„Sei ein ganzer Kerl!“ – ein Ausspruch, den unsere Väter und deren Väter wohl nur allzu oft in ihrem Leben gehört haben – und den sie heute noch an ihre Kinder weitergeben. Eine klischeebehaftete Aufforderung, die über Jahrhunderte gewachsene, typisch männliche Stereotype bedient. Ein Ausdruck, der so manch heranwachsenden Jungen in vorgefertigte Rollenbilder zwängt, die einem die Luft zum Atmen nehmen können. Die auf pseudo-erzieherische Weise gewisse Erwartungshaltungen in einem erzeugen, die sich womöglich nicht stimmig anfühlen. Ein Satz, bei dem die Verdrängung und Unterdrückung bestimmter Gefühle vorprogrammiert ist. Der nachhaltige Schäden verursachen kann. Trauma.
„Es ist meine Hoffnung, dass dieses Buch Jungen und Männer ermutigt, ihre Verwundbarkeit anzuerkennen und ganz sie selbst zu sein“, schreibt die australische Bestseller-Autorin Jessica Sanders („Liebe Deinen Körper“) im Vorwort ihres Buchs, das genau jenen Titel trägt: „Sei ein ganz Kerl“. Ein Buch, das sie „für Jungen und alle, die sich als männlich identifizieren“, geschrieben hat.
Etiketten: „Junge“ und „Mädchen“
„Jeder Junge ist anders. Aber fühlt es sich manchmal so an, als gäbe es nur eine Art, ein Junge zu sein?“, heißt es zu Beginn des von Robbie Cathro, einem Illustrator und Geschichtenerzähler aus Bristol, anschaulich und in bunten Farben ausstaffierten Kinderbuchs. „Hattest du schon mal das Gefühl, dass du dich auf eine bestimmte Art verhalten solltest, bestimmte Kleidung tragen oder bestimmte Aktivitäten machen solltest, nur weil du ein Junge bist?“
Fragen, die sich vor allem Heranwachsende im Alter zwischen acht und vierzehn Jahren zu stellen beginnen (und vielleicht noch bis ins Erwachsenenalter – ja bis heute – stellen.) Gerade dann, wenn sie in die Schule kommen, ihre Freunde erstmals zuhause besuchen und deren Umfeld kennenlernen. Wenn es um erste Rangeleien auf dem Schulhof geht. Oder wenn sie merken, welche Wertvorstellungen ihre Eltern und Verwandten teilen, wie einfühlsam oder abweisend sie auf einen reagieren.
Die Begriffe „Junge“ und „Mädchen“ betrachtet Sanders als Etiketten, mit denen im Gender-Kontext normalerweise über Kinder gesprochen wird. „Aber diese passen nicht für alle“, ist die Autorin ihrer 40 Seiten zählenden „Anleitung zur Selbstliebe“ überzeugt. Dabei spricht die in Melbourne aufgewachsene Frau aus eigener Erfahrung, denn sie fühlte sich immer anders als andere Kinder und hatte damit Probleme, dazuzugehören.
„Es gab Zeiten, in denen sie ausprobierte, sich so zu verhalten wie die Mädchen, die sie in Filmen oder Magazinen sah, aber das fühlte sich nicht richtig an“, wie der Leser erfährt. Doch eines Tages entschied sie sich dazu, dass sie niemals versuchen würde, jemand anderes als sie selbst zu sein. Eine Entscheidung, die ihr Leben nachhaltig veränderte.
Und ja, die (zeitlose) Botschaft an alle männlichen (und auch weiblichen) Leser, ob klein oder groß, lautet: „Es ist wichtig, dich selbst genau so zu lieben, wie du bist. Was zählt ist, dass du dein Bestes gibst und dich nicht mit anderen vergleichst. Wir sind alle unterschiedlich und haben alle unterschiedliche Stärken und Fähigkeiten.“ Botschaften, die fürsorgliche Eltern ihren Kindern, ob Bube oder Mädchen, heute vermitteln wollen. Gerade diejenigen, die selbst in sich spüren, dass sich gewisse Dinge seit der eigenen Kindheit nicht ganz stimmig anfühlen, dies aber meist aus ankonditionierten Gründen nicht kindgerecht ausdrücken können.
„Jungs müssen nicht hart sein“
Ein Buch, das Jungen Mut macht, sich nicht zu verstellen, authentisch zu bleiben und sich selbst zu lieben. Ein Buch, dass Jungen darin bestärkt, ihre Gefühle auszudrücken und zu ihnen zu stehen – in jeder Lebenslage. Ein Buch, das zeigt, dass jeder Körper in Ordnung ist, so wie er ist, und das althergebrachte Vorstellungen von „Männlichkeit“ als unzeitgemäß entlarvt; das Eigenschaften wie Sensibilität, Kreativität oder Fürsorge als absolut männlich gutheißt. Denn es gilt: „Jungs müssen nicht hart sein. Jungs müssen nicht sportlich sein. Jungs müssen nicht einmal lustig sein. Ein Junge muss einfach bloß er selbst sein.“
Stephan Hörhammer
„Sei ein ganzer Kerl“ von Jessica Sanders, Zuckersüß-Verlag, illustriert von Robbie Cathro, für Jungs von 8 bis 14 Jahren, 40 Seiten, gebundene Ausgabe, Preis: 24,90 Euro, ISBN 9783982137940