Zu jedem richtigen Geschäft gehört ein schönes Schaufenster, damit die Vorübergehenden sehen können, was es da zu kaufen gibt. Wenn aber die heiße Sonne scheint, muss ein Vorhand die Waren schützen, daß sie nicht bleichen oder verderben, und da bemerkt man manchmal bei näherem Hinschauen eine besondere Art von „Rouleaux“ hinter den Scheiben, die nicht aus Stoff sind, sondern wie von Stroh gefertigt aussehen. Winzig dünne Stäbchen sind eins dicht über dem andern durch feinen Zwirn verbunden, fast wie die Tuchstreifen bei einem Fleckerlteppich, und mit Schnüren, die an den Seiten durchlaufen, zum Aufziehen und Herablassen eingerichtet.
Aber Strohhalme von solcher Länge erntet man in keinem Getreidefeld, und auch kein Schilf wächst so gleichmäßig dick und ohne alle Absätze und Knoten. Was mag das also für ein merkwürdiges Naturerzeugnis sind, und aus welchen fernen Ländern mag es zu uns kommen? Das Rätsel ist nicht ohne Weiteres zu lösen – nur der Eingeweihte kann uns verraten, daß jenes Material unser wohlbekanntes Holz ist, sogenannter Holzdraht, wie der Fachmann es nennt, und daß die langen, astlosen Fichtenstämme, die man zu seiner Herstellung braucht, aus unserem Bayerischen Wald stammen.
Ein harter Kampf ums Dasein
Jene Höhen an der Grenz von Deutschland sind meilenweit mit uralten Forsten bedeckt; stunden- und tagelang kann man darin wandern, bergauf und bergab, ohne ein Ende zu finden; nur da und dort öffnet sich eine kleine Lichtung, in der ein Dörfchen liegt, von armen Holzbauern erbaut und bewohnt. Wo aber der Wald so dicht steht, hat es der einzelne Baum nicht leicht: jeder will dem anderen das Licht wegnehmen, das er zum Leben braucht, und so muß jeder sich strecken, höher und immer höher wachsen, daß er seinen Wipfel in Luft und Sonne baden kann, während die Wurzeln sich zäh und fest um die alten Felsen klammern.
Das ist ein harter Kampf ums Dasein, doch wie bei jedem Wettbewerb erwachsen daraus auch die besten Leistungen, und wenn sie notiert würden, wie bei den olympischen Spielen, so könnte man von Höhenrekorden lesen, von 40 Metern und mehr, die durch Tannen des Bayerischen Waldes erreicht werden. Für seitliche Zweige bleibt da nicht viel Raum und Kraft übrig, darum sind die schönsten Exemplare wie glatte Säulen anzuschauen, die nur hoch oben ein dicker Busch dunkelgrüner Nadeln bekrönt.
In der ersten Dämmerung des Sommermorgens brechen die Holzfäller zur Arbeit auf; die Axt über der Schulter, ein dickes Seil umgeschlungen, einzelne mit großen Sägen bewaffnet, so geht es den Berg hinan. Stunden hindurch währt oft der Aufstieg zu dem Forstgebiet, in dem der Wald lange genug in stiller Einsamkeit herangewachsen ist, um nun dem Menschen für seine Zwecke zu dienen. Laut schallen die Beilhiebe, die Sägen kreischen, und einer der Baumriesen nach dem anderen sinkt krachend zu Boden, Unterholz und Nachbarstämme mit sich reißend, daß Wild und Vögel in weitem Umkreis fliehen und die Hirsche im unzugänglichen Hochmoor erschreckt aufhorchen. Erst im Herbst nehmen Unruhe und Getümmel ein Ende, und noch stiller wird es, wenn der Winter kommt und alles unter seiner weißen Decke begräbt.
Und dann geht die Fahrt los
Da klettern wieder eines Tages die kleinen Menschen den Berg hinauf. Großmächtige Schlitten ziehen sie diesmal hinter sich her, deren Kufen vorn wie runde Hörner aufgebogen sind, und bis zur Brust sinken sie manchmal in den hohen Schnee, ehe die Stelle erreicht ist, wo vor einem halben Jahr gefällt wurde. Mit Schaufeln werden die tief verschneiten Stämme freigelegt, mit Spitzhacken werden sie zu den Schlitten geschleppt, wo sie zu einer gewaltigen Last aufgeschichtet werden.
Und dann geht die Fahrt los, die schmalen Waldsteige hinunter, geschwind und immer geschwinder infolge des riesigen Gewichtes, lebensgefährlich an den Kurven und erst langsam gebremst beim Auslauf ins flachere Gelände. Dort haben sich die unzähligen Quellen, die überall im Gebirge entspringen, schon zu kleineren und größeren Bächen vereinigt. Kommt nun der Frühling mit Märzensonne und warmen Südwinden, so staut sich das Wasser infolge der Schneeschmelze und trägt die hineingeworfenen Hölzer lustig dahin bis zu den Orten ihrer verschiedenen Bestimmung: die dünnsten zu den Papierfabriken, welche das Material für unsere Zeitungen liefern, die ansehnlicheren zu den Sägewerken, wo sie zu Brettern zerschnitten werden. Die schönsten Stücke aber, welche auf langen Strecken nicht einen einzigen Ast aufweisen, werden für die Verarbeitung zu Holzdraht ausgesucht.
So ein Stamm wird, nachdem man ihn entrindet hat, auf einer Schreinerbank festgeschraubt, und nun tritt ein seltsames Werkzeug in Tätigkeit, ein Art Hobel, der aber nicht mit einer flachen Schneide versehen ist, sondern mit einem runden Hohleisen, dessen Öffnung nicht viel breiter ist als ein Millimeter. Der Arbeiter setzt es an einem Ende des Holzes an, und dann muß es mit sicherem Griff geführt weitergleiten, immer mit gleicher Kraft und Regelmäßigkeit vorwärtsgedrückt, daß die ganze Strecke entlang ein winzig dünnes Stäbchen abgelöst wird. Natürlich gehört sehr viel Geschicklichkeit und Übung dazu, einen solchen Span, schmal wie ein Streichholz und zwei oder gar drei Meter lang, ganz glatt und ohne Bruch herzustellen; wenn unsereins das versuchen würde, kämen wohl nur Splitter und Zahnstocher zum Vorschein.
Viele Stücke aber reisen noch viel weiter
Zu großen Bündeln vereinigt wandert dann der Holzdraht in besondere Fabriken, die das Zusammenflechten besorgen. Ganz kleine Matten verwendet man als Tischunterlage für heiße Schüsseln und Teller; aus den großen stellt man jene bekannten Jalousien her, wie wir sie z. B. im Fenster des Fleischerladens sehen können, wo Schweinsköpfe darauf gemalt sind oder rosafarbener Schinken oder eine schwarz-weiß marmorierte Wurst. Viele Stücke aber reisen noch viel weiter, fern übers Meer in die ganz heißen Länder. Dort kann man solch leichte und unverwüstliche Vorhänge erst recht brauchen, und mancher afrikanische oder brasilianische Farmer schützt sich damit vor der tropischen Sonnenglut, ohne zu ahnen, daß es eigentlich eine Fichte des Bayerischen Waldes ist, die ihm den Schatten spendet.
Max Unold
(erschienen in der Halbmonatsschrift „Jugendlust“,
herausgegeben vom Bayerischen Lehrerverein, 1933, 59. Jahrgang