München/Zwiesel/Grafenau. (Till Meyer, freier Journalist aus München, zur Naturzonen-Diskussion zwischen der Nationalparkverwaltung und Hubert Demmelbauer von der „Bürgerbewegung zum Schutz des Bayerischen Waldes“): „Die Darstellungen von Hubert Demmelbauer im Beitrag „Auf Tacheles folgt Klartext“ bedürfen unbedingter Richtigstellung und Ergänzung. Zuerst ist festzustellen, dass die unter den entsprechenden Links im Onlinemagazin „da Hog’n“ bereitgestellten Resolutionen beim 9. World Wilderness Congress in Mérida, Mexiko von mir verfasst und eingebracht wurden und nicht vom damaligen Nationalpark-Leiter Karl-Friedrich Sinner. Dieser hatte damit nichts zu tun, wie in den Resolutionen zu erkennen ist – es gab hierzu auch keinerlei vorherige Absprachen.
Zur Diskussion um die IUCN Schutzgebiets-Kategorie 1b lässt sich aus meiner Sicht Folgendes sagen: Wie von Hubert Demmlbauer richtig dargestellt, ist die Kategorie 1b in einem Faltblatt von 2008 aufgetaucht in Zusammenhang mit dem „Wilden Herz Europas“ und der Zusammenarbeit der Nationalparkverwaltungen Bayerischer Wald und Sumava. Mir wurde damals erklärt, dass IUCN-1b eine praktikable gemeinsame Rechtsnorm darstellen würde – allerdings auf einem relativ niedrigem juristischem Level. Auch aufgrund dieses Faltblatts sah ich mich ermutigt, anlässlich der anstehenden Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes die Verankerung einer Schutzgebietskategorie Wildnis gemäß der IUCN-Definition-1b in einer Resolution vorzuschlagen. Dies wäre die Vorraussetzung um entsprechende Gebiete innerhalb der Nationalparks Sumava und Bayerischer Wald langfristig in diesen Status zu überführen.
Ein Ansporn, diese Resolution einzubringen, lag sicherlich auch an einem Vortrag beim Wilderness Congress in Mérida von Jane Smart, damals Leiterin der IUCN-Abteilung für Artenschutz. In ihrer Rede bezeichnete sie die IUCN-Richtlinien als „kohärenter Naturschutzansatz“, der aber „keine Zwangsjacke“ sein sollten. Deutlich wurde, dass die IUCN-Richtlinien keine in Stein gemeisselte Naturschutzgesetzgebungen darstellen, sondern vor allem nur die Standards und die Richtung vorgeben, die dann von den Landes- bzw. Länder-Regierungen und örtlichen Verwaltungen umgesetzt bzw. mit juristischen Inhalten ausgefüllt werden.
Im Gegensatz zur EU-Naturschutzrichtlinie sind bei den IUCN-Kategorien keine Sanktionen oder gar Strafen vorsehen, wenn davon abgewichen wird. Die flexible Handhabung hat eine lange Geschichte: Die Idee zur Schaffung einer gesetzlich geschützten Wildnis-Norm geht zurück auf den „Wilderness Act“ in den USA. Mit der Unterzeichnung dieses Gesetzes am 3. September 1964 stellte der amerikanische Kongress als erste Regierung der Welt 52 weitgehend unbeeinflusste und ursprüngliche Naturgebiete unter die Obhut des Gesetzgebers und gab sie sie gleichzeitig frei zur besonderen Nutzung für die Öffentlichkeit.
Derzeit sind in USA 762 Gebiete mit zusammen mehr als 444 000 Quadratkilometern als Wildnis ausgewiesen – das ist mehr als das doppelte der Fläche der 59 Nationalparks in den USA. Die meisten dieser Wildnisgebiete entsprechen IUCN-1b-Standard und sind auch als solche gekennzeichnet. Allerdings muss man wissen, dass diese Wilderness Areas ausgesprochen heterogen sind. Etliche dieser Gebiete sind um ein vielfaches größer als der Nationalpark Bayerischer Wald, andere deutlich kleiner. Ein großer Teil liegt innerhalb der Nationalparks, sehr viele auch außerhalb. Manche Gebiete vertragen eine höhere Besuchernutzung, andere fast gar keine.
„…nur mit unaufdringlichen Beförderungsmittel“
Einige Wildnis-Gebiete befinden sich in der Nähe der großen Metropolen, „Otis Pike Fire Island High Dune Wilderness“ etwa ist knapp anderthalb Autostunden von Manhattan entfernt. Von der Shenandoah Wilderness erreicht man die Hauptstadt Washington D.C. in gut zwei Stunden. Anders als in Nationalparks sind in Wildnis-Gebieten feste Gebäude und Straßen, Autos und auch Mountainbikes verboten. Erlaubt sind – oft, aber nicht immer – Wandern, Reiten, Kampieren, Kanu- und Schlauchboote und in vielen Gebieten sogar das Angeln und Jagen. „Management-Ziel ist Besucherfreiheit“, so heißt es in einem einschlägigen Handbuch.
