Wien. Die Welt steht derzeit vor einem Dilemma. Einerseits funktioniert unser Wirtschaftssystem nur, wenn wir Jahr für Jahr mehr Wachstum erzielen. Andererseits lässt sich diese Wirtschaftsweise nur schwierig mit unserem Planeten vereinbaren. Die Lösung? E-Autos, nachhaltige Lebensmittel, faire Produktion. „Das kann nicht funktionieren“, findet Werner Boote. Der Regisseur von „Plastic Planet“ und „Population Boom“ will mit seinem neuen Film „The Green Lie“ zeigen, dass ein grünes Label auf Produkten zwar für große Konzerne nachhaltig ist – für unsere Umwelt jedoch kaum. Auf der Berlinale wurde der Streifen für den besten Dokumentarfilm nominiert, ab 22. März läuft er auch in den deutschen Kinos. Da Hog’n hat Boote in seiner Heimatstadt Wien getroffen…
Palmöl ist ein Rohstoff, mit dem derzeit hochgradig lukrative Geschäfte gemacht werden. Das Problem: Es wächst ausschließlich an Orten, an denen sich zuvor ein Regenwald befand. Im Jahr 2015 wurde bei einem Brand ein Großteil des indonesischen Regenwaldes zerstört. An den direkten Folgen davon starben ca. 100.000 Menschen. Von den Langzeitfolgen sind rund 500.000 betroffen. Es liegt mehr als nur der Verdacht nahe, dass große Lebensmittelkonzerne für diese Katastrophe verantwortlich sind. Also einfach auf Palmöl verzichten? Das Billigöl steckt in jedem Fertiggericht, in Süßigkeiten und in diversen Snacks…
Die Mär vom grünen Wirtschaftswachstum
Gemeinsam mit Kollegin Kathrin Hartmann, einer der führenden Expertinnen beim Thema Greenwashing, begibt sich Werner Boote auf eine Reise durch die abgefackelten Wälder Indonesiens, durch die verpesteten Küsten am Golf von Mexico und in den Braunkohle –Tagebau Garzweiler des Unternehmens RWE Power. Wirtschaftsvertreter vor Ort erklären, hier würde „grün“, „nachhaltig“ und „umweltfreundlich“ gewirtschaftet werden. „Nachhaltigkeit ist sexy“, lautet das Credo in der Welt des „Grünen Kapitalismus“.
Doch die Realität ist eine andere, wie Uni-Professor und Mitbegründer der Anti-Globalisierungsbewegung Raj Patel im Film erklärt. Noam Chomsky, MIT-Professor und Sprachwissenschafter, enlarvt das angeblich nachhaltige Wirtschaftswachstum als blanke Lüge. Mit Greenwashing versuchen Unternehmen unter dem grünen Nachhaltigkeitsmäntelchen gezielt Profite zu erzielen. Die Umwelt ist dabei egal, argumentieren Hartmann und Boote.
„Nachhaltig ist ein Gummiwort, das überhaupt nichts bedeutet…“
Wir befinden uns derzeit in einer verzwickten Situation: Einerseits basiert unser derzeitiges System maßgeblich auf Wirtschaftswachstum. Andererseits geht uns bald der Planet aus. Die Lösung, die uns dabei präsentiert wird, heißt „grüner“ oder „nachhaltiger“ Konsum. Kann so etwas funktionieren?
Werner Boote: Da muss man zuerst einmal definieren, was „grüner“ und „nachhaltiger“ Konsum ist. Also „grün“ ist eine Farbe und „nachhaltig“ ist ein Gummiwort, das überhaupt nichts bedeutet. Also erstmal ein klares Nein. Wenn wir von umweltgerecht und von sozial gerecht sprechen, dann schon eher. Dazu braucht es aber eine Veränderung des Wirtschaftssystems. Die derzeitige Situation verpflichtet Vorstände von Unternehmen vertraglich, Profit zu maximieren – und das widerspricht dem umwelt- und sozialgerechten Wirtschaften. Dieses System so umzubauen, dass es ein demokratisches Wirtschaftssystem ist, ist meiner Meinung nach die Richtung, in welche wir hinarbeiten müssen. Das ist mit Sicherheit kein einfacher Schritt – aber dorthin muss es gehen. Dafür braucht es viel Diskussion und viel öffentliche Aufmerksamkeit.
Noam Chomsky macht im Film das demokratische, globale Wirtschaftssystem zum Thema – und auch er sieht darin die Richtung, in die wir arbeiten müssen. Ich habe 2010 angefangen mich damit zu beschäftigen, seit 2011 relativ intensiv, die letzten vier Jahre mit Rechercheteam so richtig intensiv. Der Weg eines demokratischen Wirtschaftssystems erscheint mir als der einzige Weg, der diese grünen Lügen, die in meinem Film thematisiert werden, obsolet macht.
