Paris, 1973. Eine junge Frau mit langen Haaren sitzt gedankenversunken in ihrer Wohnung auf dem Fenstersims, den Kopf nach oben gerichtet, die Augen geschlossen, einen Stift in der Hand, vor ihr ein Notizbuch. Im Hintergrund ist der Eifelturm zu sehen. An der Wand hängt ein Poster von einer Kawasaki Enduro 125 E. „Sie möchte schreiben. Und umherstreifen. Sie träumt davon, die Welt zu bereisen. Woanders hinzugehen.“ Einfach woanders. „Eines Tages setzt sich das Mädchen auf ein Motorrad und fährt los.“
Es ist die wahre Geschichte über die französische Schriftstellerin und Journalistin Anne-France Dautheville, die Amy Novesky in ihrem Buch „Das Mädchen auf dem Motorrad“ auf kindgerechte Weise nacherzählt. Dautheville ist die erste Frau, die die Welt auf ihrem fahrbaren Untersatz ganz allein umrundete. Mit 28 ließ sie ihr Leben in der französischen Hauptstadt hinter sich. „Sie wollte frei sein und die Welt sehen.“ Binnen vier Monaten war sie zunächst von Paris aus über Kanada nach Alaska gelangt, erreichte dann Japan, Indien, Pakistan und kehrte nach insgesamt zehn Jahren auf Tour über die Türkei, Österreich und Deutschland zurück in ihre Heimat.
Begegnungen mit Menschen
„Sie fand Schönheit und gute Menschen, wo auch immer sie war“, heißt es am Ende des Buchs über Anne-France Dautheville, die als Reisende und Schriftstellerin von einer tiefen Neugier getrieben war – und deren Artikel und Bücher über ihre Expeditionen auf dem Bike „zuhause Sensationen“ waren. Sie schreibt heute, im hohen Alter, immer noch („Wohin der Wind mich trieb“, „Der Wind war mein Begleiter“). Ihr Motorrad hat sie erst mit 72 verkauft.
Amy Noveskys Buch, das laut Zuckersüß-Verlag insbesondere für Kinder von fünf bis neun Jahren geeignet ist, überzeugt neben den einfach gestrickten und leicht verständlichen Texten vor allem durch seine von Julie Morstad wunderbar stimmungsvoll gezeichneten Illustrationen. Kleinere „Lerneinheiten“ zu Themen wie „Was man für eine längere Motorradtour benötigt?„, „Wie man ein Feuer macht?“ oder „Wie man in Indien Tee trinkt“ sind in den Handlungsstrang miteingeflochten. Die Leser lernen gemeinsam mit der Protagonistin verschiedene Länder, Landschaften und Kulturen kennen. Sie begleiten das „Mädchen auf dem Motorrad“ dabei, wie sie eine Nacht im Zelt verbringt, wie sie die Sterne beobachtet, wie ihrer Kawasaki das Benzin ausgeht oder sie eine trockene Wüste durchquert.
Neben den Phasen, in denen sie sich alleine durchschlägt, werden auch immer wieder schöne Begegnungen mit Menschen geschildert, die sie auf ihrer Tour trifft: etwa den Jungen in Kandahar, der ihr eine Blume schenkt; die Frauen, die in ihren Saris auf den Feldern Indiens arbeiten; oder die Buben und Mädchen, die in der Türkei hinter ihrem Motorrad herrennen und ihr nachrufen.
„Sie ist ebenfalls gleich geblieben und anders“
„J’ai envie que le monde soit beau, et il est beau. J’ai envie que les gens soient bons, et ils sont bons – Ich möchte, dass die Welt schön ist, und sie ist schön. Ich möchte, dass die Menschen gut sind, und sie sind gut.“
So lautet der Wunsch und die Erkenntnis der Hauptfigur, nachdem sie wieder zuhause in Paris „mit Sonnenbrand, Prellungen und strahlend angekommen ist. „Paris ist gleich geblieben und es ist anders. Sie ist ebenfalls gleich geblieben und anders.“
„Das Mädchen auf dem Motorrad“ – ein Buch, das sehr viel von der Schönheit des Lebens vermittelt, von Abenteuerlust, Freiheit und Liebe. Ein Buch, in dem es um Gleichberechtigung geht, das aufzeigt, dass eben nicht nur Männer die Welt auf einem Motorrad umrunden können. Ein Buch, das verdeutlicht, dass die Welt mit ihren Bewohnern doch nicht so grauenvoll und schlechten Herzens ist, wie sie häufig dargestellt wird. Ein Buch, das Mut macht und das Leben preist.
Stephan Hörhammer
„Das Mädchen auf dem Motorrad“ von Amy Novesky, illustriert von Julie Morstad, für Kinder von 5 bis 9 Jahren, 54 Seiten, gebundene Ausgabe, ISBN: 9783982137971, Preis: 24,90 Euro