Passau. Seit Jahren ist von „Hate Speech“ im Internet die Rede. Aber was ist das eigentlich genau? Wer ist davon betroffen? Und was können Politik und User dagegen tun? Im Hog’n-Interview erklärt Prof. Dr. Ralf Hohlfeld von der Universität Passau, was dahintersteckt – und wieso sich auch vermeintlich besonnene Menschen immer öfter zu beleidigenden Äußerungen hinreißen lassen. Seiner Meinung nach ist auch die Unterfinanzierung von Onlinemedien mit ein Grund dafür, dass Hate Speech in der Vergangenheit zu einem ernsthaften Problem geworden ist.
Wenn wir von „Hate Speech“ sprechen, von was reden wir da genau?
Ich habe grundsätzlich das Gefühl, dass unter Hate Speech sehr viel Unterschiedliches verstanden wird. Wir haben hier ein breites Spektrum: von strafbewehrten Handlungen, die den Bereich Beleidigung betreffen, bis hin zu Morddrohungen und Aufrufen zu Tötungsdelikten. Jenseits dieser juristischen Kategorien geht es auch darum, dass manche Menschen andere Menschen auf eine rüde Art und Weise herabsetzen, verunglimpfen – und dass sich im Internet allgemein eine sehr raue Sprache etabliert hat. Das heißt: Wenn man sich über Hate Speech unterhalten will, ist es immer wichtig klarzustellen, worüber man gerade redet.
„Starke Spaltung der Gesellschaft beobachtbar“
Wer ist davon besonders häufig betroffen?
Grundsätzlich sind all jene Menschen von Hate Speech betroffen, die sich zu weltanschaulichen Dingen in den Sozialen Netzwerken äußern. Außerdem sind Menschen davon berührt, die durch ihren Beruf Teil der Öffentlichkeit sind, also vor allem Politiker, Journalisten, besonders politische Journalisten, teilweise aber auch in der Öffentlichkeit stehende Wissenschaftler. Also Gruppen, die traditionell schon immer sehr viel Hate Speech abbekommen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erkennen, dass wir im Augenblick eine starke Spaltung der Gesellschaft beobachten, eine starke Lagerbildung. Im Zuge dessen ordnen sich Menschen verstärkt solchen weltanschaulichen Lagern zu. Das führt schließlich dazu, dass sich viele vermehrt dazu genötigt fühlen, sich zu kontroversen Themen äußern zu müssen. Seitdem in den Kommentarspalten nicht immer nur Cat-Content gepostet wird, seit es um #MeToo geht, um Rechtsextremismus, um Corona-Verschwörungstheorien oder Cancel-Culture geht, bekennen viele Leute Farbe, die sich vor ein paar Jahren womöglich noch eher zurückgehalten haben. Somit rückt Hate Speech in den Bereich von Menschen, die eigentlich nicht unbedingt Teil der Öffentlichkeit sind, sich nun aber in dieser Lagepublizistik des Internets mit stark aufgeladenen Vokabeln artikulieren.
Soziale Medien gibt es bereits seit zehn bis 15 Jahren – wieso kocht das Thema Hate Speech gerade in den letzten Jahren derart hoch?
Das hat auch damit zu tun, dass Soziale Medien zunehmend wichtiger geworden sind für die Informationsaufnahme von Menschen, aber auch für deren Neigung diese Aufnahme zu kommentieren. Wir sind mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem die Sozialen Medien für die meisten Leute ein Sprachrohr geworden sind, mit dem sie eine Haltung abgeben wollen. Da geht es um grundsätzliche Fragen: Wollen wir in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft leben? Wie wollen wir unsere Demokratie gestalten? Oder ist diese Demokratie eine Überforderung für viele?
„Ein Phänomen, das von den Extremen her definiert wird“
Diese Polarisierung und diese Gräben, der sich in den letzten Jahren herausgebildet haben, erzeugen Fliehkräfte, die jetzt an den Rändern der Gesellschaft dazu führen, dass die Kommunikation immer schärfer wird. Natürlich war es auch vor zehn oder 15 Jahren schon so, dass Leute viel vulgärer, obszöner und beleidigender in der Kommunikation waren, wenn sie anonym im Internet unterwegs waren. Aber heutzutage beobachte ich, dass sich die Leute nicht mehr unbedingt verstecken und auch mit Klarnamen Standpunkte äußern, die jenseits dessen sind, was man im Privatem für akzeptabel hält.
So gesehen ist die Digitalisierung letztlich der Treiber einer solchen in den öffentlichen Raum verlagerten gesellschaftspolitischen Debatte, in der sich die Lager so stark voneinander entfernt haben, dass es kaum noch Konsens gibt. Diese beiden Lager, die nicht unbedingt gleich groß sein müssen, fallen teils heftig übereinander her. Wenn wir uns nun Menschen aus dem links-grünen Spektrum anschauen, dann sind diese in ihrer Wortwahl oftmals nicht mehr viel sensibler als die aus dem rechtspopulistischen Lager. Hate Speech ist sozusagen ein Phänomen, das von den Extremen her definiert wird. Aber – und das ist ein Punkt, auf den man achten muss: Die Fliehkräfte an den Rändern der Gesellschaft zerren an den Menschen in der Mitte – und Leute, die vielleicht für gewöhnlich mit mehr Augenmaß und Besonnenheit unterwegs sind, lassen sich viel eher zu Äußerungen hinreißen, die jenseits dessen sind, was normale gesellschaftliche Gepflogenheiten abdecken.