Welchen persönlichen Prozess haben Sie in den letzten acht Jahren durchlaufen? Gehen Sie nun mit einem anderen Gefühl in den Supermarkt?
Man ist nicht mehr so oft im Supermarkt (lacht). Die Idee kam ja durch meinen Produzenten, Markus Pauser, der gemeint hat, in meinem Film Plastic Planet ist die Industrie nicht wirklich gut weggekommen. Wir könnten uns also Konzerne anschauen, die auch nachhaltig sind. Schon damals war bei mir eine gewisse Verunsicherung da. Dann haben wir ziemlich lange recherchiert und festgestellt, dass uns kein Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit überzeugen kann. Ganz im Gegenteil. So kam es zur Idee, die grüne Lüge in den Blick zu nehmen.
„Jeder Film verändert irgendwie mein Einkaufsverhalten…“
Heute gibt es viele Produkte, die ich früher ganz gern gegessen habe und heute verweigere. Es gibt jetzt viele Sachen, auf die ich mehr achte – man lernt bei jeder Produktion etwas dazu. Wie ich mein Einkaufsverhalten so gestalten kann, dass es einerseits umweltverträglicher ist, und auf der anderen Seite auch meiner Gesundheit mehr dient. Wir reden da etwa davon, dass raffiniertes Palmöl krebserregend sein soll. Jeder Film, den ich mache, verändert irgendwie mein Einkaufsverhalten. Seit Plastic Planet zum Beispiel trinke ich aus keiner Plastikflasche mehr. Seit Alles unter Kontrolle, mein Film über Daten, mache ich keine Onlinekäufe mehr. Oder ich zahle nichts mehr mit Karte, lade mir keine Apps runter…
Bei der grünen Lüge bin ich draufgekommen, dass es nicht nur das Einkaufsverhalten ist, sondern dass wir uns eigentlich davon befreien müssen, dass wir uns selbst einzig als Konsumenten sehen. Was ist ein Konsument? Ein Konsument ist jemand, dessen einzige Aufgabe es ist, zu kaufen, zu konsumieren.
Ich glaube, dass wir heraus müssen aus dieser Hilfslosigkeit des Konsumdaseins, des Konsumidioten. Wir müssen den Schritt machen hin zu Bürgern und Bürgerinnen – die Rechte haben! Wir haben ein Recht darauf, dass die Produkte, die uns im Supermarkt angeboten werden, fair und umweltschonend produziert sind. Wie kann es sein, dass es so viele Produkte auf dem Markt gibt, die umweltschädlich sind, bei denen Menschen das Wasser weggenommen wird, das Land und auch das Leben. Wie kann so etwas überhaupt sein? Das macht den Schritt zum aktiven Bürgerdasein notwendig. Sodass man den Mut hat zu sagen, wir bestehen auf unsere Rechte und wir wollen, dass das in eine gute Richtung verändert wird.
Das von Ihnen angesprochene Palmöl steckt in jedem Fertiggericht, in vielen Süßigkeiten, Snacks usw. Ist man dem Ganzen als Konsument nicht einfach ausgeliefert?
Palmöl steckt in jedem zweiten Produkt. Aber naja, es ist genau so, wie Sie es formuliert haben. Als Konsument bist Du dem Ganzen ausgeliefert. Wenn Du bloß Konsument bist und nichts anderes im Schädel hast als zu konsumieren, dann bist Du dem Ganzen sicherlich ausgeliefert. Aber in dem Moment, in dem Du Dich als Bürger siehst und sagst, das kann und darf nicht sein, dann ist das schon ein ganz anderer Zugang. Der große Schmäh ist ja, dass die Industrie und die Politik die Verantwortung auf den Einzelnen abschiebt. Ob man die Welt retten will oder nicht, hängt plötzlich davon ab, was man kauft.
„Es sind Konzerne, die die Umwelt vernichten“
Das ist, wie Raj Patel im Film so schön sagt, ein Ding der Unmöglichkeit. Der Einzelne kann ja nicht Experte sein in allen Belangen. Erstens siehst Du kaum, was auf diesen Verpackungen drauf steht, weil es so klein geschrieben ist. Zweitens versteht man’s nicht – und drittens betrifft so ein Produkt oft ja wahnsinnig viele Bereiche. Von Arbeitsrecht und Umweltschutz über Transportrecht und Klimawandel hin zur Thermodynamik und weiß der Teufel noch was. Es ist absurd, dass von uns verlangt wird, dass wir diese Verantwortung tragen können. Wir müssen einfach diesen Wandel machen, zu sagen: Moment mal, wer ist eigentlich wirklich verantwortlich dafür? Es sind Konzerne, die die Umwelt vernichten, es sind Konzerne, die Menschen ausbeuten, und es sind Politiker und Politikerinnen, die dafür verantwortlich sind, dass Gesetze verabschiedet werden, die so etwas überhaupt zulassen.
