„Heute morgen fahren Panzer auf unsere Hauptstadt zu. Die Stadt brennt, die Menschen fliehen, Angst und Tränen in den Augen. Niemand kann glauben, dass sich die Geschichte wiederholt. Auch 1941 um 4 Uhr morgens gab es einen Angriff auf Kiew.“
So begann die alarmierende Rundmail einer geschichtsbewussten Studentin aus Lviv (Lemberg) am 24. Februar 2022. Dem Tag des russischen Angriffs auf das Nachbarland. Und mit ihrem Verweis auf die letzte Invasion des Landes, nämlich beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, hat sie recht. Auch an den Besitzer des „Blobauer Hofs“ Johann Fenzl in Fürholz (Gemeinde Grainet) wurde diese Nachricht von einem Schwager weitergeleitet. Die Erwähnung vom „Raketenbeschuss der Stadt Schytomyr 120 km westlich von Kiew“ in den Nachrichten der folgenden Tage ließ Johann Fenzl erst recht aufhorchen: Das war doch der Ort, den die Mutter immer wieder mit Wehmut nannte, sobald die Rede vom letzten Weltkrieg war. Genau in dieser Gegend war nämlich ihr einziger Bruder als junger Wehrpflichtiger knapp vier Wochen nach Kriegsbeginn gefallen:
„Josef Althammer, Schütze in einem Infanterie-Regiment, Bauerssohn von Fürholz, welcher bei den Kämpfen im Osten auf dem Kampffelde bei Krasnoretschka (Shitomir) am 19. Juli 1941 im Alter von 21 Jahren den Heldentod für Führer und Vaterland starb.“
Josefs Althammers letzte Ruhestätte: Block 7, Reihe 11, Grab 1193
So lautet der Text auf dem Sterbebild im Besitz der Familie. Zwar ist der Name des Onkels auf dem alten Grabstein der Althammers auf dem Friedhof von Grainet verzeichnet. Doch begraben liegt er dort keineswegs – was erklärungsbedürftig ist. Folgende Fragen ließen den Fenzls nun keine Ruhe mehr: Konnte der Leichnam des Getöteten bei den ständigen Kampfhandlungen überhaupt gefunden und geborgen werden? Wurde er bestattet? Gibt es vielleicht sogar noch ein Grab?
Auf Johann Fenzls Nachfrage beim Volksbund Deutscher Kriegsgräber erfolgte zu seiner großen Überraschung eine eindeutige Antwort: „Josef Althammer, Schütze, ruht auf der Kriegsgräberstätte in Kiew-Sammelfriedhof. Erdgrablage: Block 7 Reihe 11 Grab 1193.“ Unglaublich, diese Gewissheit nun nach 81 Jahren!
Es traf sich gut, dass die Ehefrau des Hofbesitzers seit einiger Zeit mit Ahnenforschung befasst ist. Dabei fand sie in den Familiendokumenten auf dem Hof tatsächlich die letzten zwei Briefe des Gefallenen. Am 5. Juni 1941 schrieb er: „Wir haben jetzt immer heiße Tage. Da wird man aber kaputt in der Hitze. Gestern marschierten wir wieder 50 km. Hoffentlich habt ihr die Badehose schon weggeschickt, am Sonntag möchte ich baden.“ Im zweiten Brief vom 21. Juni bedankt er sich für das erhaltene Päckchen und ergänzt vielsagend – ohne Orts-, Namens- oder Zeitangaben, wie in der Feldpost vorgeschrieben: „Nächste Woche geht’s weg. Es ist besser ihr schickt mir diese Tage kein Paket, weil ich’s doch nicht so schnell erhalte, bis wir nicht an Ort und Stelle sind. Die Sachen können dann verderben.“
„Man muss halt gegen den Feind ziehen, gedankenlos und blöd“
Damit war wohl der bevorstehende Fronteinsatz auf ukrainischem Boden gemeint. Auf einer letzten Feldpostkarte, abgestempelt in Nürnberg am 25. Juni ’41, hieß es nur knapp: „Habe gestern eure Päckchen und heute den Brief noch erhalten. Ich danke euch also wieder einmal dafür. Nun nochmals viele Grüße u. Gesundheit wünscht euch allen – Sepp.“ Es sollten seine Abschiedsworte sein, denn am 19. Juli ’41 war er tot, knapp einen Monat nach dem verhängnisvollen Einmarsch von Hitlers Truppen.
