem einfachen Wegwerfprodukt verwandelt. Für eine auf den Konsum angewiesene, kapitalistische Welt ist eine stetig steigende Zahl an Wegwerfprodukten natürlich das bestmögliche Szenario. Die Geschichte, die uns dabei immer und immer wieder in der Werbung erzählt wird, bestärkt den Mythos, dass der Erwerb von immer mehr und mehr Konsumgütern zum versprochenen Glück führen würde. Das Problem dabei: Dieser Mythos ist nicht nur falsch, sondern er hat verheerende Folgen für die Menschen und den Planeten, welchen wir unser Zuhause nennen.
„Menschen zum Arbeiten befähigen und ökonomische Entwicklung garantieren“
Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in sogenannten „Sweatshops“ in Südost-Asien sowie in anderen „Entwicklungsländern“ werden regelmäßig dadurch gerechtfertigt, dass dies für die dort lebenden Menschen „der einzige Weg aus der Armut“ sei. Globalisierung wird als eine Art „Win-win-Situation“ dargestellt: billige Klamotten für die „Reichen“ – Arbeitsplätze für die „Armen“. Wie sehen Sie diese Argumentationsweise?
Da haben Sie völlig Recht – das ist der springende Punkt, den man uns bereits unser ganzes Leben lang weismachen will. Bei dieser Geschichte gibt es zwei eklatante Probleme. Erstens gibt es zunehmend Beweise dafür, dass dieser ‚One Way Trip‘ aus der Armut so nicht stattfindet. Es finden sich mehr und mehr Daten, die belegen, dass dieses Prozedere der systematischen Ausbeutung in Wahrheit extreme Armut und Ungleichheit nur noch verschärft. Zweitens: Sind die beiden Optionen Hunger oder Ausbeutung wirklich die einzigen, die wir anbieten können? Diese Illusion des Nullsummenspiels ist bestenfalls als primitiv zu bezeichnen. Es geht darum, einen völlig neuen Dialog zu eröffnen – und darum, Möglichkeiten zu entwickeln, die die Menschen zum Arbeiten befähigen und gleichzeitig ökonomische Entwicklung garantieren.
Eine weitere Problematik, die im Film angesprochen wird, sind Kleiderspenden für die „Dritte Welt“ – nüchtern betrachtet ja ein selbstloser Akt. Wie können derartige Spenden trotzdem schwerwiegenden Schaden in den Empfängerländern verursachen?
Weniger als zehn Prozent der in den USA gespendeten Kleidung wird am Ende auch wirklich in lokalen, gemeinnützigen Einrichtungen oder dergleichen angeboten. Für andere Industriestaaten verhält es sich ähnlich. Der Rest der Spenden wird in Richtung ‚Entwicklungsländer‘ verschifft, wo sie dann auf dem Kleidermarkt landen. Oft verdrängen sie dadurch traditionelle lokale Hersteller und einheimische Kleiderproduzenten. Im Film beobachten wir dies zunächst in Haiti – aber es gibt unzählige weitere Beispiele auf der ganzen Welt.
„13 Länder und unzählige persönliche Schicksale“
Im Film werden eine Reihe tragischer und dramatischer persönlicher Schicksale gezeigt. Wie einfach bzw. wie schwer ist es, als Produzent eine gewisse Distanz zum Erlebten aufrecht zu erhalten? Was war die ursprüngliche Intention den Film „The True Cost“ überhaupt zu produzieren?
Ich habe einfach mit einer Riesenanzahl an Fragen begonnen. Ich bin damit aufgewachsen, Kleidung zu kaufen, ohne mir auch nur irgendwie darüber Gedanken zu machen, woher sie kommt oder auf wen sie bei der Produktion einen Einfluss haben könnte. Als 2013 in Rana Plaza eine Kleidungsfabrik einstürzte und dabei mehr als 1.000 Menschen – die meisten davon Frauen, darunter auch einige Kinder – mit in den Tod riss, wollte ich besser verstehen lernen, was ich da eigentlich genau kaufe. Diese Reise verwandelte sich in einen lebensverändernden, zwei Jahre andauernden Prozess, der unser Team in 13 verschiedene Länder führte und – wie Sie bereits erwähnten – uns unzählige persönliche Schicksale miterleben lies. Als das Projekt sich fortentwickelte, blieb mein Ziel stets das gleiche: Ich wollte eine Antwort auf die Fragen finden, mit denen ich begonnen hatte – und wollte den Film, der daraus entstand, der Weltgemeinschaft präsentieren.
Gegen Ende des Films nennen sie den Kapitalismus als Wurzel des Problems, die Ursache für den ständigen Bedarf an mehr und vor allem billigerer Kleidung. Insbesondere große und extrem mächtige Konzerne wie Monsanto entziehen sich regelmäßig demokratischer Kontrolle. Wie wahrscheinlich sehen Sie eine Wende hin zum wirklich fairem Handel innerhalb des existierenden kapitalistischen Systems?
Wir müssen uns einiger der tatsächlichen Kosten bewusst werden, welchen bisher nur wenig Beachtung geschenkt wird. In unserem gegenwärtigen System zählt nichts anderes als der Profit. Die Idee von ‚The True Cost‘ ist es, einen Schritt zurückzugehen und sich vor Augen zu führen, welche Kosten bisher noch nicht Einzug in die Gleichung erhalten haben. Diese Kosten beinhalten Menschenleben, Verschmutzung, Artensterben, Ressourcenknappheit usw. Ich möchte auch – wie schon unzählige Menschen vor mir – einen wachsenden Umfang an Transparenz innerhalb der Industrie sehen. Dadurch bekämen Gruppen von außen eine bessere Möglichkeit für diejenigen einzustehen, die regelmäßig durch die Ritzen des Systems der ‚Freien Marktwirtschaft‘ fallen.
„Und ich hoffe, er lässt die Menschen schwer mit sich ringen“
Abschließend möchte ich Sie gerne fragen, welche Erwartungen Sie an das Publikum Ihres Films haben? Wie können Menschen in ihrem täglichen Leben dazu beitragen, diese Welt ein bisschen gerechter zu gestalten?
Die Erfahrungen in der modernen Welt laden uns auf vielfältige Art und Weise immer wieder dazu ein, wegzusehen. Wir werden immer mehr von denjenigen Personen distanziert, die unsere Produkte herstellen – genauso von den Auswirkungen, die die Produktion auf unsere Welt hat. Ich hoffe, dieser Film ist ein Akt des Hinschauens. Und ich hoffe, er lässt die Menschen schwer mit sich ringen, wenn sie das nächste Mal einfach wegsehen. Mehr als alles andere möchte ich aber den Menschen zu verstehen geben, dass Hände und ein Herz hinter den Sachen stecken, die sie tragen. Wenn wir uns dafür entscheiden ein Produkt zu kaufen, geben wir damit immer auch eine Stimme ab – und unterstützen damit ein System. Meine Erfahrungen haben mich zu der festen Überzeugung gebracht, dass wir es eigentlich viel, viel besser können.
Interview und Übersetzung
Johannes Greß