Im Film geht es viel ums Thema „Greenwashing“. Wie sieht das konkret aus?
Im Verlauf der 1970er Jahre haben Menschen erkannt, dass die Konzerne im Verlauf der Industrialisierung die Natur vernichten. So ist der Umweltschutzgedanke entstanden. Gegen Ende der 70er ist dieser Gedanke immer größer geworden – und man hätte eigentlich gemeint, dass die Konzerne so reagieren müssen, dass sie ab sofort umweltschonender produzieren. Dem war nicht so. Die Konzerne haben begonnen Greenwashing zu betreiben, also sich grüner und umweltfreundlicher darzustellen als sie in Wahrheit sind – mit dem Ziel ihr Image aufzubessern.
Das fängt an mit dem Grünfärben von Logos, mit dem Grünfärben von Geschäftsberichten. Und es umfasst, irgendwo Bäume drauf zu kleben um zu sagen, wie wichtig ihnen die Menschen und die Tiere sind. In diese Kampagnen hat man viel Geld investiert – anstatt die Methoden zu ändern. Ich glaube, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem eigentlich allen klar ist, dass das ein Ende haben muss, dass das einfach nicht mehr so weitergehen kann.
Wir haben gedreht in Indonesien, Brasilien, Amerika. Wir haben in Europa viel gedreht und in Afrika viel recherchiert. Weltweit gibt es Menschen und Organisationen, die sich dessen bewusst sind, dass es so nicht weitergehen darf. Was wir brauchen, ist der Schritt vom Konsumentendasein hin zum Bürger. Als Bürger müssen wir sagen, wir werden aktiv, wir schließen uns zusammen, probieren Wirtschaftsmodelle aus, probieren verschiedenste Sachen aus.
Passt das Thema Greenwashing also in unser „postfaktisches“ Zeitalter, in dem es zunehmend den Anschein macht, dass eher Gefühle regieren als tatsächliche Fakten oder der Verstand?
Ja natürlich – aber ich glaube, mittlerweile sagt uns der gesunde Menschenverstand, dass uns die Konzerne lang genug auf den Kopf geschissen haben. Die Intention der Konzerne bzw. des Systems ist uns klar. Wenn es zu keiner Änderung kommt, kommt es zur kompletten Zerstörung. Deswegen denke ich, dass sehr wohl ein starkes Bedürfnis da ist, etwas zu ändern. Das Problem ist, dass wir bisher nicht gesehen haben, wie entscheidend dabei das Wirtschaftssystem ist. Ich denke, dass unser Wirtschaftssystem die Wurzel allen Übels ist. Durch diese grünen Lügen haben wir uns benebeln lassen.
„Wir müssen ein Wirtschaftssystem aufbauen, das demokratisch ist“
Was ist der Trick dahinter? Wir bekommen etwas erzählt, das nicht stimmt. Und unsere Bequemlichkeit sagt uns: Nehmen wir das an, weil dann brauchen wir nichts tun. Ich denke, wenn man den Film The Green Lie sieht, lernt man, wie absurd diese Lügen sind. Dadurch hat man auch die Möglichkeit dahinter zu schauen und zu erkennen, dass sehr viele Dinge nicht mehr funktionieren wie sich das Konzerne wünschen.
Für mich persönlich war es so, dass durch das Verstehen der grünen Lüge sehr viele andere Sachen klar wurden. Diesen Schritt habe ich gebraucht. Sie erzählen uns was auch immer, es werden freiwillige Bekenntnisse abgeschlossen und es gibt weiterhin keine Möglichkeit Konzerne zur Verantwortung zu ziehen. Aber genau das muss geschehen. Man muss wegkommen von diesen freiwilligen Bekenntnissen. Man muss Umweltschutz und Menschenrechte gesetzlich global verankern!
Natürlich ist das nicht leicht durchführbar – aber nichts ist leicht. So wie Noam Chomsky auch im Film sagt: Wer hätte sich im 16. Jahrhundert schon gedacht, dass wir eines Tages eine parlamentarische Demokratie haben. Jeder hätte sich damals gefragt, wie so etwas bitte funktionieren soll. Genau diese Situation haben wir jetzt. Wir müssen ein Wirtschaftssystem aufbauen, das demokratisch ist und dessen weitere Parameter wir ergründen und ausprobieren müssen.