Es liegen zwei Briefe (in schwer zu entziffernder alter Sütterlin Schrift) von Kameraden seiner Einheit vor, die Zeugen seines Todes waren. Ein „Hansl ….“ aus der Gemeinde (?) schreibt am 18.08.41 seiner eigenen Familie:
„Der Sohn von Althammer ist fast an meiner Seite gefallen. Leider habe ich nicht stehen bleiben können, denn im Krieg geht es immer vorwärts. Habe die Grabstätte von ihm photographiert und auch noch die des Hintermanns. Dann können seine Eltern ein Bild haben von seinem Grab. Im Krieg ist kein Ding unmöglich. Man muss halt gegen den Feind ziehen, gedankenlos und blöd.“
„Euer Sepp bekam einen Kopfschuss“
Einen knappen Monat später erhält der verzweifelte Vater auf seine Bitte hin den Bericht eines weiteren Augenzeugen:
„Du schreibst, ich soll euch mitteilen wie es da zuging beim Sepp. … Es waren uns ein Zug mit 30 Mann und ……… gingen auf einmal ……….. Euer Sepp bekam einen Kopfschuss, in der gleichen Zeit hat es auch unseren Zugführer Leutnant N. und Feldwebel Grutzka getroffen. Sepp war gleich tot, wir mussten uns dann zurückziehen, sonst wären wir alle verloren gewesen. … Und Sepp war so ein strammer Kerl, und so gut wie immer waren wir beisammen. Unser Kompanieführer ist auch schon gefallen. Es waren uns 120 Mann als wir ins Feld zogen. Jetzt sind uns noch 67 Mann. Du kannst du dir vorstellen wie es zugeht. Hoffentlich nimmt der Krieg doch bald ein Ende. … Wenn ich noch heimkomme, dann werde ich euch gleich besuchen. Es grüßt euch nochmals Soldat Josef …. . Auf Wiedersehen.“
Unternehmen „Barbarossa“ – ein Wahnsinn
Dieser frühe Kriegstote blieb keineswegs ein Einzelfall. Die Gemeinde Grainet hatte im Zweiten Weltkrieg einen unvorstellbar hohen Blutzoll entrichtet. Auf der Gedenktafel für die Gefallenen und Vermissten bei der Nikolauskirche sind 116 Opfer aufgelistet. Das heißt, es war jede Familie betroffen. Bei Familie Blab in Fürholz beispielsweise überlebte keiner der drei Söhne den Krieg.
Hitlers Wahnsinnsunternehmen „Barbarossa“ mit dem Ziel der „Eroberung neuen Lebensraums im Osten“ auf Kosten der dortigen mehrheitlich „russischen Untermenschen“ unter Ausmerzung der „jüdisch-bolschewistischen Verschwörer“ hatte mit dem Einmarsch des dreieinhalb Millionen Soldaten umfassenden Ostheeres der Wehrmacht begonnen. Die gesamte Front erstreckte sich von den baltischen Staaten an der Ostsee bis zum Schwarzen Meer im Süden. Die Hauptlast des „Russlandfeldzuges“ trugen in dieser Angriffsphase nicht „russische“ Soldaten. Sondern weißrussische und vor allem die tapfer kämpfenden ukrainischen Soldaten sowie natürlich deren Zivilbevölkerung. Auf dem erzwungenen Rückzug der Wehrmacht nach dem Fall Stalingrads während der russischen Gegenoffensive kam es Mitte 1943 bis Januar 1944 erneut zu verlustreichen Kämpfen in der Zentral- und Westukraine.
Erinnerungen an Babyn Jar und Holodomor
Schon bei den ersten schweren Gefechten bei Schytomyr war es mit den vorherigen Blitzkriegen Hitlers vorbei: Der Beleg: Die vorausschauende Anlage des dortigen Friedhofs für 2.700 gefallene Deutsche durch die Wehrmacht, der schließlich auf 3.143 anwuchs. Östlich davon entwickelte sich anschließend die gewaltige Kesselschlacht von Kiew. Der Sieg mit dem Fall der Hauptstadt am 19. September 1941 gilt als Hitlers größter Erfolg in einer Einzelschlacht. 665.000 (!) sowjetische Soldaten gerieten in deutsche Gefangenschaft. Aber zu welchem Preis für die Invasoren? Von Zigtausenden gefallener Wehrmachtsangehöriger war in den Siegesmeldungen der NS-Propaganda zuhause natürlich nie die Rede.
Dieser Tragödie des eroberten und besetzten Landes folgte eine weitere, noch ungeheuerere: Hinter den vorrückenden deutschen Panzern machten sich sofort SD und SS-Einsatzgruppen in Zusammenarbeit mit regulären Heereseinsätzen an die systematische Ermordung der zahlreichen ukrainischen Juden. Am 29. und 30. September 1941 wurden allein bei Kiew, in der berüchtigten Schlucht von Babyn Jar, 33.000 Menschen jeglichen Alters erschossen – eines der größten örtlichen Massaker der NS-Zeit.
