Berlin/München. „Die SPD ist schon lange nicht mehr ’sozial‘ – so wie die Parteien mit dem C davor nicht mehr wissen, was ‚christlich‘ bedeutet.“ – „Wer Politik für Mikroteile einer Gesamtbevölkerung macht, ist mit niedrigen zweistelligen Wahlergebnissen doch mehr als gut bedient.“ – „Das Image der SPD ist das einer Mitläuferpartei, so wie früher die FDP.“ – „Was bedeutet sozial? Was ist eine Partei? Und was hat das D im Namen zu suchen? Vielleicht hilft den Genossen die Beantwortung dieser drei Fragen weiter!?“
Die Facebook-Leserkommentare nach der Veröffentlichung des ersten Teils unserer Umfrage zum Zustand der SPD, in dem die Regionalpolitiker Bettina Blöhm, Andreas Kroner und Rita Röhrl unter anderem darlegten, welche Ursachen dem seit Jahren anhaltendem Negativ-Trend der (einstigen) Volkspartei ihrer Meinung nach zugrunde liegen, fielen eindeutig unzweideutig aus. Im zweiten Teil haben wir nun die beiden überregional agierenden SPD-Mitglieder Rita Hagl-Kehl (Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2018 Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz) und Christian Flisek (aktueller Abgeordneter im 18. Bayerischen Landtag) unsere Fragen gestellt.
„Momentane Umfrageergebnisse sind nicht sehr aussagekräftig“
Ganz allgemein: Wie betrachten Sie den derzeitigen Zustand der SPD (auf Bundesebene)?
Hagl-Kehl: Die SPD hat in den letzten drei Jahren auf Bundesebene viele Gesetzesvorhaben umgesetzt, die eine klare sozialpolitische Handschrift tragen. Hierbei stand die Entlastung bzw. Unterstützung von Beschäftigten und Familien im Vordergrund. Das zeigt, dass unsere Gesetze direkt bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen.
Flisek: Die SPD ist auf dem richtigen Weg. Nicht erst seit Beginn der Coronakrise ist die SPD der Motor der Bundesregierung und hat großen Anteil daran, dass wir bisher verhältnismäßig gut durch die Krise gekommen sind. Viele wichtige Impulse zur Krisenbewältigung wie etwa die Ausweitung und Verlängerung des Kurzarbeitergeldes, den Kinderbonus oder die finanzielle Unterstützung der Kommunen durch die Übernahme der Gewerbesteuerausfälle durch den Bund tragen eindeutig eine sozialdemokratische Handschrift. Die frühzeitige Nominierung von Olaf Scholz als Kanzlerkandidat war eine strategisch gute Entscheidung und ist ein Signal für die neue Geschlossenheit innerhalb der Parteiführung. Jetzt gilt es, gemeinsam mit dem Spitzenkandidaten ein überzeugendes Programm und eine gute Kampagne für die Bundestagswahl im nächsten Jahr zu erarbeiten.
Laut Umfrage- und Wahlergebnissen befindet sich die einstige Volkspartei augenscheinlich auf dem absteigenden Ast. Ist ihr Ende noch abwendbar? Und wenn ja: Wie?
Hagl-Kehl: Gerade in der Coronakrise wurde sichtbar, dass die SPD handlungsfähig ist. Als Teil der Regierung haben wir ein Paket von Maßnahmen auf den Weg gebracht, das in Umfang und Geschwindigkeit der Umsetzung in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellos ist. Es ist uns gelungen, Arbeitsplätze und Ausbildungen zu sichern. Ich freue mich, dass Olaf Scholz unser Kanzlerkandidat ist, denn er hat wie kein anderer Deutschland in der Krise gelenkt. Dass die Bürgerinnen und Bürger auf ihn als Regierungschef zählen können, hat er allemal bewiesen!