Diese Besucherfreiheit macht auch den besonderen Charme des IUCN-1b-Richtlinien aus. Wörtlich heißt es darin, den Besuchern sollen „ausgezeichnete Möglichkeiten“ geboten werden „für das Erleben von Wildnis und Einsamkeit“, und zwar nur „mit einfachen, leisen und unaufdringlichen Beförderungsmitteln“. In der Übersetzung der entsprechenden Passage des amerikanischen Wilderness Acts heißt es, Wildnis soll „ausgezeichnete Möglichkeiten bieten zum Erleben von Einsamkeit“. Abgesehen davon, dass diese Formulierung die Verwandtschaft der US-Amerikanischen Wildnisgesetzgebung mit der IUCN-1b-Kategorie aufzeigt, rühren diese Worte an Grundsätzlichem: Was darf den Besuchern von sensiblen Naturgebieten erlaubt werden, zugetraut oder gar zugemutet?
Antwort gibt auch der „kuriose Hinweis“ (so Demmelbauer) von Dr. Kirstin Beck auf eine Beschränkung der 1B-Gebiete auf Besucher „die die Fähigkeiten und die Ausrüstung haben, ohne Hilfestellung in der Wildnis zu überleben.“ Dieser Hinweis ist alles andere als „kurios“, sondern nur eine etwas geraffte Zusammenfassung aus einem einordnenden Kommentar zur IUCN-1b-Richtlinie unter der Überschrift: Was macht 1b-Gebiete einzigartig? Dies ist nachzulesen in englischen Fassung (von Dudley et al), als auch in der Übersetzung der IUCN-Richtlinien durch EUROPARC Deutschland (2010).
In IB-Gebieten gilt der sogenannte „wilderness skill“
Wörtlich und im Gesamtzusammenhang heißt es darin: „Gebiete der Kategorie Ib und II ähneln sich oft in der Größe und im Ziel – dem Schutz funktionierender Ökosysteme. Doch während Kategorie II üblicherweise Besuchernutzung samt unterstützender Infrastruktur (…) einplant, ist in Ib-Gebieten die Besuchernutzung stärker limitiert und beschränkt sich auf Personen mit ausreichender Sachkunde und Ausrüstung, um ohne fremde Hilfe überleben zu können“. Der letzte Teil klingt zwar für Außenstehende irgendwie dramatisch und gefährlich, ist aber ein folgerichtiger und unbedingt notwendiger Hinweis auf die Eigenverantwortung des Besuchers und seine Fähigkeit zur zeitweisen Selbstversorgung nur aus dem Rucksack.
In USA wird dies als „wilderness skill“ bezeichnet und bedeutet zunächst nicht mehr und nicht weniger, als das Wissen darum, dass der Aufenthalt in der Wildnis auf eigenes Risiko geschieht. Wohlbefinden und körperliche Unversehrtheit kann dann nur mit Hilfe von ausreichend Vorkenntnissen und mitgebrachte Supportsystemen (Proviant, Ausrüstung etc.) aufrecht erhalten werden. Auf Unterstützung einer vor Ort vorgehaltenen festen Infrastruktur ist in Wildnisgebieten nicht zu rechnen.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Die allermeisten Wildnisgebiete in USA sind mit einem minimalen Wegenetz ausgestattet, welches auch gepflegt wird. In manchen Gebieten gibt es sogar primitive Unterkunftshütten. Die Wegführung in vielen Wildnisgebieten ist so gestaltet, dass sie zumindest in der Peripherie auch von Familien mit Kleinkindern und von Behinderten besucht werden können. Also alles halb so wild!
Der Hinweis auf die Bedeutung der wilderness skills ist sicherlich auch eine Strategie der Besucherlenkung. Unerfahrene, das heißt in der Regel auch unsensible Touristen werden so automatisch herausgefiltert. Massentourismus gibt es fast gar nicht.
Muss der Nationalpark komfortabel gemacht werden?
Zum Schluss ein paar rhetorische Fragen: Muss der Nationalpark Bayerische Wald, muss die Natur an jedem Fleckchen durch „unterstützende Infrastruktur“ sicher und komfortabel gemacht werden? Muss die Natur überall möbliert und entschärft werden mit Geländern, Klettersteigen, Toiletten und Aussichtsplattformen, Imbissbuden und breiten Straßen (die zu jeder Zeit die Bergung eines aus eigener Leichtsinnigkeit verletzten und unterkühlten Wildniswanderer zu gewährleisten)?
Ist uns die Vollkasko-Mentalität so ins Blut übergegangen, dass wir daraus den Anspruch ableiten, ohne ausreichend Erfahrung und geeignete Ausrüstung unbedingt in schwieriges und unübersichtliches Gelände einsteigen zu müssen?
Ich bin mir sicher, dass es bereits jetzt innerhalb des Nationalparks Bayerischen Wald relativ große Naturgebiete gibt, die einem Wildnisgebiet nach IUCN 1b entsprechen.“
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Till Meyer