Frauenau. Der erste Eindruck: Wow! Tolle Haptik, feine Optik, schönes Schriftbild. Rein äußerlich hält „Wilder Wald“, das im Knesebeck-Verlag zum 50. Nationalpark-Jubiläum erschienene Großformatbuch von Alexandra von Poschinger genau das, was seitens der Autorin in den regelmäßigen Zwischenstandsmeldungen der dreijährigen Entstehungsphase versprochen wurde. Und auch innerlich-inhaltlich kann der über 200 Seiten starke Naturbildband mit beeindruckenden Bayerwald-Impressionen sowie lesenswerten Texten und Interviews mit überaus vielfältigen Menschen überzeugen.
Ein Hohelied auf den Nationalpark Bayerischer Wald ist es geworden, in das regionale wie überregionale Politiker, Künstler, Kirchenmänner, Sportler, Unternehmenschefs, Musiker, Wissenschaftler und viele mehr einstimmen. Allen voran Verhaltensforscherin und UN-Friedensbotschafterin Jane Goodall, die in ihrem Vorwort den Nationalpark „im Bemühen um den Erhalt der wilden Wälder für künftige Generationen von bahnbrechender Bedeutung“ sieht.
Eine Fülle an Bildern und Stimmen
„Ich gehe oft in den Wald“, schreibt Alexandra von Poschinger in ihren einleitenden Worten. „In seinem Licht, seinem Duft, seiner Luft bin ich zufrieden. Finde Ruhe. Gelassenheit. Und neue Energie. Je wilder ein Wald ist, umso lieber mag ich ihn.“ Und sogleich nimmt sie den Leser mit auf die Reise – von den (teils recht schwierigen) Anfängen dieses wilden (Nationalpark-)Waldes über dessen Veränderungen im Laufe der Zeit bis hinein in die Gegenwart. Auf einen mit den wichtigsten historischen Entwicklungsstationen versehenen chronologischen Abriss, in dem das über allem thronende Motto „Natur Natur sein lassen“ erst nach und nach in den Vordergrund trat.
Dabei lässt sie (fast) alle zu Wort kommen: Die Initiatoren und Befürworter dieses einmaligen Naturschutzprojekts genauso wie die (einstigen) Gegner und Skeptiker. Hier das Interview mit Umweltpionier und Parkmitbegründer Hubert Weinzierl, dort das Porträt des Neuschönauers Stefan Breit, der sich „vom Saulus zum Paulus“ wandelte und als ehemaliger Widersacher heute Besuchergruppen durch den Wald führt. Alexandra von Poschinger hat sich mit dem Bildhauer Tony Cragg über die „Natur als Maßstab“ unterhalten, mit Severin Freund über Umwelt- und Klimaschutz, mit Joe Kaeser über das Umdenken im ökonomischen Handeln und mit Sarah Wiener über natürliche Ernährung und Lebensmittel. Sogar Großwaldbesitzerin Gloria von Thurn und Taxis darf über ihr „traditionsreiches wie nachhaltiges Bewirtschaftungskonzept“ schwadronieren – „und dabei so manchem Naturschützer auf die Füße treten“.
Sie alle werden flankiert von beeindruckenden Naturfotografien und Momentaufnahmen, die die ganze Pracht, Vielfalt und Bandbreite dieses Landstrichs im Südosten Bayerns wiedergeben. Tiere und Pflanzen, Fauna und Flora im Wechsel mit zahlreichen Gesichtern, die alle mehr oder weniger etwas mit dem Nationalpark, seiner Natur und seinen Bewohnern zu tun haben. Die sich mit der Erderhitzung, dem Naturschutz, dem Ökosystem Wald, dem Borkenkäfer als „Architekten einer neuen Landschaft“, der Forschung, dem Freizeitwert, der Bildungsarbeit und vielen weiteren Aspekten rund um das Großschutzgebiet auseinandersetzen.
Viel Herzblut, Leidenschaft und Arbeit
In besonderer Erinnerung dürfte dabei die Geschichte der mehr als 600 Jahre alten Weißtanne bleiben, die im Hans-Watzlik-Hain, einem urwaldlichen Teil des Nationalparks, beheimatet ist. Als „wahre Überlebenskünstlerin“, als „Hüterin der Zeit“ wird sie von der Autorin beschrieben, die den Werdegang des 55 Meter hohen Baums anhand historischer Ereignisse – von der Erfindung des Buchdrucks über den Prager Fenstersturz bis zum Fall des Eisernen Vorhangs – nachzeichnet und auf diese Weise veranschaulicht, „was die Gigantin erlebt hat und jeden Tag von Neuem für uns tut“.
Ja, man merkt schnell: Da steckt sehr viel Herzblut, Leidenschaft und Arbeit in diesem Buch. Ein Naturbildband, „gedruckt auf höchstem ökologischem Niveau, ohne schädliche Inhaltsstoffe“, in dessen „Blätterwald“ man sich gewiss mehr als einmal verlieren kann. Ein Werk, das einem nicht nur die Geschichte des mittlerweile größten Waldnationalpark Deutschlands auf eingängige Weise näherbringt, sondern auch dessen Bedeutung für nachkommende Generationen eindrucksvoll widerspiegelt. Oder um es mit den Worten der Autorin auszudrücken: „Deshalb gehe ich in den Wald. Weil ich gerne schaue. Höre. Staune. Und Sie hiermit einlade, mich zu begleiten: durch den Nationalpark Bayerischer Wals als einem nationalen Schatz, von dem wir noch viel lernen können.“
Stephan Hörhammer