Ich erinnere mich an die Szene im Film, die die Ölkatastrophe Deepwater Horizon behandelt. Kommt man angesichts solcher Umweltdesaster – und so offensichtlicher Unwilligkeit von Unternehmen dafür gerade zu stehen-, nicht irgendwo an einen Punkt der Resignation, an dem man sagt: „Alles ist so arg, so überwältigend. Und ich als kleiner Aktivist steh‘ so einem riesen Konzern wie BP gegenüber…“?
Diesen Pessimismus habe ich schon während meines Films Plastic Planet abgelegt. Da war auch immer die Frage: Was kann ich als kleiner Wiener schon bewirken? Bei diesem Film habe ich gesehen: Es ist egal wer damit anfängt, aber es muss einer anfangen darüber zu reden. Und wenn es ein Thema ist, das mehrere Menschen betrifft, bekommt das eine Eigendynamik, die immens werden kann. Als Reaktion auf eine Studie des Films wurden Babyschnuller, aus denen Bisphenol A austritt, erst in Österreich, dann in Deutschland und später in der gesamten EU verboten.
„Der Macht der Konzerne ein Ende setzen“
Es haben Menschen angefangen plastikfrei zu leben, plastikbewusst zu leben. Plastikfreie Läden sind seither wie die Schwammerl aus dem Boden gekommen. Das Thema Plastik hat dadurch eine riesen Aufmerksamkeit bekommen. Der Film ist an vielen Schulen gelaufen. Ein Schüler, der den Film in Holland an einer Schule gesehen hat, startet im Mai mit einem 30-Millionen-Euro-Budget das größte Ocean-Clean-Up-Projekt, um Plastikmüll aus dem Ozean zu holen. Es sind Menschen aktiv geworden gegen Plastiktüten, es gibt Aktionen gegen Mikroplastik, Plastiktextilien und Plastikflaschen. Die EU redet jetzt von der Plastikmüllsteuer – was noch immer viel zu kurz geht, aber da kann schon sehr, sehr viel entstehen.
Natürlich gibt’s da welche, die dagegen sind. Das sind die Profiteure des Systems, die man in diesem Fall sehr leicht identifizieren kann, die Kunststoffindustrie. Und bei der grünen Lüge sind es, ganz klar, die, die aus diesem System am meisten herausnehmen. Aber durch eine breite Aufmerksamkeit und Diskussion können viele Dinge in eine richtige Richtung gelenkt werden. Man muss auch erkennen, wie viele um uns herum bereits bemerken, dass das so nicht mehr weitergehen kann, dass man der Macht der Konzerne ein Ende setzen muss.
Von staatlicher als auch von Unternehmerseite kommt immer wieder das Argument, zu viel Umweltschutz gefährde Arbeitsplätze. Kann man das einfach so gegeneinander abwägen?
(lacht) Das ist völliger Blödsinn! Als Reaktion auf Plastic Planet bemängelte die Kunststoffindustrie, sie verliere Arbeitsplätze. Aber gleichzeitig ist ein riesiger Markt entstanden von kompostierbaren Kunststoffen bis hin zu alternativen Materialien. In diesen Bereichen wurden viele Arbeitsplätze geschaffen. Das Totschlagargument Arbeitsplätze funktioniert überhaupt nicht, es ist völlig lächerlich. Arbeitsplätze verschwinden nicht, sie werden verlagert. Viele Menschen können das vielleicht ganz gut ausblenden, wenn sie bei einem Konzern arbeiten, der Menschen betrügt und ausbeutet oder die Umwelt vernichtet. Aber für viele wäre es mit Sicherheit befriedigender und angenehmer in einer alternativen Richtung zu arbeiten.
Kapitalismus – und dann?
Ein weiteres dieser Totschlagargumente ist, dass jeder Versuch ein System zu etablieren, das ohne permanentes Wachstum funktionieren soll – also ein System jenseits des Kapitalismus – in einer Katastrophe geendet hat…
Profit an sich ist nichts Schlechtes. Aber man muss mit diesem Profit anders umgehen, indem man diesen besser verteilt. Es muss dafür gesorgt werden, dass die Belegschaft besser davon profitiert, aber auch die umliegenden Gemeinschaften, die direkt betroffen sind von dem Unternehmen. Das ist das, was ich unter einem demokratischen Wirtschaftssystem verstehe.
Es kann nicht sein, dass einer abcasht und damit davon rennt. Diese Situation sehen wir auch im Film: Momentan sind es acht Personen, die so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – bald ist es vielleicht nur noch eine Person. Das kann nicht funktionieren. Da muss ein System erarbeitet werden, das das besser handhabt.
Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben. Ihnen weiterhin alles Gute.
Interview: Johannes Greß