Vimperk/Winterberg. Die Corona-Lage in unserem Nachbarland Tschechien ist „verheerend“, wie Medien in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder berichten. Vor allem in der Grenzregion zu Bayern sind viele Krankenhäuser überfüllt, die Kapazitäten sind erreicht. Ärzte müssen bereits darüber entscheiden, wen sie vorrangig behandeln und wen sie notfalls sterben lassen (müssen). „Die Situation ist frustrierend und traurig zugleich“, sagt Marek Matoušek. Nach Ansicht des Zahnarzts aus Vimperk (Winterberg), der auch unser Hog’n-Partner-Portal „sumava.eu“ betreibt, hätte dies alles verhindert werden können, wenn man auf Seiten der Politik entsprechend gehandelt hätte.
Gemeinsam mit drei seiner Kollegen hat er in Eigenregie das Projekt „Ärzte helfen der Tschechischen Republik“ ins Leben gerufen. Zudem ist er Unterzeichner der landesweiten Initiative „Vierzig Tage für die menschliche Gesundheit und die Wirtschaft„, der sich mittlerweile mehr als 40 namhafte Virologen, Epidemiologen, Internisten und weitere tschechische Mediziner angeschlossen haben. Das Ziel: Die Ausbreitung des Covid-10-Virus zumindest so weit einzudämmen, dass am 4. April 2021 die Anzahl der neu bestätigten Fälle unter der Grenze von 1.000 Fällen pro Tag liegt. Wir haben mit Marek Matoušek über die aktuelle Lage in Tschechien gesprochen.
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Marek: Warum sind die Zahlen in der Tschechischen Republik höher als in Bayern?
In der Tschechischen Republik ist die Fallzahl pro 100.000 Einwohner derzeit die größte der Welt und zwölf mal hoher als in Deutschland. Der Grund dafür ist schnell erklärt: Tschechien hat den Kampf gegen die Pandemie auf vielen Ebenen verloren. Vor rund einem Jahr hatten wir die erste Welle gut gemeistert, wir waren in Europa vorne mit dabei. Dann begann die Gesellschaft jedoch, medizinischen „Eliten“ zuzuhören, die von Virologie und Epidemiologie weit entfernt waren.
Der Einfluss der „Corona-Scharlatane“
Wir kannten die neuen professionellen Daten nicht und wussten nichts über die SARS-CoV-1-Pandemie im Jahr 2002/2003 in Südostasien. Leider haben Gesellschaft und Politik diesen Menschen zugehört – wir nennen sie „Corona-Scharlatane“. Und weil diese Leute öffentlichkeitswirksame Meinungen hatten, waren sie oft in den Medien vertreten, erhöhten so die Zahl ihrer Claqueure und machten damit ökonomischen Gewinn. Diese Leute wurden oft von der Wirtschaft animiert, hatten selbst große Unternehmen oder standen an der Spitze großer Firmen.
Sie benötigten Gefolgsleute, die nicht viel von den Gefahren des Coronavirus hielten – und handelten, als ob nichts weiter passiert wäre. Dies alles wurde durch einen perfiden Feldzug voller Fehlinformationen ergänzt, insbesondere aus dem Osten. Im Sommer, vor den Wahlen, haben die Politiker viele Entscheidungen getroffen, die den Vorstellungen der auf diese Weise beeinflussten Bevölkerung entsprochen haben. Dies hatte die Abwärtsspirale weiter verstärkt.
Die politische Opposition, die die Regierungsvertreter nicht dafür kritisierte, dass sie keine schärferen Maßnahmen ergriff, spielte ebenfalls eine tragische Rolle. Die Opposition kritisierte die Regierung von der falschen Seite – aufgrund ihrer diktatorischen Tendenzen. Die sogenannte „Anti-Babiš„-Politik verschlimmerte die Situation weiter.
Im Herbst haben wir die Initiative „Ärzte helfen der Tschechischen Republik“ gegründet, mit der wir die bisher abgelehnten Schnelltests landesweit durchgesetzt haben und bei der Impfung weiterhelfen: Wir haben es geschafft, das größte Impfzentrum des Landes in Prag auszubauen. Doch wir stoßen ständig auf neuen Widerstand. Die Corona-Bekämpfung basiert auf vier Säulen: Aufklärung, Testung, Rückverfolgung und Impfung. In der Tschechischen Republik geht es uns derzeit nicht gut. Insgesamt liegt Tschechien, was die Eindämmung von Corona betrifft, ein paar Monate hinter Deutschland zurück – und ganze 18 Jahre hinter Ländern wie Taiwan.
