Bereits seit 1996 wehrt sich eine „Bürgerinitiative gegen ein Atommüllendlager im Saldenburger Granit“. In der Frage, ob im Bayerischen Wald für die nächsten eine Million Jahre radioaktiver Müll verstaut werden soll, herrscht seltene Einigkeit, wie da Hog’n zuletzt berichtete: Mit Ausnahme der Grünen ist allerorts ein parteiübergreifendes und klares „Nein“ zu vernehmen. Ein „Nein“, das auch nach dem „Zwischenbericht Teilgebiete“ deutlich zu hören ist. Das ist nachvollziehbar: Keiner will Atommüll vor der Haustür haben – und das passt ins moderne Protestverhalten: Rabatz gemacht wird fast nur dann, wenn der eigene Nahbereich betroffen ist. Weil der eigene Nahbereich betroffen ist.
Die Zahl der Bürgerinitiativen und Proteste im Bayerischen Wald der letzten Jahre ist überschaubar. Da sind neben der Initiative gegen das Atommüllendlager noch einige, die sich gegen Windkraftanlagen im Bayerischen Wald wehren; da waren die rund 5.000 Menschen, die sich einer Demo zum Erhalt des Waldkirchner Krankenhauses anschlossen; die „Bürgerinitiative gegen ÖPNV im Landkreis FRG“; oder das Tohuwabohu rund um das „Sondergebiet Praßreut-Winkeltrumm“.
Mehr als alle vier Jahre ein Kreuz…
Über Sinn und Unsinn der jeweiligen Aktion sollen andere Urteilen – prinzipiell ist politisches Engagement, das Ausüben demokratischer Rechte sowie aktive gesellschaftliche Teilhabe etwas sehr Begrüßenswertes. Denn Demokratie beinhaltet viel mehr als alle paar Jahre zur Urne zu trotten und sein Kreuzchen zu setzen. Demokratie heißt, dass jede und jeder seine Meinung einbringen darf, wenn ihr oder ihm etwas nicht passt. Und dass diese Meinung auch gehört wird. Dafür stehen verschiedenste Instrumente zur Verfügung: von Online-Petitionn und Online-Petitionen über Bürgerinitiativen bis hin zu Demonstrationen und Sit-ins. Auch Schulsprecher und Betriebsräte sind ein wichtiger Bestandteil einer Demokratie. Demokratie endet nicht an den Türen des Parlaments, sondern umfasst – im Idealfall – Schule, Universität, Arbeitsplatz, Sportverein und Familie; eben sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Laut sein, ungemütlich sein, widerständig und herrschaftskritisch sein – das alles gehört zu einer Demokratie. Das alles muss eine funktionierende Demokratie aushalten können. Vor allem in einer Zeit, in der „Regierungen“ immer mehr die Form von „Verwaltungsorganen“ annehmen, die sich vornehmlich der Bewahrung des Bestehenden widmen, sich zuvorderst an wirtschaftlichen Kennzahlen und vermeintlichen „Notwendigkeiten“ orientieren – und denen der Begriff „Konflikt“ als Schimpfwort gilt. Proteste, Bürgerinitiativen und dergleichen sind – auch und vor allem im Bayerischen Wald – eine begrüßenswerte Sache!
Karriere statt Kollektiv
Und nun zum Aber: Demokratie impliziert auch eine Orientierung an der Gemeinschaft, dem Volk, dem „demos„. Die Proteste gegen Windkraft und Atommüll, den ÖPNV und das Waldkirchner Krankenhaus orientieren sich weniger am Gemeinwohl denn am Geschehen vor der eigenen Haustür. Widerstand regt sich, weil eigene, individuelle Privilegien bedroht werden könnten. Weil der Bayerische Wald als Wohn- und Tourismusort, als Wirtschaftsstandort und Erholungsort weniger attraktiv werden könnte. Der Soziologe Oliver Nachtwey schreibt in seiner Analyse der Gegenwartsgesellschaft, dass Proteste heute zunehmend einer „Nicht-in-meinem-Vorgarten-Logik“ folgen: „Der Anlass für den Konflikt liegt im eigenen Nahbereich, und nur aus diesem Grund ist man dagegen.“ Gesamtgesellschaftliche Ansprüche seien „hingegen sehr schwach ausgeprägt“.
Nachtwey sieht den Grund dafür darin, dass wir uns heutzutage überwiegend als Individuum begreifen, das sich vor allem um sich selbst, den eigenen Wohlstand, die eigene Karriere, den eigenen way of life kümmert; und nicht (wie noch vor einigen Jahrzehnten) als Teil eines größeren Kollektivs, das gemeinschaftliche Interessen verfolgt. Das moderne Individuum, schreibt Nachtwey, „übernimmt teilweise die Erwartungshaltungen des marktbürgerlichen Konsumenten, der immer das bekommt, was er oder sie will – und ansonsten schnell von Verdruss geplagt wird“.
Demokratie als Selbstbedienungsladen
Demokratie mutiert somit zum Selbstbedienungsladen: wie eine Konsumentin oder ein Konsument bewege ich mich nur dann vom Stuhl, wenn ich etwas unbedingt haben will bzw. unbedingt nicht haben will. Beispielsweise das Endlager vor der Tür. Nachtwey warnt vor den Gefahren einer solchen Entwicklung: Demokratie mutiert zur Herrschaft der Gutverdienenden und Bessergebildeten. Denn laut Nachtwey sind es diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die einen überdurchschnittlich hohen Bildungsabschluss haben und überdurchschnittlich gut verdienen, die sich besonders lautstark engagieren – und zwar überwiegend für ihre Interessen, die der oberen Klassen und Schichten.
Kommentar: Johannes Greß