Kann man solche Barbarei, solche Kriegsverbrechen und Gräueltaten an Zivilisten allein den Diktatoren wie vorher bereits Stalin („Holodomor“ in Ukraine 1932-34: Genozid mittels Hungers, 3,5 bis 9 Millionen Verhungerte) und gegenwärtig dem Stalin-Verehrer Putin anlasten? Was ist mit den diese verbrecherischen Befehle ausführenden Soldaten an der Front, mit den jetzigen jungen russischen Wehrpflichtigen, die sich im Manöver wähnten und sich plötzlich im Häuserkampf wiederfinden, wo sie dann auf wehrlose Zivilisten stoßen? Sie haben ja selbst Mütter, Geschwister, Kinder zuhause. Kriege dieses Ausmaßes kennen nur Verlierer. Doch Diktatoren denken nie an das Leid der eigenen Bevölkerung und die in der Folge tiefgreifenden Verwerfungen in Familie und Gesellschaft.
Die Folgen eines einzigen Gefallenen
Als anschauliches Beispiel für viele ähnliche Schicksale in der Gemeinde Grainet mag die Schilderung der Folgen eines einzigen Gefallenen aus der Familiengeschichte des Fenzl-Hofs dienen.
Den frühen Tod des einzigen Sohns und Hoferben verkraftete die Mutter Karolina Althammer nicht und verstarb im folgenden Jahr (1942) an „gebrochenem Herzen“. Für seine Schwester Franziska (Mutter des heutigen Hofbesitzers), die dem Bruder und erst recht der Mutter innig verbunden gewesen war, zeitlebens ein Trauma. Ihr Herzenswunsch war es immer Schneiderin zu werden – doch jetzt zwangen sie die Umstände den Hof zu übernehmen. Für Heiratspläne keine schlechte Voraussetzung, die Tragik bestand aber darin, dass keiner der infrage kommenden jungen Männer und Verehrer aus dem Krieg zurückgekehrt war.
So heiratete sie schließlich Johann Fenzl aus Fürholz, der sieben Jahre jünger war. Das selbe Schicksal hatte übrigens bereits die eigene Mutter nach dem Ersten Weltkrieg gehabt – ihr Ehemann war sogar zehn Jahre jünger. Äußerst ungewöhnlich damals wie heute. In Franziskas Fall erwies sich diese Wahl Gott sei Dank als Glücksgriff: Der Ehe mit dem ruhigen, gelassenen Mann und tüchtigen Bauern und in der Folge stolzen Vaters entsprossen vier Töchter. Als Nachzügler schließlich auch der erwünschte spätere Hoferbe.
Diesem Happy End ging allerdings eine weitere unglückliche Fügung voraus: Dem nun alleinstehenden Vater Josef Althammer hatte man eine auswärtige Frau „zugebracht“, zu der die Tochter keinerlei Zuneigung empfinden konnte. Gleich nach dem Tod des Vaters von Franziska ließ die Stiefmutter ihr gesamtes Hab und Gut durch ihre herbeigeeilte Verwandtschaft aufladen und verschwand auf Nimmerwiedersehen…
Kurt Seul
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Josef Althammer aus Fürholz hat nun seine endgültige Ruhestätte auf dem Kiewer Sammelfriedhof gefunden – unter 26.558 deutschen Gefallenen. Platz bietet die gewaltige Anlage von 1996 für insgesamt 40.000 Tote. Die gefallenen deutschen Soldaten von hunderten kleineren Grabanlagen werden nach und nach auf vier weitere solcher Zentralfriedhöfe in der ganzen Ukraine umgebettet. Sobald es die militärische und politische Situation im Lande erlaubt, werden Vertreter der Familie die Grabstätte aufsuchen, um sie zu dokumentieren und eines Verwandten zu gedenken, den sie ja nie persönlich gekannt hatten.
Trauern werden sie allerdings gleich nebenan: Auf dem dortigen neuen Kiewer Gemeindefriedhof, vor den frisch ausgehobenen Gräbern der vielen zivilen Opfer der russischen Invasion, ihrer Zerstörungen und Gräueltaten. Ob dort auch die tapferen Verteidiger Kiews von heute ihre ewige Ruhe finden, die für ihren Einsatz auf heimischem Boden – statt als Aggressoren in fremden Territorien – dann wirklich den „Heldentod“ erlitten?