Irschawa/Klingenbrunn. Zumindest kann Okcaha Lelitka wieder etwas schlafen, seitdem ihre Kinder Michael (17), Pawel (11) und Daryna (10) bei ihr in Klingenbrunn sind. Kommt die 36-Jährige zur Ruhe, beginnen allerdings ihre Gedanken zu kreisen. Das, was sie psychisch zu verarbeiten hat, übersteigt bei Weitem das Vorstellbare – und somit auch ihre Kräfte. In manchen Momenten kommt ihr der Krieg in ihrer ukrainischen Heimat vor, als wären es einfach nur Bilder aus einem schlechten Film. In anderen wird sie von ihren Gefühlen und einem damit verbundenen Weinkrampf übermannt. Die junge Ukrainerin durchlebt in diesen Tagen einen real gewordenen Alptraum. Einerseits sind sie und ihre Kinder in Sicherheit. Andererseits verfolgt sie mit Ohnmacht die Entwicklungen in Osteuropa.

Fernab der ukrainischen Heimat hoffen Pawel (v.l.), Michael, Daryna und Okcaha Lelitka im Bayerischen Wald zumindest auf ein bisschen Ruhe und Frieden.
Die Welt blickt derzeit mit stockendem Atem in Richtung Kiew, Mariupol und Charkow. Das Epizentrum der Sorge von Okcaha Lelitka ist die 10.000-Einwohnerstadt Irschawa im Westen der Ukraine. Zwar ist der Karpatenort bisher noch von Zerstörung und Gewalt verschont geblieben. Längst ist jedoch auch dort Kriegspanik ausgebrochen. Die Mutter der 36-Jährigen wohnt noch in der Heimatstadt. Weil sie russischer Abstammung ist, hofft sie auf Wohlwollen der möglichen Besatzer und hat sich deshalb gegen eine Flucht entschieden. Der 18-jährige Ivan, ältester Sohn von Okcaha Lelitka, wollte wie seine Geschwister unbedingt nach Deutschland ausreisen – durfte aber nicht. Er gilt in der Ukraine als erwachsen und somit „kriegsfähig“, obwohl er noch nie zuvor eine Waffe in der Hand gehalten hat. Die Gedanken seiner Mutter sind rund um die Uhr bei ihm.
Nach dem Tod des Mannes blieben nur 80 Euro monatlich
Ihr Leben wird derzeit generell von Angst, Sorge und Panik bestimmt. Eine Gefühlslage, die im krassen Gegensatz dazu steht, was sie sich in Deutschland bzw. Klingenbrunn (Gde. Spiegelau) eigentlich erwartet hatte. Doch es passt irgendwie zu ihrer Biographie. Vor sieben Jahren verunglückte der Familienvater bei einem Unfall. Okcaha Lelitka wurde dabei schwer verletzt, musste mehrere Stunden operiert werden und konnte ein Jahr lang nur auf dem Rücken liegen, für dessen Stabilität noch heute unzählige Schrauben, Nägel und Platten sorgen. Die damals knapp 30-Jährige verlor den Fixpunkt in ihrem Leben, den Ernährer der Familie – doch trotz dieses Schicksalsschlages keinesfalls ihren Kampfeswillen und Lebensmut.

