Das Gefühl, bewusst oder unbewusst übersehen bzw. nicht beachtet zu werden, hat wohl jeder schon einmal erlebt. Den meisten dürfte das zum ersten Mal in der Kindheit, spätestens im Jugendalter widerfahren sein. Es ist kein schönes Gefühl – und für viele, die ohnehin schüchternen Charakters sind, kann regelmäßiges Übersehenwerden gar traumatische Auswirkungen haben und tiefe Spuren in der Seele hinterlassen. Einer, der ebenfalls stets übersehen wird, ist Ben, Protagonist in Trudy Ludwigs Kinderbuch „Der unsichtbare Junge„, erschienen im Mentor-Verlag. Eine Geschichte, die zurückhaltenden Buben und Mädchen Mut machen soll.
Ben wird nicht bemerkt, weder von seinen Klassenkameraden noch von seiner Lehrerin. In der Pause holt ihn niemand zu sich ins Völkerball-Team, auch zum Geburtstag lädt ihn keiner ein. Während die anderen miteinander lachen, spielen, quatschen, sitzt Ben buchstäblich im Abseits. Er ist zwar physisch anwesend, jedoch nimmt niemand Notiz von ihm, was Illustrator Patrice Barton in seinen durchwegs weich gezeichneten Bildern so darstellt, indem er Ben – im Gegensatz zu allen anderen – nicht farbig, sondern in Schwarzweiß- und Grautönen skizziert.
„Und plötzlich ist Ben gar nicht mehr so unsicher“
Ja, Ben kann einem leid tun. Das Mitgefühl des Lesers ist ihm von Anfang an gewiss. Ben selbst scheint seine Situation zu akzeptieren. Er mag traurig sein, aber den Lebensmut verliert er nicht – und macht das, was er am liebsten tut: „Er malt feuerspeiende Drachen, die auf Hochhäuser klettern“ und vieles mehr. Es ist Bens Talent, das ihm hilft, über die Situationen des Ignoriertwerdens hinwegzukommen, sie zu kompensieren. Und das ihm schließlich den Kontakt zu Yoshi, seinem neuen Mitschüler koreanischer Herkunft, ermöglicht. Die beiden werden Freunde. „Und plötzlich ist Ben gar nicht mehr so unsicher.“ Sein Selbstvertrauen wächst.
Die Hoffnung, dass sich das Blatt zugunsten des kleinen Jungen wendet, ist allgegenwärtig. Man gönnt es Ben so sehr, dass er endlich gesehen wird, dass er Anschluss an die Gemeinschaft findet. Doch dieser Wunsch erfüllt sich erst, nachdem er all seinen Mut zusammen nimmt, selbst aktiv wird und auf seinen neuen Klassenkameraden Yoshi, der ebenfalls mit Integrationsschwierigkeiten ringt, zugeht. Es ist nur diese eine, von außen betrachtet kleine Hürde, die es zu nehmen gilt, die für den „unsichtbaren Jungen“ jedoch eine große Herausforderung darstellt. Ein Satz wie „Stell Dich nicht so an!“ wäre hier – genauso wie in allen anderen Fällen – fehl am Platz, denn es mangelt demjenigen, der ihn ausspricht, an Verständnis und Mitgefühl. Doch genau darum geht’s in Trudy Ludwigs Buch: Verständnis für Menschen, die von Natur aus nicht laut sind, nicht auffallen, die aber trotzdem genauso gehört und beachtet werden wollen wie alle anderen – und Teil dieser Gesellschaft sind.
Die Situation ist nicht ausweglos
Bens Geschichte ermöglicht vor allem Kindern, die zur Grundschule gehen, in deren Umfeld sie erstmals noch engere Bande als im Kindergarten mit ihren Zeitgenossen knüpfen, eine Art von Sensibilisierung für die vermeintlich Schwächeren. Sie zeigt denjenigen Buben und Mädchen, die eher ängstlich, gehemmt und unsicher sind, auf anschauliche Weise, dass ihre Situation, die sie vielleicht selbst noch gar nicht so recht einschätzen, sondern nur erfühlen können, nicht ausweglos ist. Eine wertvolle Geschichte, die schüchternen Kindern dabei helfen kann, sich in ihrem sozialen Umfeld weiter zu entwickeln.
Stephan Hörhammer
„Der unsichtbare Junge“, Trudy Ludwig, ab 6 Jahren, 40 Seiten, Mentor-Verlag, ISBN: 978-3-948230-14-2, 24,90 Euro. Das Buch enthält am Ende verschiedene „Fragen für eine Diskussion“, mit deren Hilfe das Textverständnis bei Kindern nochmals reflektiert werden kann.