Flisek: Derzeit wird das gute Krisenmanagement der Bundesregierung hauptsächlich den Unionsparteien und Bundeskanzlerin Angela Merkel gutgeschrieben, obwohl die meisten Ideen und Maßnahmen eindeutig die Handschrift der SPD tragen. Da die Bundeskanzlerin bei der Bundestagswahl im nächsten Herbst bekanntlich nicht mehr antreten wird und bisher ungeklärt ist, wer Spitzenkandidat der Union wird, sind die momentanen Umfrageergebnisse nicht sehr aussagekräftig. Es wird sich noch zeigen, ob es einem der Unionskandidaten gelingen wird, die ganze Partei hinter sich zu versammeln und geschlossen in einen Wahlkampf zu gehen.
Auf den Kanzlerbonus, von dem die Union in den letzten Wahlen stark profitiert hat, muss sie dieses Mal auf jeden Fall verzichten. Ich sehe deshalb gute Chancen, dass die SPD mit Olaf Scholz als Kanzlerkandidat und einem guten Programm in der Wählergunst noch deutlich zulegen wird. Scholz hat als Bürgermeister der Hansestadt Hamburg gezeigt, dass er Wahlen gewinnen kann – und ist nicht umsonst einer der beliebtesten Politiker der Bundesrepublik.
„Erfolge kamen leider oftmals nicht beim Wähler an“
Welche Ursachen liegen dem seit Jahren anhaltendem Negativ-Trend zugrunde?
Hagl-Kehl: Wir tragen eine große Verantwortung für die Gesellschaft, die wir ernst nehmen. Vieles in der Vergangenheit Erreichte war das Ergebnis langer und zäher Verhandlungen. Die Erfolge kamen leider oftmals bei den Wählerinnen und Wählern nicht an. An der Kommunikation muss also noch gearbeitet werden. Doch ist auch Teil der Wahrheit, dass wir als Regierungsfraktion Kompromisse eingehen müssen. Das verwässert das eigene Profil, ist aber leider das Los eines jeden Regierungsmitglieds.
Flisek: Fast überall in Europa kämpfen die sozialdemokratischen Parteien mit sinkender politischer Zustimmung. Die Ursachen dafür liegen einerseits in der Deindustrialisierung und einem tiefgreifenden Struktur- und Kulturwandel, aber auch in einer sehr erfolgreichen Politik in den letzten Jahren. Nicht wenige meinen ja, dass die SPD Opfer ihres eigenen Erfolges geworden ist – und deshalb überflüssig geworden sei.
Ich glaube aber, dass die Sozialdemokratie auch heute noch gebraucht wird. Wir sind die Partei des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wir wollen unser Land voranbringen und Antworten auf die großen Zukunftsfragen geben. Wir müssen jetzt die nötigen technologischen und wirtschaftlichen Weichenstellungen vornehmen, um unsere Industrie zu modernisieren und den Klimawandel aufzuhalten. Nur so können wertvolle Jobs erhalten und gleichzeitig unsere Umwelt geschützt werden.
Wie sehr sehen Sie die ursprünglichen Werte, für die die SPD einst stand, heute noch vertreten?
Hagl-Kehl: Die SPD war und ist die Partei des Friedens, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Seit jeher steht die SPD für den Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus – leider damals wie heute ein aktuelles Thema. Als Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz setze ich mich besonders gegen Hass und Hetze im Netz ein. Unsere Werte stehen für den Zusammenhalt der Gesellschaft – und darauf bin ich stolz.
Flisek: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind unsere Grundwerte, die wir mit großer Überzeugung vertreten. Ziel unserer Politik war und ist es, sozialen Aufstieg und breite gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen zu ermöglichen und unseren Wohlstand auszubauen. Deswegen haben wir beispielsweise so energisch für die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns gekämpft und setzen uns jetzt für eine perspektivische Erhöhung auf zwölf Euro ein. In der Krise sehen wir, wie wichtig ein handlungsfähiger Staat ist. Daran hat auch unsere Politik der letzten Jahre großen Anteil. Jetzt geht es darum, unseren Staat mit kräftigen Investitionen in Bildung, Digitalisierung und in grüne Technologien fit für die Zukunft zu machen. Nur so können wir den Sozialstaat und die Leistungsfähigkeit unseres Gemeinwesens langfristig sichern.
„Sehr vertrauensvoll und geräuschlos zusammenarbeiten“
Die SPD wird von vielen als relativ profillose Partei betrachtet – welche Gründe gibt es für diese Betrachtungsweise?