Ivan (links) musste in der Ukraine zurückbleiben. Er wird sich als 18-Jähriger wohl bald den russischen Angreifern in den Weg stellen müssen.
Mit einer Witwenrente von 80 Euro monatlich musste sie für sich und ihre vier Kinder zurechtkommen. In der Ukraine ist es üblich, dass sich die Frau ausschließlich um die Familie kümmert, weshalb sie keine Beruf erlernt hat. Zudem ist das Sozialsystem im osteuropäischen Land nicht so ausgeprägt wie hierzulande. Weil nach Jahren aber auch die letzten finanziellen Reserven ausgeschöpft waren, entschloss sich Okcaha Lelitka dazu, als Haushaltshilfe in den Westen zu gehen. „Drei Monate hier arbeiten, drei Monate zuhause“, beschreibt sie in brüchigem Deutsch ihre wechselnden Aufenthaltszeiten. Aus arbeitsrechtlichen Gründen durch eine ukrainische, eine polnische und eine deutsche Agentur vermittelt, trat die junge Frau am 16. Februar ihren Dienst bei Familie Breßem in Klingenbrunn an.
Von Polen nach Tschechien ging es mit einem Schleuser
Es sollte ein Auftakt in bessere Zeiten werden. Wurde es aber nicht. Im Gegenteil. Erst gab es Probleme mit den Agenturen, die Fahrtdienste in Rechnung stellten, die aus Sicht von Dora und Helmut Breßem nicht gerechtfertigt waren. Mittlerweile wurden die noch offenen Posten ausgeglichen, um Ruhe zu haben – und Okcaha Lelitka wird wohl bald direkt beim Klingenbrunner Ehepaar angestellt sein.
Dann überschlugen sich in der Ukraine die Ereignisse. „Wir sind nächtelang zusammengesessen und haben überlegt, was wir machen können“, blickt Dora Breßem zurück. Aus dem Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis wurde angesichts der russischen Invasion in kürzester Zeit eine familiäre Beziehung. „Für uns beide stand schnell fest: Wir müssen die Kinder nachholen“, berichtet die „Engelsfrau von Klingenbrunn“ weiter.

„Hinten alles kaputt“ – erklärt die 36-Jährige zu diesem Bild aus besseren, unbeschwerteren Zeiten während eines Besuches in Kiew.
Aus einer in Friedenszeiten überschaubaren Reise wurde für Michael (17), Pawel (11) und Daryna (10) eine dreitägige Odysee. Bis zur ukrainisch-polnischen Grenze wurden sie noch von ihrer Großmutter gebracht. Dort blieb ihnen dann nichts anderes übrig, als für 500 Euro einen Schleuser zu organisieren, der sie bis nach Tschechien brachte. Von dort aus fuhr die Kinder ein Bekannter bis in den Bayerischen Wald. „Kinder gefroren und viel Angst“, fasst Okcaha Lelitka diese Tour kurz und knapp zusammen. Dora Breßem führt das Ganze etwas aus: „Als sie sich hier vor der Haustüre das erste Mal gesehen haben, sind Tränen geflossen – bei Okcaha, bei den Kindern und auch bei mir. Man kann es sich schlicht und einfach nicht vorstellen, was Michael, Pawel und Daryna durchmachen mussten. Ganz zu schweigen, was Ivan zurzeit erlebt.“
„Wir leben hier ohne Geld und ohne Sprache“
Nur mit den Sachen, die sie in der Eile noch in einen Koffer packen konnten und die sie am Leibe trugen, kamen die drei Jugendlichen in der Gemeinde Spiegelau an. Auch Okcaha Lelitka hatte nur das für ihren dreimonatigen Aufenthalt Nötigste mit dabei. Das ohnehin leere Konto der Familie in der ukrainischen Heimat ist eingefroren, das Arbeitsverhältnis mit den Vermittlungsagenturen bekanntlich gekündigt worden. „Wir leben hier ohne Geld und ohne Sprache“, berichtet die 36-Jährige. Zumindest ihr Status als Kriegsflüchtling dürfte bald geklärt werden. Ihr Aufenthalt in Deutschland ist somit gesichert, die Nutzung der Ferienwohnung von Familie Breßem bis auf Weiteres kostenlos.

„Herbergsmutter“ Dora Breßem ist als Engelsfrau bekannt. Da Hog’n berichtete darüber bereits.
„Nun müssen wir aber noch regeln, dass die vier Arbeit bekommen bzw. zur Schule gehen dürfen“, macht Dora Breßem deutlich. Okcaha wird bald als Haushälterin der Klingenbrunner Familie helfen und Dora Breßem bei der Versorgung ihres pflegebedürftigen Mannes helfen. Ivan ist auf der Suche nach einem Job als Küchenhilfe, er will Koch werden. Pawel und Daryna müssen erst Deutsch lernen, ehe sie eine Schule besuchen dürfen. Alles in allem steht Familie Leltika vor einer unsicheren Zukunft – der in Bayern lebende Teil kann nun hoffentlich etwas Frieden finden…
Helmut Weigerstorfer