„Jetzt kommt das Virus von Tschechien nach Deutschland“
Kann es auch an der generellen Mentalität der tschechischen Bevölkerung liegen, die sich womöglich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs weniger von staatlicher Seite diktieren lassen wollen?
Wahrscheinlich nicht. Der Kommunismus endete 1989. Wir schreiben das Jahr 2021. Ich tendiere eher zur Meinung von Wissenschaftler Jan Kulveit von der Oxford-University, mit dem wir häufig diskutieren. Er macht auf die epistemische Krise aufmerksam, die er als „den Verlust der Fähigkeit eines bedeutenden Teils der Gesellschaft, eine gemeinsame Vorstellung von der Realität zu haben, die diese Realität in etwa widerspiegeln würde“, beschreibt.
Glaubst Du, dass die erhöhten Zahlen in der bayerischen Grenzregion mit den vielen Pendlern aus Tschechien zusammenhängen?
Ja, eindeutig. Davon bin ich zu einhundert Prozent überzeugt. Wer einen Blick auf die Karte mit den aktuellen Inzidenzwerten wirft, kann zu keiner anderen Lösung kommen. Im März 2020 kam das Virus aus China nach Italien, Deutschland und Tschechien. Jetzt ist es anders – Jetzt kommt es von Tschechien nach Deutschland.
Wie beurteilst Du die tschechische Strategie zur Bekämpfung des Coronavirus im Vergleich zur bayerischen bzw. deutschen Strategie?
Aus meiner Sicht bieten diejenigen Staaten, die im Zusammenhang mit der SARS-CoV-1-Pandemie die meisten Erfahrungen gesammelt haben, die besten Ansätze zur Bekämpfung der Pandemie. Das heißt: die Staaten Südostasiens. Doch auch Finnland oder Norwegen kommen sehr gut mit der Pandemie zurecht. Deutschland rangiert ebenfalls im oberen Drittel. Am anderen Ende stehen diejenigen Staaten, die die Situation bis dato nicht meistern konnten und bei den Infizierten und Todesopfern statistisch gesehen am schlechtesten abgeschnitten haben – wie Tschechien.
Wie betrachten die Tschechen generell die deutsche Corona-Politik: als vorbildliche Pandemie-Bekämpfung oder eher als übertriebene Maßnahmen?
Seien wir ehrlich: Viele Tschechen interessieren sich nicht für die Corona-Maßnahmen in Deutschland. Im Gegenteil: Viele Menschen hierzulande ärgern sich entschieden über Corona und wollen sich nicht ernsthaft damit auseinander setzen. Viele machen sogar Witze darüber…
„Sie sind tagtäglich konfrontiert mit Tod und Trauer“
Wie gut ist das tschechische Gesundheitssystem gerüstet für die Pandemie-Bekämpfung?
Momentan befinden sich statistisch gesehen viermal mehr coronainfizierte Menschen in tschechischen Krankenhäusern als im Frühjahr 2020 in Bergamo. Die Kapazitäten wurden hierzulande im Laufe des Jahres erhöht: In Krankenhäusern, wo es beispielsweise insgesamt sieben Stationen gibt, wird eine nach der anderen zur Covid-Station umgewandelt.
Die Basis bildet die schier unmenschliche Arbeit von Ärzten und Pflegepersonal – vor denen ich mich tief verneige. Sie erleben etwas, das sich keiner von uns vorstellen kann: Sie sind tagtäglich konfrontiert mit Tod und Trauer – und doch widersetzen sie sich all dem mit Verantwortung und Tapferkeit. Sie haben die Leidenschaft für ihren Beruf noch nicht verloren. Alles, was wir in unserer Initiative machen, dient in erster Linie dazu, die Corona-Situation in der Tschechischen Republik zu lindern – indem wir uns für eine gesteigerte Testfrequenz, für eine bessere Rückverfolgung der Infektionsketten und für ein höheres Tempo bei den Impfungen einsetzen.
Vor einem Jahr hatte ich bereits im Gespräch mit dem Onlinemagazin da Hog’n behauptet: Eine Pandemie ist wie ein Krieg, in dem die Ökonomen navigieren, die Politiker um sich schießen und die Ärzte und Pfleger die Munition darstellen. Ich muss leider sagen: Dieser Satz hat sich bewahrheitet.
die Fragen stellte: Stephan Hörhammer
Im zweiten Teil unseres Interviews mit Mediziner Marek Matoušek sprechen wir unter anderem über die Bereitschaft der Tschechen sich impfen zu lassen, die Situation in den Krankenhäusern in der Grenzregion, wie hoch er die Gefahr einschätzt, die von Mutationen ausgeht und ob er glaubt, dass eine weitere Welle in unserem Nachbarland geben wird…