Hagl-Kehl: Die SPD kann nicht als profillos betrachtet werden. Unsere Ziele sind und waren immer eine soziale und gerechte Arbeits-, Renten-, Bildungs- und Familienpolitik. Vor allem in den letzten Monaten haben wir sehr deutlich gezeigt, wofür wir stehen. Einige Beispiele dafür sind die Grundrente, die Erhöhung des BAföG sowie die Maßnahmen, die wir zur Bewältigung der Coronakrise auf den Weg gebracht haben, wie z.B. das Kurzarbeitergeld und der Kinderbonus.
Flisek: Die SPD muss als Volkspartei breit aufgestellt und zu jedem Thema sprachfähig sein. Darüber hinaus haben wir unser Profil zuletzt nochmal deutlich schärfen können. Ich denke da zum Beispiel an die Einführung der Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung oder jüngst die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes. Die SPD-Ministerinnen und -Minister leisten hervorragende Arbeit in Berlin, die bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommt.
Mit der einmütigen Nominierung von Vizekanzler Olaf Scholz als Kanzlerkandidat haben wir frühzeitig die Weichen für das Wahljahr gestellt. Ich bin mir sicher, dass wir mit unserem Spitzenkandidaten Olaf Scholz und einem guten und innovativem Programm für die Zukunft unseres Landes deutlich machen werden, warum man im nächsten Jahr bei der Bundestagswahl die SPD wählen soll.
Ist das Duo Esken/Walter-Borjans die richtige Besetzung an der Parteispitze? Ja/Nein, weil…
Hagl-Kehl: Die beiden Parteivorsitzenden sind in einer demokratischen Wahl gewählt worden. Demzufolge sind sie die richtige Besetzung.
Flisek: Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles hat sich die SPD im letzten Jahr neu aufgestellt und durch ein Votum aller Parteimitglieder in zwei Wahlgängen Saskia Esken und Nobert Walter-Borjans als neue Parteispitze bestimmt. Auch wenn ich ein anderes Kandidatenpaar unterstützt habe, sehe ich mit großer Freude, dass die beiden Vorsitzenden gemeinsam mit unserem Generalsekretär, dem Fraktionsvorsitzenden und unserem Kanzlerkandidaten sehr vertrauensvoll und geräuschlos zusammenarbeiten. Diese neue Geschlossenheit tut uns gut und ist die Voraussetzung für erfolgreiche politische Arbeit.
„Kühnert wird sich erst einmal beweisen müsen“
Was ist mit Kevin Kühnert – wäre er einer, der die SPD wieder auf Kurs bringen könnte?
Hagl-Kehl: Es gibt viele kluge und fähige Persönlichkeiten an der Spitze der SPD. Kevin Kühnert ist engagiert und bringt sich ein, aber auch er wird sich erst einmal beweisen müssen.
Flisek: Ich finde es gut, dass Kevin Kühnert entschieden hat, Verantwortung zu übernehmen und für den Bundestag zu kandidieren. Ich bin mir sicher, dass er als bekanntes Gesicht der SPD das Kandidatenteam gut unterstützen wird.
Wenn Sie Vorsitzender der (Bundes-)SPD wären – wie würden Sie das Ruder noch herumreißen wollen?
Hagl-Kehl: Da ich mit der Arbeit der SPD im Allgemeinen und der der SPD-Bundestagsfraktion sehr zufrieden bin, stellt sich für mich diese Frage nicht.
Flisek: Ich habe volles Vertrauen in unsere beiden Vorsitzenden, unseren Generalsekretär Lars Klingbeil und unseren Kanzlerkandidaten und Vizekanzler Olaf Scholz, die gerade dabei sind, ein gutes Programm und eine überzeugende Kampagne für die Bundestagswahl im nächsten Jahr vorzubereiten. Ich konzentriere mich voll auf meine Arbeit im Bayerischen Landtag für unsere Heimatregion und werde meine Partei aus dieser Position heraus im Bundestagswahlkampf nach Kräften unterstützen.
die Fragen stellte: Stephan Hörhammer