Das ist der Grund dafür, warum wir jetzt diese Hate-Speech-Diskussion viel stärker haben als früher. Weil es eben nicht nur mehr die Trolle sind. Wir hatten vorher eine relativ laute Gruppe, die Hate Speech absonderte; Leute, die von der Gesellschaft enttäuscht waren, sich abgewandt haben und systematisch ins Internet gegangen sind, um sich dort auf die vulgärste Art und Weise gegen bestimmte Positionen und Personen zu wenden. Doch heute ist das nicht mehr der harte, kleine Kern von Unzufriedenen, sondern heute sind das die großen Bekenntnisse zu den großen Fragen unserer Zeit: Was halte ich von der Corona-Politik der Regierung? Wie stehe ich zum Klimawandel? Diese großen Fragen werden jetzt von vielen Menschen aus der politischen Mitte diskutiert – teilweise werden sie mitgerissen von dieser recht herben Rhetorik.
„Man könnte das auch als Aktionismus bezeichnen“
Welche Rolle spielt der Faktor Geschlecht?
Ich habe dazu keine eigenen Untersuchungen gemacht, aber ich denke, man kann über den Daumen gepeilt sagen, dass Männer deutlich gewalttätiger in ihrer Rhetorik sind als Frauen. Zumal es gerade Männer sind, die Frauen im Internet oftmals bedrohen, sexuell bedrohen. Das erlebt man von weiblicher Seite sehr selten – wobei: In dieser ganzen Diskussion um Cancel-Culture wird von Frauen, wenn ich etwa an die SPIEGEL-Kolumnistin und Autorin Margarete Stokowski denke, durchaus auf eine derbe Art und Weise kommuniziert, die ich früher so auch nicht beobachtet habe. Doch insgesamt sind Männer sprachlich deutlich gewaltbereiter als Frauen.
Inwiefern kann man von Plattformen wie Facebook oder Twitter erwarten, hier entschlossener einzuschreiten?
Dass Plattformen in die Pflicht genommen werden, daran mitzuwirken, dass der Diskurs im Internet nicht zu einem rechtsfreien Raum wird – das kann man nicht nur erwarten, sondern das muss man verlangen. So etwas muss durchgesetzt werden. Es kommt am Ende darauf an, mit welchen Maßnahmen man es tatsächlich schaffen kann, Hate Speech im Internet einzudämmen. Wie so häufig ist es in dieser Debatte so, dass etwa Facebook und Twitter sehr viel Geld mit ihren Plattformen verdienen und trotz allem nicht bereit sind, genügend Geld in die Hand zu nehmen, um ausreichend Personal und Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Es ist letztlich ein Streit zwischen der Politik und den Wirtschaftsunternehmen. Das ist ein politischer Aushandlungsprozess, von dem ich aber – mit Blick auf die vergangenen fünf Jahre – sagen würde, dass sich die Maßnahmen zur Eindämmung von Hate Speech schon gebessert haben. Die Netzwerk-Betreiber haben begriffen, dass ihr Image darunter leidet, wenn sie nichts tun. Ob das genug ist, um das Thema Hate Speech und den gesamten Hassdiskurs des Internets so zu behandeln, wie es notwendig ist, da habe ich noch meine Zweifel.
In Bayern gibt es seit Februar 2020 einen sogenannten Hate-Speech-Beauftragten. Hat sich seither etwas spürbar verbessert?
Ich sage nicht, dass die Ernennung eines Hate-Speech-Beauftragten kontraproduktiv wäre. Ich muss aber andererseits sagen, dass das schlichtweg symbolisches Handeln ist. Man könnte das auch als Aktionismus bezeichnen. Da will die Staatsregierung natürlich klar machen, dass hier irgendwie eine Kompetenz existiert. Aber ein Hate-Speech-Beauftragter allein macht noch nichts. Letztlich braucht es strengere Gesetze – und da kann das Land Bayern nur in einem sehr geringen Maße etwas ausrichten. Denn bei Hate Speech geht es um Verleumdung, Volksverhetzung, Beleidigung, Nötigung – all das, was im Strafgesetzbuch und im Bürgerlichen Gesetzbuch behandelt wird. Insofern ist es schön, wenn man sich dazu bekennt, dass man Hate Speech auf dem Radar hat, aber es ist jetzt nicht unbedingt eine Maßnahme, von der ich sagen könnte, dass sie unmittelbar Wirkung zeigt.
„Aber da sind wir leider noch sehr weit davon entfernt“
Macht es Sinn, sich als Userin oder User in der Kommentarspalte gegen Hate Speech zu positionieren – oder bekommen solche Posts dadurch nur noch mehr Aufmerksamkeit?
Wir müssen hier einen Unterschied machen zwischen Onlineforen, Diskussionsforen von Onlinemedien und Sozialen Medien wie Facebook oder Twitter. Die meisten Versuche, sich vulgär und beleidigend zu großen Fragen zu äußern, passieren in Foren von Onlinemedien. Manche Medien sind daher bei besonderen Reizthemen dazu übergegangen, die Diskussion moderieren zu lassen. Die Absicht dahinter ist durchaus einen offenen Diskurs zu ermöglichen, die Gesellschaft deliberativ etwas verbessern zu können. Im Kleinen kann man das durchaus organisieren, das geht und funktioniert bisweilen sogar sehr gut.
Aber es ist eben teuer – und im Internet mit Medien Geld zu verdienen, ist heutzutage nicht besonders einfach. Da muss man schon ressourcenschonend agieren. Es wäre eine Lösung, wenn es den Medien besser gehen würde, wenn eine größere Zahlungsbereitschaft der Menschen bestehen würde, für seriöse Information im Internet Geld zu bezahlen. Aber da sind wir leider noch sehr weit davon entfernt. Und solange die Medien in einer solchen strukturellen – teilweise auch durch Corona einer konjunkturellen – Krise sind, wird es schwer, so etwas umzusetzen.
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin alles Gute.
Interview: Johannes Greß
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