Im Bayerischen Wald werden immer wieder unterirdische Gänge und Höhlen entdeckt. Es sind fast ausschließlich Zufallsfunde, die gelegentlich durch das Einbrechen von schweren Fahrzeugen mitten in Wiesen- oder Ackerflächen auftauchen, häufig jedoch bei Erdarbeiten für Kanal- und Straßenbau, oder für Gebäudefundamente angegraben werden. Der Bagger greift tief – und unvermutet tut sich ein Hohlraum auf, ein unterirdischer Gang wurde angeschnitten. Ein „Schrazlgang“, oder ein „Erdstall„, wie er in der Fachsprache heißt, kommt zum Vorschein. Die Bezeichnung „Erdstall“ steht für eine „Stelle“ in der Erde, die auf eine besondere Anlage hinweist. Die Frage, ob es sich bei diesen unterirdischen Anlagen um Verstecke für die Menschen in Not- und Kriegszeiten, um Fluchtgänge oder im weitesten Sinne um Kultstätten handelt, ist nach wie vor nicht mit letzter Sicherheit zu sagen.
Obwohl sich die Erdställe nie gleichen, liegt den Anlagen ein Konzept zugrunde, nach dem ähnliche, immer wiederkehrende Bauelemente angeordnet sind. Diese unterirdischen Anlagen bestehen vor allem aus niedrigen, engen Gängen und Kammern. Diese sind häufig durch runde und sehr enge Schlupflöcher miteinander horizontal, aber auch vertikal verbunden. Die Gänge können mehr oder weniger stark fallen oder ansteigen. Dazu kommen noch Wandnischen unterschiedlicher Form und Größe, Stufenpassagen und Rundgänge.
Datierung und Bedeutungsfindung sehr schwierig
Diese Gänge und Räume wurden mit Hacken ähnlichen Geräten aus Eisen in die verhältnismäßig leicht zu bearbeitende Schicht des verwitterten Granits getrieben. Die Gangprofile zeigen sich als Rund- oder Spitzbogen und folgen damit den überlieferten Bergbauregeln. Am Ende der Gänge wurden nicht selten unterschiedlich große Schlusskammern aus dem anstehenden Material geschlagen, die durch ihre besondere Architektur an Sakralräume erinnern. Hier finden sich gelegentlich auch aus dem sogenannten Flins geschlagene Sitzbänke. Einem Altar ähnelnde Nischen und schalenartige Vertiefungen, in denen sich ab und an verkohlte Holzreste befinden, lassen an einen kultischen Hintergrund denken.
Da sich die „Schrazlgänge“ als absolut fundlos zeigen, ist sowohl eine genaue Datierung als auch Aussagen zu ihrer ursprünglichen Bedeutung sehr schwierig. Man setzt heute ihre Entstehungszeit zwischen 800 und 1200 unserer Zeitrechnung an. Die außerordentliche Enge von Gängen, Kammern und der Einbau von sowohl vertikalen als auch horizontalen Schlupflöchern mit etwa 35 cm Durchmesser, sowie die scheinbar planlose Bauweise schließen eine Nutzung als Vorratsräume, Verstecke oder Fluchthöhlen aus. Ältere Menschen, dicke Personen oder schwangere Frauen hätten diese Anlagen weder betreten noch benutzen können. Außerdem ist ein längerer Aufenthalt in diesen Anlagen wegen des nach kurzer Zeit auftretenden Sauerstoffmangels nicht möglich.
Eine im weitesten Sinne kultische Bedeutung der „Schrazlgänge“ scheint nach derzeitigem Stand der Forschung am wahrscheinlichsten. Es könnte sich um so genannte Leergräber handeln, in denen die Seelen von Verstorbenen, ähnlich dem christlichen Fegefeuer, die Zeit verbringen müssen, bis sie nach dem Abbüßen ihrer Sünden ins Jenseits aufgenommen werden.
Können die Geheimnisse endgültig gelüftet werden?
Diese Art Ahnenkult war bei den slawischen Stämmen üblich, die in dieser Zeit weite Landstriche des Bayerischen Waldes besiedelten. Unterstützt wird diese Theorie durch die Tatsache, dass der Bau der Erdställe aufhörte, als die Christen im 11. Jahrhundert das Fegefeuer in ihre Lehre aufnahmen.
Die Einordnung der Erdställe muss sich nach wie vor auf Vermutungen stützen. Hinweise in alten Schriften gibt es kaum. Somit liegt die Vermutung nahe, dass die Entstehung der unterirdischen Anlagen noch in eine sehr frühe, schriftlose Zeit fällt. Auf jeden Fall konnte das Geheimnis der „Schrazlgänge“ bis zum heutigen Tag nicht endgültig gelüftet werden.
Es bleibt spannend, Euer Rupert Berndl
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Weitere Infos zum Thema Erdställe im bayerisch-österreichischen Raum gibt’s hier einzusehen.